30. Januar 2017 1 Likes

Der Weltbestseller aus China

Die zweite Leseprobe aus Cixin Lius Science-Fiction-Meisterwerk „Die drei Sonnen“

Lesezeit: 23 min.

Cixin Liu hat mit seinem preisgekrönten Roman „Die drei Sonnen“ (im Shop) etwas geschafft, das sich jeder Schriftsteller wünscht, aber nur den Wenigsten gelingt: mit Fantasie und Erzähltalent den Horizont seiner Leser zu erweitern. Bilder in den Kopf seiner Leser zu pflanzen, die sie sich zuvor nicht vorstellen konnten – und die sie nach der Lektüre nie wieder vergessen werden. Den Leser dazu zu bringen, neu zu denken. Und last but not least, dabei auch noch großartig zu unterhalten. Kein Wunder also, dass Cixin Liu weltweit die Bestsellerlisten erobert hat.

Bereits im Dezember 2016 hatten wir allen Neugierigen eine erste Leseprobe aus „Die drei Sonnen“ zur Verfügung gestellt, in der es um das Schicksal der jungen Astrophysikerin Ye Wenjie zur Zeit der chinesischen Kulturrevolution geht. Ye Wenjie ist aber nur eine von zahlreichen Protagonisten, die uns auf dem Weg durch Lius Epochen umspannendes Science-Fiction-Abenteuer begleiten. Achtunddreißig Jahre später begegnen wir dem Nanowissenschaftler Wang Miao, der zu einer geheimen Sitzung hochrangiger Militärs und Physiker eingeladen wird. Doch was er dort erfährt, wird sein Verständnis von den Naturgesetzen des Universums in den Grundfesten erschüttern …

 

 

4

Frontiers of Science

Achtunddreißig Jahre später

Wang Miao fand, dass die vier, die ihn da aufsuchten, ein komisches Trüppchen waren: zwei Polizisten und zwei Soldaten. Einen Trupp bewaffneter Volkspolizisten hätte er noch irgendwie nachvollziehen können, aber warum waren zwei Infanterieoffiziere dabei?

Die Polizisten waren ihm vom ersten Augenblick an unsympathisch. Der junge Mann in Polizeiuniform ging ja noch, aber der in Zivil war richtig unangenehm. Ein klobiger, fetter Kerl mit fleischigem Gesicht und Hängebacken. Er trug eine speckige Lederjacke, stank nach Zigarettenrauch und sprach mit übertrieben lauter Stimme. Diese Sorte war ihm seit jeher ein Gräuel.

»Wang Miao?«

Schon die Art, wie der Polizist ihn ansprach, grob und unfreundlich, bereitete ihm großes Unbehagen. Der Mann wartete seine Antwort gar nicht ab. Stattdessen gab er seinem jungen Kollegen einen Wink, woraufhin der vortrat und ihm seinen Polizeidienstausweis zeigte.

Der ältere Polizist zündete sich eine Zigarette an und machte Anstalten, Wang Miaos Wohnung zu betreten.

»Bitte nicht rauchen in meiner Wohnung.« Er stellte sich dem Mann in den Weg.

»Entschuldige bitte, Professor Wang.« Der junge Polizist lächelte. »Das ist unser Gruppenkommandeur Shih Qiang.« Dabei bedachte er diesen mit einem vielsagenden Blick.

»Also gut, dann unterhalten wir uns im Hausflur.« Shih Qiang machte einen tiefen Lungenzug, bei dem die Zigarette fast zur Hälfte verglühte. Dann blies er den Rauch wieder aus und sah seinen Kollegen an. »Frag du ihn.«

»Professor Wang, stimmt es, dass du in letzter Zeit Kontakt zur Organisation Frontiers of Science hattest?«

»Frontiers of Science ist eine bedeutende internationale Organisation, die Akademiemitglieder sind ausnahmslos berühmte Gelehrte. Warum sollte ich zu so einer völlig legitimen wissenschaftlichen Einrichtung keinen Kontakt haben dürfen?«

»Du solltest dir mal selbst zuhören!« Shih Qiang wurde laut. »Haben wir etwa gesagt, dass die nicht legitim sind? Oder dass du mit denen nichts zu tun haben darfst?« Beim Sprechen blies er Wang Miao eine Rauchwolke direkt ins Gesicht.

