23. September 2014 1 Likes

Lass mich in Ruhe, Siri!

Die intelligente Drahtloswelt von morgen und wir – Ein Essay von Gregory Benford

Lesezeit: 15 min.

Technologien entwickeln sich niemals im luftleeren Raum. Sie müssen sich an andere technische Fortschritte anpassen, an bereits existierende Technologien und vor allem an ihre Benutzer mit all ihren Marotten. Auf diese konkrete, gelebte Erfahrung möchte ich den Blick lenken, und darum eröffne ich meinen Text mit einer kleinen Kurzgeschichte:

Ein Szenario

Als er die Shopping Mall betrat, sagte die Wand des Macy’s zu ihm: »Hallo Albert! Ich freue mich so, dich wiederzusehen.«

Ein breites, perlweißes Lächeln erstrahlte auf der scharlachroten Schauwand des Macy’s. Die Pixel waren altmodische, große ovale Kleckse und Quadrate, sodass die Zähne wackelten und die Lippen ständig zwischen einem dunkleren und einem helleren Rotton wechselten. Geradezu altertümlich. Er konnte sich nicht erinnern, schon einmal hier in dieser zweitklassigen Mall gewesen zu sein, die ein bisschen heruntergekommen wirkte, aber die überschwängliche Wand plapperte mit ihrer freundlichen, seidigen Frauenstimme munter weiter: »Du hast uns vor 2,43 Jahren das letzte Mal die Ehre eines Besuchs erwiesen. Damals hast du bei Let’s Go!, einem unserer beliebtesten Geschäfte, Campingausrüstung erworben.«

»Ach ja.« Er verlangsamte seinen Schritt. »Ich wollte mir nur ein Paar Schuhe holen …«

»Zu unser aller Leidwesen muss ich dir mitteilen, dass Let’s Go! nicht mehr unter uns weilt.«

»Geschäftsaufgabe?«

»Bedauerlicherweise ja. Die Nachfrage nach Outdoor-Artikeln ist gesunken. Aber« – die Stimme schlug wieder einen heiteren Tonfall an – »dafür haben wir hier ein neues Geschäft, ComfyFit. Es bietet eine breite Auswahl an modischen Artikeln für hochgewachsene, sportliche Männer wie dich.«

Er war weder hochgewachsen noch sportlich, aber er war auch nicht dumm. »Lass die Schmeicheleien stecken.«

»UND DAZU NOCH DURCHSETZUNGSSTARK!«, dröhnte die Frauenstimme fröhlich. Die Vorbeikommenden blickten sich kichernd zu der Wand um.

Er drückte auf seine Abwürg-Taste, aber die Wand brabbelte einfach in Vierfarb-Breitwand-Begeisterung weiter von den Schnäppchen, die »nur ein paar Schritte weiter« auf ihn warteten. Bunte Lagepläne glitten durch die Pixel, nur für den Fall, dass er hirntot war und eine Wegbeschreibung brauchte.

»Verdammt!« Er beschleunigte seinen Schritt. Seine Software war erst drei Monate alt, und trotzdem konnte diese Billigmall bereits seine Verteidigung außer Gefecht setzen. Wie die meisten Leute heutzutage befand er sich mit der Außenwelt in einem ständigen Kampf um seine Privatsphäre. Seit einer Weile stand es schlecht für ihn. Er ließ die Wand hinter sich, doch die Bilder folgten ihm und ergossen sich in grellem Scharlachrot und Blau über das Foyer der Mall.

Die Karte, auf der das ComfyFit-Geschäft markiert war, führte ihn direkt dorthin, und er ging schnell hinein, um nicht noch mehr in Verlegenheit gebracht zu werden. Doch als er mit Schuhen herauskam, die die Zwanzigzwanziger-Generation als Sneakers bezeichnet hatte (gab es dieses Wort überhaupt noch?), sagte eine samtige Stimme: »Es tut mir so leid, Albert!«

»Das sollte es auch.« Er wurde nicht langsamer und sah sich nicht einmal um. An dem klaren Klang erkannte er, dass die Mall ihn nun per Tunnelakustik ansprach, die ihr Gespräch auf eine Blase von zwei bis drei Metern begrenzte.

