2. Mai 2016 2 Likes

Lass mich ein Mensch sein!

Cordwainer Smiths Erzählung „Scanner leben vergebens“ ist Weltliteratur im Gewand der Science-Fiction

Lesezeit: 3 min.

Der Schiffskapitän William Bligh brachte es zum Ende des 18. Jahrhunderts zu trauriger Berühmtheit, als er als Opfer der Meuterei auf der Bounty mit einem größeren Beiboot und sechzehn anderen, mit ihm ausgesetzten Männern fast 6000 Kilometer quer über den Pazifik navigierte. Nun hatten wahrscheinlich weder Meuterer noch Kapitän viel mit den brusthaarbewehrten Kinoleinwandhelden à la Marlon Brando und dem gekränkten Individualismus des 20. Jahrhunderts gemein.

Traurig war Blighs Berühmtheit als überrumpelter und auf hoher See einem ungewissen Schicksal überantworteter Schiffsherr dennoch, denn obwohl er vor dem Kriegsgericht, das damals bei jeder Meuterei in der britischen Marine abgehalten werden musste, von jedem Verdacht freigesprochen wurde, sprachen die privaten und gerichtlichen Aufzeichnungen der Meuterer eine deutlich andere Sprache. William Bligh, der auf seinem Schiff als unbeherrschter und unverhältnismäßig grausamer Kapitän mit harter Hand und entwürdigenden Mitteln regierte, bewegte sich trotz alledem ganz im rechtlichen Rahmen der damaligen Marinegesetzgebung. Ein Kapitän war auf See der unangefochtene Herr über Leben und Tod, und jegliche Art von Freiheit und menschlicher Individualität wurden dem eisernen Gesetz der Disziplin und ihren harten, blutigen Strafen wie etwa dem Auspeitschen mit der neunschwänzigen Katze unterworfen.

Dass diese Form der Aufspaltung von menschlichem Miteinander in harte, funktionale Unterordnung und emotionale, entfesselte Rebellion zu Hunderttausenden von gequälten und quälenden Schicksalen führte, denen wir letztendlich das Zeitalter der Entdeckungen zu verdanken haben, ist eine grausame Wahrheit.

Springen wir viertausend Jahre in die Zukunft. In Cordwainer Smiths als „Instrumentalität der Menschheit“ bekanntem Science-Fiction-Universum (im Shop) ist erneut ein Entdeckungszeitalter angebrochen. Nach der völligen Zerstörung der Erde, dem mühevollen Wiederaufbau und der jahrtausendelangen Entwicklung einer neuen Weltregierung, eben jener „Instrumentalität der Menschheit“, sind die Menschen nun ins All aufgebrochen. Um den tödlichen Gefahren der Strahlung und der monatelangen Einsamkeit zu begegnen, hat man eine neue Art von Menschen erschaffen: die Habermänner. Ihr Gehirn wurde durch eine Operation abgespalten von allen Sinnes- und Körperwahrnehmungen bis auf das Sehen, wodurch sie in der Lage sind, die Schmerzen und die Langeweile des Reisens durch das All – die „große Qual“, wie es bei Smith heißt – auszuhalten. Ihnen zur Seite gestellt sind die Scanner, Menschen, die sich ebenfalls der Abspaltung durch die Habermann-Maschine unterworfen haben, die aber mittels Reglern und einer geheimen Zeichensprache in der Lage sind, ihre eigenen Körper sowie die der Habermänner zu kontrollieren.

In der Erzählung „Scanner leben vergebens“ (im Shop), mit der 1950 der bis dahin unbekannte Cordwainer Smith die Bühne der Science-Fiction betrat, folgen wir nun dem Scanner Martel, dessen sehnlichster Wunsch es ist, wieder ein normaler Mensch zu sein. Eine Geschichte wie diese war damals unerhört: so schillernd fantasievoll die darin beschriebene Welt, so eindringlich menschlich das Schicksal ihrer Figuren, das hatte man so noch nirgends gelesen. Und, so füge ich an, so etwas liest man auch heute nicht oft.

Wer war dieser Cordwainer Smith überhaupt? Das Pseudonym wurde erst ein paar Jahre vor seinem Tod gelüftet – dahinter verbarg sich der Psychologe, Sprachwissenschaftler, CIA-Agent und Autor Dr. Paul Myron Anthony Linebarger (1913 – 1966). Als Sohn eines Diplomaten, als intimer Kenner der chinesischen Kultur war er unter anderem Berater des US-amerikanischen Militärs im Korea-Krieg, wo er sich für die menschenwürdige Behandlung von chinesichen Kriegsgefangenen einsetzte.

Cordwainer Smith „schöpfte Mythen“, wie Karlheinz Steinmüller schreibt, „das ist es, was sein Universum vor manch anderem SF-Universum auszeichnet, seine Stärke, seine Kraft.“ Seine Auseinandersetzung mit den grausamen Kosten, die jedes entmenschlichende System mit sich bringt, sei es auch noch so sehr dem Fortschritt, der Forschung und der Entdeckung des Kosmos gewidmet, macht die Erzählung „Scanner leben vergebens“ zu einem grandiosen Stück Weltliteratur.
 

Cordwainer Smith: „Scanner leben vergebens“ ∙ Erzählung ∙ Aus dem Amerikanischen von Thomas Ziegler ∙ Wilhelm Heyne Verlag ∙ E-Book: 0,99 € (im Shop)

Den aktuellen Roman des Monats, „Das letzte Wort“ von Alena Graedon, finden Sie hier.

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