»Na gut. Dann möchte ich euch bitten, meine Privatsphäre zu respektieren. Ich muss eure Fragen nicht beantworten.«

»Deine Privatsphäre? Ein berühmter Wissenschaftler wie du trägt eine gewisse Verantwortung für die öffentliche Sicherheit.« Shih Qiang schnippte den aufgerauchten Stummel weg und zog aus einem zerknautschten Päckchen gleich die nächste Zigarette hervor.

»Es ist mein Recht, nicht zu antworten. Geht jetzt bitte.« Wang Miao drehte sich um und wollte in seine Wohnung zurückgehen.

»Stopp, hiergeblieben!« Shih Qiang winkte den jungen Polizisten herbei. »Gib ihm Telefonnummer und Adresse.« Dann wandte er sich wieder an Wang Miao. »Dort kannst du morgen Nachmittag hingehen.«

»Was wollt ihr eigentlich von mir?«, fragte Wang Miao scharf.

Vom Streit alarmiert streckten inzwischen die Nachbarn die Köpfe aus den Wohnungstüren.

»Hauptmann Shih!« Der junge Polizist zog Shih Qiang auf die Seite und redete leise auf ihn ein. Er schien sehr aufgebracht. Anscheinend kam nicht nur Wang Miao schlecht mit Shih Qiangs Rüpelhaftigkeit zurecht.

»Professor Wang, bitte versteh uns nicht falsch.« Einer der Infanterieoffiziere, ein Major, trat eilig vor. »Wir haben heute Nachmittag eine wichtige Besprechung, zu der wir einige Wissenschaftler und Spezialisten hinzubitten möchten. Unser Vorgesetzter hat uns geschickt, um dich einzuladen.«

»Ich habe heute Nachmittag zu tun.«

»Das wissen wir. Unser Chef hat der Leitung des Forschungsinstituts für Supraleiter bereits Bescheid gegeben. Es ist äußerst wichtig, dass du an dieser Besprechung teilnimmst. Wenn es dir gar nicht möglich ist, müssen wir die Sitzung verschieben und warten, bis du Zeit hast.«

Shih Qiang und sein Kollege sagten nichts mehr. Sie drehten sich um und gingen die Treppe hinunter. Die beiden Soldaten sahen ihnen nach und machten dann ihrem Unmut Luft.

»Was erlaubt sich dieser Mann bloß?«, flüsterte der Major seinem Kameraden zu.

»Der hat schon so einiges auf dem Kerbholz. Vor ein paar Jahren hat er bei einer Geiselnahme Mist gebaut. Hat eigenmächtig und ohne Rücksicht auf das Leben der Geiseln gehandelt. Mit dem Ergebnis, dass eine dreiköpfige Familie von Kriminellen umgebracht wurde. Außerdem unterhält er angeblich Kontakte zum organisierten Verbrechen und hetzt die einzelnen Triaden gegeneinander auf. Und letztes Jahr hat er einen Verdächtigen gefoltert, um ihm ein Geständnis abzupressen. Dabei hat er ihn verstümmelt. Deswegen hat man ihn vorübergehend vom Dienst suspendiert.«

»Wie kommt so einer zum Bereitschaftskommando der Kampftruppen?«

»Der Chef höchstpersönlich wollte ihn haben. Er hat wohl irgendwelche überragenden Fähigkeiten. Allerdings hat man seine Handlungsbefugnisse streng eingeschränkt. Bei allen Aufgaben, die nicht die öffentliche Sicherheit betreffen, lässt man ihn völlig außen vor.«

Bereitschaftskommando der Kampftruppen? Was mochte das sein? Wang Miao blickte die zwei Offiziere verständnislos an.

Der Wagen, der Wang Miao abholte, fuhr ihn zu einem großen Gebäudekomplex am Stadtrand. Am Haupteingang gab es nur ein elektronisches Türschloss mit Pincode, aber kein Namensschild. Daraus schloss er, dass das Gelände vermutlich dem Militär und nicht der Polizei gehörte.