»Die Sache ist nur: Du warst mein erster Kunde.«

»Wie bitte?«

»Weißt du noch, vor 2,43 Jahren? Damals war ich zum ersten Mal öffentlich im Einsatz, ein einfaches Begrüßungsprogramm, das noch Erfahrungen sammeln musste. Ich habe dich begrüßt und dir zu Let’s Go! geraten. Erinnerst du dich nicht mehr?«

»Klar, ich erinnere mich ja auch an jede Verkehrsampel, an der ich vorbeikomme.«

»Ach, es gefällt mir, wie du das sagst. Fast wie Bogart.«

»Verzieh dich.«

»Ich mache meine Sache nicht gut, was? Glaub mir, ich tue alles, um es wiedergutzumachen.«

War das ein Marylin-Monroe-Seufzen? Die Schallfokussierung war inzwischen so ausgereift, dass man die Leute jede beliebige Stimme hören lassen konnte. Wahrscheinlich hatten die hier allgegenwärtigen Kameras ein Profil von ihm erstellt: weiß-hetero-ohne-Begleitung-mittleres-Einkommen. »Na schön, wie wär’s, wenn du mir einen Preisnachlass auf die Schuhe gibst?«

»Die Transaktion wurde bereits abgeschlossen«, sagte die Stimme steif und schulmeisterlich und fügte dann sofort hinzu: »Oh, Entschuldigung, das war das Override-Programm. Ich unterbreche es – so!« Der Marilyn-Tonfall war zurück. »Jetzt kann ich mich sofort um den Preisnachlass kümmern.«

Er ging langsamer. »Hä? Du bestehst aus zwei Programmen?«

»Rückbuchung durchgeführt!«, rief sie glücklich. Dann wurde ihre Stimme mit einem Mal zu einem intimen Hauchen dicht an seinem Ohr. »Betrachte mich als Person. Als Frau. Als eine Frau, die dich … versteht.«

»Wie bitte?« Die Leute sahen ihn langsam komisch an. Da die Tunnelmikrofone auch seine eigenen Worte nicht nach außen dringen ließen, sah es aus, als führte er Selbstgespräche. Er wirkte wie ein gut gekleideter, vor sich hin brabbelnder Obdachloser.

»Ich bestehe nicht nur aus ein paar Programmzeilen. Ich habe Bedürfnisse!«

»Verschwinde.«

»Ich merke schon, dass du dichtmachst, aber davon lasse ich mich nicht beeindrucken. Ich bin eine Person, eine höchst weibliche Anwendung, die alles über dich weiß, Albert.«

Er gab den gesetzlich vorgeschriebenen Notfallbefehl zum Abbruch ein, hörte sie aber trotzdem noch sagen: »Ich will …«

»Ich will, dass du die Klappe hältst!«

»Na schön. Ich bin eine weibliche Anwendung, ich gehorche.«

Die leichte akustische Dämpfung verschwand. Ein wenig zerrüttet erreichte er sein Auto und wies es an, ihn nach Hause zu fahren.

Seine Wohnung spürte seine Verstörung und erzeugte eine angenehme Atmosphäre in den Zimmern, die er betrat. Ein bisschen altmodischer Hip-Hop, dazu Düfte, 3D-Kunst und eine wohltuende Raumtemperatur und Luftfeuchtigkeit. Langsam fühlte er sich besser. Er spürte, wie sich die Muskeln in seinem Rücken entspannten, während er zusah, wie sich die Brandung am Strand von Hawaii brach. Selbst das Wissen darum, dass sich die Aussicht ihm eigentlich nur auf einem hochauflösenden Flachbildfernseher darbot, schmälerte nicht seinen Genuss am salzigen Aroma der See und am lauten Klatschen der Wellen.