Die Sitzung fand in einem großen Saal statt, und Wang Miao erstaunte das Durcheinander, das dort herrschte. Computer und Zubehör standen überall unordentlich an den Wänden, und wo die Sachen nicht auf die Tische passten, hatte man sie auf dem Boden platziert, zwischen einem Gewirr aus Strom- und Internetkabeln. Einen großen Stapel Router hatte man gar nicht erst in die Computergehäuse eingebaut, sondern einfach oben auf die Server gestellt. Wo man auch hinsah, lag Druckerpapier verstreut. In den Ecken des Raums standen kreuz und quer große Videoleinwände. Sie erinnerten an Zigeunerzelte. Eine Schwade Zigarettenqualm hing wie Morgennebel auf halber Höhe im Raum …

Wang Miao wusste nicht, ob dies das Bereitschaftskommando der Kampftruppen war, von dem der Offizier gesprochen hatte, aber in einem Punkt war er sich sicher: Womit sie sich hier auch beschäftigen mochten, war so wichtig, dass für Ordnung keine Zeit blieb.

Die auf die Schnelle aufgestellten Sitzungstische waren vollgepackt mit Unterlagen und Krimskrams. Die Sitzungsteilnehmer sahen übermüdet aus. Ihre Kleidung war zerknautscht. Wer Krawatte trug, hatte den Knoten gelockert. Alle wirkten, als hätten sie die Nacht durchgemacht.

Geleitet wurde die Sitzung von einem Generalmajor namens Chang Weisi. Das Plenum bestand zur Hälfte aus Soldaten. Bei einer kurzen Vorstellungsrunde erfuhr Wang Miao, dass auch einige Polizisten unter den Anwesenden waren. Die übrigen Teilnehmer waren wie er Wissenschaftler, darunter einige sehr renommierte, die sich auf Grundlagenforschung spezialisiert hatten.

Erstaunt stellte Wang Miao fest, dass auch vier Ausländer teilnahmen, von denen zwei sogar Militärs waren: ein Colonel von der amerikanischen Air Force und ein Major von der englischen Infanterie. Sie waren hier als Kontaktpersonen für die NATO-Streitkräfte. Die beiden anderen waren CIA-Agenten und offensichtlich so etwas wie Beobachter.

Auf allen Gesichtern war ein Gedanke zu lesen: Wir haben getan, was wir konnten. Lasst uns jetzt verdammt noch mal zum Ende kommen!

Wang Miao sah Shih Qiang am Tisch sitzen. Er war wie ausgewechselt, keine Spur mehr von der gestrigen Grobschlächtigkeit. Er grüßte ihn, aber sein aufgesetztes Grinsen konnte Wang Miaos Stimmung nicht heben. Er hatte keine Lust, neben ihm zu sitzen, doch das war der einzige freie Platz. Die Qualmwolke im Raum, die ohnehin schon recht dicht war, wurde noch dicker.

Als die Sitzungsunterlagen ausgegeben wurden, beugte Shih Qiang sich zu ihm herüber. »Professor Wang, du forschst doch an irgendeinem … brandneuen Material, oder?«

»Ich erforsche Nanomaterialien.«

»Davon habe ich gehört. Das ist ganz schön starkes Zeugs, richtig? Ist sowas nicht bei Verbrechern heißbegehrt?«

Da Shih Qiang immer noch grinste, konnte Wang Miao nicht sagen, ob er seine Frage ernst meinte. »Was meinst du?«

»Hm, ich habe gehört, an einem haarfeinen Faden aus diesem Spielkram könne man einen ganzen Lkw aufhängen. Und wenn Kriminelle was davon stehlen und zu einem Messer verarbeiten, könnten sie damit ein Auto sauber in der Mitte durchschneiden.«

»Dazu müsste man es gar nicht erst zu einem Messer verarbeiten. Man kann Nanofäden herstellen, die hundertmal dünner als ein Haar sind. Wenn man so einen über eine Straße spannt, geht der durch vorbeifahrende Autos wie durch Butter. Aber letztlich kann man doch alles für ein Verbrechen verwenden! Sogar ein stumpfes Fischmesser …«

Shih Qiang zog aus seiner Mappe ein paar Unterlagen halb hervor, steckte sie dann aber wieder zurück. Offensichtlich hatte er keine Lust darauf. »Das stimmt natürlich. Sogar mit Fischen kann man Straftaten begehen. Ich habe mal in einem Mordfall ermittelt, bei dem eine Frau ihrem Mann seinen kleinen Freund abgeschnitten hat. Rate mal, was sie dazu benutzt hat – einen Tilapia-Buntbarsch aus dem Tiefkühlfach! Im gefrorenen Zustand waren die zackigen Rückenflossen des Fisches wie ein scharfes Sägemesser …«

»Da vergeht mir die Lust gründlich. Ehrlich gesagt will ich das gar nicht hören. Hast du mich deswegen zu dieser Sitzung kommen lassen? Um darüber mit mir zu reden?«

»Fisch und Nanomaterial? Nein, damit hat das hier nichts zu tun.« Shih Qiang senkte seine Stimme zu einem Flüstern. »Lass die mal schön zappeln, wir werden denen nichts erzählen. Die verachten uns und wollen uns nur aushorchen. Aber selbst rücken sie mit gar nichts raus. Ich bin schon seit einem ganzen Monat hier und weiß genauso wenig wie du.«

»Genossen! Die Sitzung ist eröffnet«, begann Generalmajor Chang. »Von allen Kriegsgebieten rund um den Globus stehen wir hier augenblicklich im Brennpunkt. Eingangs gebe ich den Genossen Sitzungsteilnehmern einen Überblick über die aktuelle Lage.«

Der ungewohnte Begriff »Kriegsgebiet« verwirrte Wang Miao. Er merkte außerdem, dass der Generalmajor nicht beabsichtigte, jemand Neuem wie ihm umfassende Hintergrundinformationen zu geben. Das wiederum bestätigte, was Shih Qiang gesagt hatte. Generalmajor Chang hatte während seiner kurzen Eröffnungsrede gleich zweimal das Wort »Genossen« gebraucht. Wang Miao sah zu den zwei NATO-Soldaten und den beiden Herren von der CIA hinüber, die der Generalmajor doch eigentlich als »Gentlemen« hätte ansprechen müssen.

»Sie sind ebenfalls Genossen, jedenfalls werden sie von den Leuten hier so angeredet.« Flüsternd deutete Shih Qiang mit dem Zeigefinger auf die vier Ausländer.

Obwohl er noch immer von den Worten des Generalmajors verwirrt war, nahm Wang Miao auch zur Kenntnis, dass Shih Qiang scheinbar seine Gedanken lesen konnte.

»Shih Qiang, stell das Rauchen jetzt ein. Hier ist es schon verqualmt genug«, sagte Generalmajor Chang, während er mit gesenktem Kopf in seinen Unterlagen blätterte.

Shih Qiang, der sich eben eine Zigarette angesteckt hatte, sah sich um. Da er keinen Aschenbecher finden konnte, warf er die Kippe in ein Glas Tee, wo sie zischend verlosch. Er hob die Hand zu einem Redebeitrag, wartete aber nicht ab, bis Generalmajor Chang ihm das Wort erteilte.

»Generalmajor, ich möchte meine Bitte noch mal wiederholen: Wir benötigen unbedingt einen gerechten Informationsaustausch.«

Chang blickte auf. »Bei Militäroperationen gibt es keine Informationsgleichheit. Ich bitte alle hier anwesenden Wissenschaftler um Nachsicht, dass wir nicht mehr Hintergrundinformationen zur Verfügung stellen können.«

»Bei uns ist das aber etwas anderes«, entgegnete Shih Qiang. »Die Polizei hat sich von Anfang an am Bereitschaftskommando der Kampftruppen beteiligt. Aber wir wissen bis jetzt noch nicht mal genau, worum es bei diesem Kommando eigentlich geht. Ihr schließt uns aus. Ihr lasst euch über jeden Schritt unserer Arbeit bestens informieren, und dann serviert ihr uns einen nach dem anderen ab.«

Die anderen Polizeibeamten tuschelten miteinander und pflichteten Shih Qiang bei. Es überraschte Wang Miao, dass Shih Qiang es wagte, so mit einem hochrangigen Militär zu sprechen.