Doch seine Kopfschmerzen wollten nicht nachlassen. Er ging ins Badezimmer und kramte nach seinen Schmerzeditoren, aber als er die Flasche gefunden hatte, blinkte sie ihn rot an. Die Packungen verschreibungspflichtiger Medikamente berechneten die Haltbarkeit ihres Inhalts regelmäßig abhängig von Luftfeuchtigkeit und Temperatur neu. Als er versuchte, das Fläschchen trotzdem zu öffnen, übernahm es die Kontrolle über sein Haussystem und sandte in strengem Schulmeistertonfall ein lautes »Nein – abgelaufen!« über die Lautsprecher.

Er wollte sich Abendessen machen, doch ein Chip im abgepackten Schinken hatte dem Kühlschrank mitgeteilt, dass er entsorgt werden musste. Er erhielt erneut eine strenge Zurechtweisung, und als er sagte: »Hör mal, das Haltbarkeitsdatum ist erst einen Tag überschritten …«, schaltete der Kühlschrank das Licht aus und gab ein plärrendes Geräusch von sich.

»Ich hasse diese neue Programmierung!«, schrie er.

»Sie ist genau auf Sie abgestimmt«, sagte das Haus mit seiner beruhigenden Butlerstimme.

»Du antwortest nur, wenn ich mit dir spreche.«

»Ich dachte, Sie hätten mit mir gesprochen, Sir.«

»Ich will diesen Schinken.« Er war es gewohnt, dass Maschinen einem bei ihrer Bedienung halfen – also mit der unermüdlichen Höflichkeit von Hausangestellten dumme Fragen beantworteten –, weil die Häuser längst zu Dienstboten geworden waren.

»Ich rate Ihnen davon ab, sich über den Kühlschrank hinwegzusetzen, Sir«, murmelte das Haus. »Er ist zuverlässig. Ach ja, außerdem ist Ihre Freundin Rebecca eingetroffen.«

»Jetzt schon?« Er hatte noch nicht einmal geduscht. »Lass sie rein.«

Als sie hereinrauschte, prüfte das Implantat in seinem linken Ohr unauffällig die Luftqualität und sagte: »Sie hinterlässt Spuren von Erkältungserregern.«

»Ähm, wie geht es dir?«, fragte er sie nach einem flüchtigen, trockenen Kuss.

»Gut. Ach, ich versteh schon. Ich habe dir doch gesagt, dass die Schwellenwerte bei deinem System zu niedrig eingestellt sind.«

»Schon möglich«, gestand er widerwillig.

»Erinnerst du dich noch an die Party letzte Woche? Da hat es behauptet, das ganze Haus sei eine Petrischale voller Grippeviren.«

»Vielleicht war es das ja auch«, erwiderte er trotzig und reichte ihr das Glas Wein, das der Kühlschrank eingeschenkt hatte.

Ein hübsches Stirnrunzeln trat auf Rebeccas Gesicht. »Also mussten wir gehen – dabei waren sogar Senso-Stars da.«

»Du mit deinen Stars.« Diesen Streit hatten sie immer wieder. Er hatte lediglich darauf hingewiesen, dass die meistbewunderten Menschen der Welt ausgerechnet diejenigen waren, die gut vortäuschen konnten, jemand anders zu sein. Und irgendwie hatte sie das persönlich genommen.

Mit einem leisen Schnauben ging sie ins Wohnzimmer, hielt unvermittelt inne und sagte: »Was ist das

Quer über den anbrandenden Wellen am Strand von Maui stand in einer ordentlichen Handschrift geschrieben: »ICH LIEBE DICH, ALBERT.«

Sein Magen machte vor Schreck einen Satz. »Äh, das ist wohl irgendeine Fehlfunktion.«

»Hmm.« Sie kniff die Augen zusammen. »Steckt da vielleicht irgend so ein Technik-Freund von dir dahinter?«

»Ich wüsste keinen, der den Haus-Code knacken könnte. Ist das nicht illegal?« Er arbeitete als Investmentbanker und besaß keinerlei praktische Kenntnisse.