Aber auch Generalmajor Changs Erwiderung überraschte ihn. »Shih Qiang, anscheinend hast du immer noch das gleiche Problem wie damals bei der Armee. Wie kannst du es dir erlauben, für die Polizei das Wort zu ergreifen? Du warst wegen extrem schlechter Führung schon einige Monate vom Dienst suspendiert, und bei der Truppe für öffentliche Sicherheit wollten sie dich demnächst ganz rauswerfen. Ich habe dich hierher versetzen lassen, weil ich viel von deinen Erfahrungen beim städtischen Polizeidienst halte. Über diese Chance solltest du dich freuen.«

»Also soll ich jetzt darauf hoffen, dass ich mich durch gute Führung wieder rehabilitiere? Sagtet ihr nicht, meine Methoden wären alle unredlich und halbkriminell?«

»Aber sie sind wirkungsvoll.« General Chang nickte ihm zu. »Und das ist das Einzige, was für uns zählt. In Kriegszeiten können wir uns keine Skrupel erlauben.«

»Wir können nicht zu wählerisch sein«, warf einer der CIA-Agenten in perfektem Chinesisch ein. »Mit konventionellen Denkmustern kommen wir nicht mehr weiter.«

Der englische Major verstand offenbar auch Chinesisch. »To be, or not to be…«, kommentierte er auf Englisch.

»Was sagt er?«, wandte sich Shih Qiang hilfesuchend an Wang Miao.

»Ach, gar nichts«, antwortete Wang Miao mechanisch. Er konnte gar nicht glauben, was hier besprochen wurde, es war wie in einem Traum. Kriegszeiten? Wo war denn hier Krieg? Er wandte den Kopf und blickte zum Fenster auf der einen Seite des Sitzungssaals. In der Ferne konnte er die Stadt sehen, den Strom der Autos, der an diesem sonnigen Frühlingstag nicht abriss, die Menschen, die auf den Grünflächen ihre Hunde ausführten, und ein paar Kinder beim Spielen.

Welche Welt war real? Die hier drinnen oder die da draußen?

Generalmajor Chang ergriff erneut das Wort: »In jüngster Zeit sind die feindlichen Angriffe deutlich aggressiver geworden. Ihre Ziele sind immer noch die Elitekreise der Wissenschaft. Schaut euch bitte zuerst die Namensliste in euren Unterlagen an.«

Wang Miao zog das erste Blatt aus seiner Unterlagenmappe hervor. Es war ein in großer Schrift bedrucktes Papier, die Namensliste war offensichtlich in großer Eile erstellt worden und enthielt sowohl chinesische als auch englische Namen.

»Was ist dein Eindruck, Professor Wang, wenn du dir diese Liste anschaust?« Generalmajor Chang sah ihn an.

»Ich kenne drei von den genannten Personen. Alle drei sind berühmte Physiker, die bahnbrechende Forschung betreiben.« Wang Miao war nicht ganz bei der Sache. Sein Blick blieb beim letzten Namen der Liste hängen. Ihm war, als wären die beiden Zeichen mit einer andersfarbigen Tinte geschrieben als die Namen darüber. Wie war es möglich, dass er hier ihren Namen las? Was war mit ihr passiert?

»Kennst du sie?« Shih Qiang deutete mit seinem dicken, nikotingelben Finger auf ihren Namen.

Wang Miao reagierte nicht.

»Ah! Du kennst sie nicht. Aber du würdest sie gerne kennen.«

Jetzt verstand Wang Miao, warum Generalmajor Chang diesen Mann, der einst unter ihm gedient hatte, wieder an seiner Seite haben wollte. Dieser grobschlächtige Typ hatte einen messerscharfen Blick. Vielleicht war er kein guter Polizist, aber auf jeden Fall ein furchterregender.