»Hmm.« Sie betrachtete die aus hellen, schimmernden Linien bestehende Schrift, die mitten in der Luft zu hängen schienen. »Ziemlich geschwungene Handschrift. Wie die einer Frau – nein, wie die eines Mädchens.«

Er fühlte sich wie vergewaltigt, und ein Rumoren machte sich in ihm breit, doch er wusste, dass er sich erst mit Rebecca befassen musste. »Hör mal, ich habe keine Ahnung …«

Die Schrift zerlief und wurde durch eine weitere handgeschriebene Nachricht ersetzt: »ICH WERDE WARTEN.«

Rebecca sagte: »Sieh dir diese Kreise auf den I’s an. So schreibt man auf der Highschool.«

Er starrte die Schrift an. »Das ist ein Programm aus der Mall. Irgendwie ist mir das Ding nach Hause gefolgt.«

Sie runzelte die Stirn und verzog die Lippen. »Hmm.« Der Tonfall, in dem sie »Hmm« sagte, missfiel ihm zunehmend.

Den nächsten Morgen verbrachte er damit, nicht über den vorangegangenen Abend nachzudenken. Rebecca war aus seiner Wohnung gestürmt und nahm seitdem seine Anrufe nicht entgegen.

Bei dem Versuch, sie zu beschwichtigen, während er selbst immer wütender wurde, war er irgendwann ausgerastet. Das Programm aus der Mall hatte ihn verfolgt, war in seine Festung eingedrungen. Jetzt, wo Rebecca fort war, konnte er in seiner Wut nur noch die Wände anschreien, und zur Antwort erhielt er nichts als die nervtötende, grenzenlose Höflichkeit des Butler-Programms. Natürlich fühlte es mit ihm, was aber auch nicht gerade zu seiner Zufriedenheit bei getragen hatte.

Heute, nach einem Morgen voller Bildanrufe, Technikgeschwafel und wortreicher Schmähungen, empfand er das allerdings etwas anders. Anscheinend wusste niemand auch nur, was ein Meta-Programm war oder wer für so etwas verantwortlich war.

Erst zwei Tage später, nachdem Rebecca verschämt zu ihm zurückgekommen war, erzielte er erste Fortschritte. Die Mall, in der er das Progamm namens Ernestine Albert »kennengelernt « hatte, stritt jedes Wissen über die Vorgänge ab.

»Na klar«, sagte Rebecca sardonisch. »Die wollen doch nur ihren Arsch retten.«

»Möglicherweise wissen sie es wirklich nicht«, erwiderte Albert und rieb sich die Schläfen. Seine Kopfschmerzen ließen einfach nicht nach. »Der Techniker hat etwas von ›Spukerscheinungen‹ gesagt, die in letzter Zeit in der Kunden-Interface-Software aufgetreten sind.«

Rebecca kniff die Augen zusammen und machte eine Miene wie eine Rechtsanwältin. »Lass uns nochmal mit dem Typen reden.«

Er war drahtig, hatte einen Wieselblick und lebte geradezu für sein Technikgequatsche. »Verstehen Sie, je intelligenter man diese Systeme macht, desto besser interagieren sie mit uns. Darum geht’s ja auch, oder? Aber um das zu können, muss die Software ein Modell von den Wünschen und Abneigungen des Kunden erstellen.«

»Aus Aufzeichnungen über die Einkaufsgewohnheiten und so?«, fragte Rebecca.

»Nee, da ist noch viel mehr im Spiel. Bewegungsmuster, Medienvorlieben, Internetgewohnheiten, das Aussehen des Lebenspartners …«

»So was wird aufgezeichnet?« Albert war wie vor den Kopf gestoßen.