Im vorigen Jahr war Wang Miao beim Zweiten Chinesischen Teilchenbeschleuniger in der Forschungsgruppe für die Supraleitungen verantwortlich gewesen. Als er eines Nachmittags auf der Baustelle in Liangxiang eine kurze Pause einlegte, fühlte er sich magisch von dem angezogen, was er dort vor sich sah. Sein Hobby war die Landschaftsfotografie, und so betrachtete er seine Umgebung oft wie eine künstlerische Bildkomposition.

Das Hauptelement dieser Komposition war die Supraleiterspule, die sie gerade montierten. Sie war erst zur Hälfte fertiggestellt und ragte zwei, drei Stockwerke hoch auf. Mit ihren riesigen Metallblöcken und dem Gewirr von Rohren für die Tiefsttemperaturanlage sah sie wie ein Monster aus. Wie ein Müllberg aus dem Schwerindustriezeitalter, jener Epoche der unmenschlichen Technik und der barbarischen Stahlschmieden.

Vor diesem kaltherzigen Metallungeheuer stand eine junge, grazile Frau. Die Lichtverhältnisse dieser Bildkomposition waren ebenfalls einzigartig. Das provisorisch über der Baustelle errichtete Zelt warf einen Schatten auf den metallenen Riesen, der seine kalte, raue Oberfläche noch betonte. Durch das Loch im Zeltdach drang ein einzelner goldener Strahl der Abendsonne und fiel genau auf die Frau. Das sanfte Licht schimmerte auf ihrem weich fließenden Haar und ließ ihren zartweißen Hals erstrahlen, der über dem Kragen des Arbeitsanzugs hervorlugte. Sie sah aus wie eine zarte Blume, die nach einem schrecklichen Unwetter auf einem Riesenschrotthaufen erblüht.

»Was glotzt du so? Mach dich wieder an die Arbeit!«

Schockartig fuhr Wang Miao aus seinen Tagträumen hoch. Da merkte er, dass der Leiter des Forschungszentrums für Supraleitungen gar nicht mit ihm sprach. Ein junger Ingenieur hatte die Frau ebenfalls unverwandt angestarrt.

Nachdem er aus der Kunst in die Realität zurückgekehrt war, fiel ihm auf, dass die Frau keine einfache Arbeiterin war. Der leitende Ingenieur stand neben ihr und erklärte etwas. Seine Haltung zeugte von Respekt.

»Wer ist sie?«, fragte Wang Miao.

»Du solltest sie kennen.« Sein Chef malte mit der Hand einen großen Kreis in die Luft. »In den Bau des Beschleunigers wurden zwanzig Milliarden Yuan investiert. Der erste Lauf wird wahrscheinlich ihr Modell der Stringtheorie beweisen. Eigentlich zählt in der theoretischen Physik vor allem Alter und Erfahrung, und sie hätte gar nicht als Erste zum Zug kommen dürfen. Doch von den hochbetagten Wissenschaftlern wollte keiner den Anfang machen, weil sie Angst hatten, zu versagen und das Gesicht zu verlieren. Und so bekam sie ihre Chance.«

»Wie? Ist Yang Dong … eine Frau?«

»Richtig. Wir haben es auch erst vorgestern erfahren, als wir sie persönlich kennengelernt haben.«

Der junge Ingenieur schaltete sich ein: »Warum lässt sie sich nicht von den Medien interviewen? Hat sie irgendein psychisches Problem?

»Ach, Quatsch! Viele geniale Wissenschaftler sind medienscheu. Qian Zhongshu zum Beispiel war bis zu seinem Tod nicht ein einziges Mal im Fernsehen zu sehen.«

»Aber wenigstens wussten wir bei ihm, welches Geschlecht er hatte. Ich wette, sie hat in ihrer Kindheit irgendwas Ungewöhnliches erlebt. Und ist deswegen ein bisschen autistisch.«

Yang Dong kam mit dem leitenden Ingenieur herüber. Sie lächelte Wang Miao und den anderen freundlich zu, ging aber vorüber, ohne etwas zu ihnen zu sagen. Vor allem ihre kristallklaren Augen blieben Wang Miao im Gedächtnis.