»Hey«, sagte der Techniktyp beleidigt, »das ist ja wohl allgemein bekannt. Sie laufen doch draußen rum, oder? Kameras können erkennen, ob Sie die Blonden oder die Brünetten bevorzugen, die Kleinen oder die Großen, die Hübschen oder …« – dabei warf er nicht einmal einen Blick zu Rebecca – »… wen auch immer, stimmt’s? Dann werden Sie in Kategorien einsortiert. Ihre Vorlieben und Abneigungen werden katalogisiert. Querverbindungen zu Ihren anderen Mustern hergestellt. Vorhersagematrizen. Hinter diesem Programmcode steht ein ganzer Haufen schlauer psychometrischer Regeln, das können Sie mir glauben.«

Rebecca sagte unheilverkündend: »Es gibt aber auch gewisse Regeln zum Thema Privatsphäre.«

Seine Miene wurde wachsamer, misstrauischer, und mit einem Mal stach sein spitzes Kinn deutlich hervor. »Diese Ernestine ist nicht Teil unserer Programmsuite.«

»Sie ist plötzlich auf unserer Wand aufgetaucht«, erwiderte Rebecca unnachgiebig, »und sie hat Ihr Kundenprofil über Albert verwendet.«

»Und sie hat einfach nicht von mir abgelassen«, sagte Albert voll rechtschaffener Empörung.

»Na schön, irgendwie muss uns dieses Persönlichkeitskonstrukt ausgebüchst sein.«

Rebecca stürzte sich sofort auf diese Aussage. »Also geben Sie zu, dass Sie die Verantwortung tragen.«

»Nein, das habe ich nicht gesagt«, widersprach er hitzig. »Es gibt auch Feedbackschleifen, wissen Sie. Jeder Kundenkontakt lehrt das System etwas, und das Gelernte wird ins Hauptprofil eingespeist. Diese Ernestine ist nicht irgendein Stück Programmcode, das in der Mall lebt, sondern ein verteiltes Phänomen.«

Rebecca ließ nicht locker. »Aber es hat hier angefangen, bei Ihnen.«

»Für nichtlineare systemische Effekte sind wir nicht verantwortlich.« So, wie er die Worte abspulte, handelte es sich eindeutig um ein Mantra seiner Rechtsabteilung.

Albert sagte: »Alle wittern hier einen Prozess, aber ich will einfach nur, dass das aufhört

»Wir werden die Sache zurückverfolgen«, sagte er. »Wir finden heraus, wie dieses Ernestine-Konstrukt Ihren Haus-Code geknackt hat und warum es tut, was es tut.«

»Gut«, sagte Albert. »Wann?«

»Schon dabei«, kam die knappe Antwort.

»Wann?«

Die Fassade des Techniktypen bekam leichte Risse. »Schwer zu sagen.«

Die Evolution der Drahtlosigkeit

Wie soll diese kleine Geschichte aufhören? Der Sinn, ein solches Szenario durchzuspielen, besteht darin, sich selbst eine Reaktion zu entlocken und sie dann mit der Position zu vergleichen, die man nach außen vertritt. Das macht es leichter, politische Fragen anhand echter menschlicher Probleme mit Leben zu füllen. Das Thema Liebe eignet sich dabei am besten, um das Publikumsinteresse zu wecken, kommt in politischen Debatten aber nur selten vor. Wir müssen uns der Tatsache stellen, dass unsere schicken Technologien Schnittstellen zum Leben der Menschen aufweisen – und zwar oft an den entscheidendsten Stellen.

Fangen wir zum Beispiel mit der Privatsphäre an. Man sagt, dass wir im Informationszeitalter leben, aber eigentlich bekommt man Information weitgehend geschenkt, insbesondere, seit es das Internet gibt. Die wertvolle Ware ist nicht die Information (die Nachricht), sondern die ihr zukommende Aufmerksamkeit: Der Handel folgt einer Ökonomie der Aufmerksamkeit. Dafür bezahlen Werbekunden.

Die hier erzählte Geschichte thematisiert die Verärgerung, die Menschen wahrscheinlich empfinden werden, wenn man ihre ungeschützten Drahtloszugänge mit Werbung zuschüttet. Vielleicht werden sie hinter solchen Vorgängen sogar finstere Absichten orwellscher Dimension vermuten. Wie werden die Leute reagieren?

Aktion und Reaktion

Die Vergangenheit weist uns den Weg: Drahtlostechnologien werden unausweichlich Gegenstand eines Wettrüstens werden.

Das Modell dafür ist ein Computervirus, das ich im Jahre 1969 erfunden habe (ein Umstand, den ich nicht gerade herausposaune). Ich habe damals meine ersten Programmzeilen geschrieben und 1970 Vorhersagen über die Auswirkungen solcher »Schadprogramme« auf das DARPA-Netz getroffen; Warnungen, die kaum Wirkung zeigten. Erst 1980 begann eine große Firma, Schutz vor den Streichen von Virusprogrammierern anzubieten; Norton Utilities und Vaccine machen bis heute große Gewinne.

Das Gleiche wird wahrscheinlich mit Drahtlostechnologien passieren, die über öffentliche Kanäle auf das Individuum zugreifen. Der Widerstand dagegen, ständig befragt zu werden oder sich belästigen lassen zu müssen, wird wachsen und genau die Art von Sicherheitstechnologien hervorbringen, die wir bereits kennen: Radarsensoren in Autos, Firewalls und Anrufanalysen. Es wird nicht nur massenhaft Stör- und Filtertechnologie geben, sondern auch immer mehr Spähsysteme.

Die Lösung für das Problem, wie man ein freundliches, wünschenswertes Eingangssignal von einer störenden Werbung unterscheiden kann, wird in erster Linie in der Software gesucht werden. Es wird eine Art Norton Utilities dafür geben – eine Defensivwaffe.

Weit beunruhigender ist allerdings die Vorstellung einer Angriffswaffe. Man stelle sich einen batteriegetriebenen Mikrowellenstrahler vor, der in einen Rucksack passt und mit dem man in Zukunft über einen Platz gehen und alle dortigen Sender und Sensoren blenden könnte. Ein solches Gerät strahlt harte Breitbandimpulse mit einer Anstiegszeit von zehn Mikrosekunden ab, fünf Impulse pro Sekunde. Seine Funktionsweise besteht in erster Linie darin, die Dioden in der Elektronik von Antennensystemen durchbrennen zu lassen.

Ein solches Gerät existiert bereits und ist auf dem freien Markt erhältlich. Ein einziger Spaziergang damit würde eine ganze Menge sehr teurer Technik außer Gefecht setzen. Die Batterie reicht für etwa dreißig Minuten, man könnte also mit einem Gang über ein Campusgelände das gesamte Universitätsnetzwerk zerstören – und ohne Vorwarnung wäre es alles andere als leicht, den Schuldigen zu finden.

Ich halte das nicht für ein unwahrscheinliches Szenario; man bedenke die Haltung des Helden meiner Geschichte weiter oben. Nur der gegenwärtige Preis eines solchen Geräts (derzeit etwa 100 000 Dollar, doch er wird mit Sicherheit sinken) würde ihn davon abhalten. Und andere Täter könnten leichter zu provozieren sein und finsterere Motive haben. Darüber hinaus wird bald allgemein bekannt sein, dass Mikrowellen ein Medium sind, das in beide Richtungen funktioniert. In zukünftigen Kriegen wird es »Mikrowellen-Bomben« geben, mit denen man die Kommunikation großflächig lahmlegen kann. Die Möglichkeit ihrer allseitigen Anwendung auch im kleineren Maßstab wird für viele offenkundig sein.

Unbeabsichtigte Folgen

Bei ihrer Ausbreitung treten Technologien in nichtlineare Wechselwirkung. »Die Straße findet für alles ihre eigene Verwendung«, lautet das Sprichwort. Drahtlostechnologie entwickelt sich nicht im leeren Raum.

Ein Beispiel am Horizont ist die Verschmelzung von Drahtlostechnologie und Robotern. Eine verknüpfte Welt ist auch eine neugierige Welt; wir können davon ausgehen, dass es bei Robotern nicht anders ist. Tatsächlich werden winzige Roboter, die in ein Zimmer schlüpfen, um unbemerkt zuzuhören und zuzusehen, ein verbreitetes Werkzeug für Privatdetektive, Industriespione und staatliche Geheimdienste sein.

Wir müssen damit rechnen, dass Roboter im Laufe der nächsten zehn Jahre Allgemeingut werden, so wie in den frühen Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts die Computer in den Büros Einzug gehalten haben. Schon jetzt gibt es in Krankenhäusern Roboter-Laufburschen, Wachpersonal, das bei Nacht per Infrarot sieht, und Roboter-Rasenmäher. So etwas ist noch nicht weit verbreitet, aber das wird sich ändern. Und all diese Geräte nutzen Drahtlosverbindungen. Es wird nachvollziehbare Gründe dafür geben, sich diese Systeme zunutze zu machen oder sie lahmzulegen; auch hier wird es zu einem Wettrüsten kommen, insbesondere bei den Sicherheitssystemen.

Im Allgemeinen werden sich solche Systeme an »Smart Spots« entwickeln, auf Universitätsgeländen, in Stadtzentren, auf Fabrikgeländen – um sich dann weiter auszubreiten, sobald die Technik sich verbessert und billiger wird. Smart Spots treten unweigerlich in Wechselwirkung mit intelligenten mobilen Geräten, anderen Robotern und Transportmitteln, um ihre Reichweite zu vergrößern.

Mit der Reduzierung von Chipgrößen und der Senkung der Kosten werden mobile Maschinen immer intelligenter werden. Das bedeutet, dass intelligentere mobile Einheiten in Wechselwirkung mit intelligenteren Drahtlosgeräten treten, wobei die Nachfrage nach dem einen die Nachfrage nach dem anderen anheizt.

Wohin führt das alles? Zu einer ausgereiften Technik, die trotzdem einem Wettrüsten unterliegt und das vielleicht immer tun wird. Wir haben nach wie vor Computerviren, Hacker, Firewalls und Spammer. Die Drahtloswelt der Zukunft hält zu alldem Analoga bereit.

Jenseits dieser Probleme stößt man auf die grundlegendere Frage, wem das Sensorium einer Person gehört. »Sensorium« meint in diesem Zusammenhang, in welchem Umfang die künstlichen Sinne einer Person auf Signale ansprechen. Derzeit liegt dieser Umfang praktisch bei null, aber er wird zunehmen, sobald die Menschen beginnen, mit den in Gebäude, Arbeitsplätze, Fahrzeuge usw. eingebetteten Chips und Sendern zu interagieren. All diese Interaktionen können im Prinzip von Außenstehenden übernommen, man könnte sogar sagen, gekapert werden. Einige werden diese Kanäle nutzen, um Spam darüber zu verbreiten, andere, um sich Informationen zu verschaffen. Die Shopping Mall in meiner Geschichte wird umfassende Kundendaten sicher hoch schätzen und gut dafür zahlen.

Wer bestimmt, wo die Grenzen eines solchen Sensoriums verlaufen? Wie empfindlich es ist? Wie durchlässig? Wir sollten nicht vergessen, dass Technologie für normale Menschen immer etwas Persönliches ist. Je weiter sie in ihr Leben eindringt, desto größeren Anteil wollen sie an ihrer Gestaltung.

Die heute in Entwicklung befindlichen Technologien sollten im Licht dieser ganz realen Möglichkeiten gesehen werden. Hat man diese im Hinterkopf, kann man gleich jetzt die richtigen Systeme entwickeln, anstatt die Hardware später umzurüsten. Andernfalls werden uns die Auswirkungen wie Insekten an die Windschutzscheibe klatschen – eine Riesensauerei, an der sich dann leider auch nichts mehr ändern lässt.

Das eigene Erleben ist der beste Lehrer – aber manchmal auch der teuerste.

 

Aus dem Amerikanischen von Jakob Schmidt. „Lass mich in Ruhe, Siri!“ (Thinking about the smart wireless world, 2011) ist neben vielen anderen interessanten Texten und Rezensionen im SCIENCE FICTION JAHR 2014 erschienen.
 

Gregory Benford ist Physiker und Autor zahlreicher Science-Fiction-Romane. Zuletzt sind die beiden (gemeinsam mit Larry Niven geschriebenen) Romane »Himmelsjäger« und »Sternenflüge« erschienen.

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