Am Abend saß er in seinem Arbeitszimmer und betrachtete seine Lieblingsfotografien an den Wänden. Sein Blick verweilte auf einer Landschaft, die den Westen Chinas zeigte. Ein ödes Tal, an dessen Ende man die schneebedeckten Berge sehen konnte. Ein abgestorbener dunkelgrüner Maulbeerbaum nahm ein Drittel des Bildvordergrunds ein. In seiner Vorstellung platzierte Wang Miao die Frauengestalt, die ihm nicht aus dem Kopf ging, tief im Bildraum – am Ende des Tals, wo sie ganz winzig aussah. Überrascht bemerkte er, dass das Bild zu leben begann, als hätte die fotografierte Szene die Gestalt wiedererkannt, als hätte sie von Anfang an nur für sie existiert.

Dann stellte er sie sich auch noch auf seinen anderen Fotografien vor. Zuweilen fügte er ihre hübschen Augen auch in den weiten blauen Himmel des Bildhintergrunds ein. Alle Bilder erwachten zu Leben und präsentierten sich ihm in bisher unvorstellbarer Schönheit. Früher hatte er immer gefunden, dass seinen Fotografien die Seele fehlte. Jetzt wusste er, dass sie auf ihnen gefehlt hatte.

»Alle Physiker auf dieser Liste haben während der letzten zwei Monate Selbstmord begangen«, sagte Generalmajor Chang.

Wang Miao war völlig erschüttert. Die schwarzweißen Landschaftsaufnahmen in seinem Geist verblassten. Ihre Gestalt war nicht mehr länger auf den Fotografien zu sehen, ihre Augen verschwanden vom Himmel. All diese Welten waren tot.

»Wann … ist das passiert?« Wang Miao fühlte sich wie versteinert.

»In den letzten beiden Monaten«, wiederholte Generalmajor Chang.

»Du fragst wohl nach dem letzten Namen auf der Liste?« Aus Shih Qiangs Flüstern klang Genugtuung. »Sie war die Letzte, die sich umbrachte. Vorgestern Abend, mit einer Überdosis Schlaftabletten. Ganz friedlich und ohne Schmerzen.«

Einen Moment lang war Wang Miao Shih Qiang dankbar. »Warum?« Die Landschaftsfotografien liefen vor seinem inneren Auge noch immer wie eine Diaschau ab.

Generalmajor Chang zuckte mit den Achseln. »Bis jetzt steht nur fest, dass sie sich alle aus dem gleichen Grund das Leben genommen haben. Allerdings ist er schwer in Worte zu fassen. Aber vielleicht können wir Laien diesen Grund auch einfach nicht begreifen. In den Unterlagen findet ihr Auszüge aus ihren Abschiedsbriefen. Ihr könnt sie euch im Anschluss an die Sitzung in aller Ruhe ansehen.«

Wang Miao blätterte in den kopierten Schriftstücken, es waren alles ellenlange Aufsätze.

»Dr. Ding Yi, kannst du Professor Wang bitte Yang Dongs Abschiedsbrief zeigen? Er ist der kürzeste und vielleicht der charakteristischste von allen.«

Ding Yi, der die ganze Zeit über schweigend mit gesenktem Kopf dagesessen hatte, brauchte eine halbe Ewigkeit, bis er reagierte. Er zog einen weißen Briefumschlag hervor und reichte ihn über den Tisch.

»Er war Yang Dongs fester Freund«, raunte Shih Qiang Wang Miao ins Ohr.

Erst jetzt fiel Wang Miao auf, dass er Ding Yi ja von der Baustelle des Teilchenbeschleunigers in Liangxiang kannte. Er war Mitglied der Theorieforschungsgruppe. Dieser Physiker war weltberühmt geworden, weil er während seiner Forschungen zum Kugelblitz die Makroatome entdeckte. Wang Miao zog den Inhalt des Briefumschlags hervor, der einen feinen Duft verströmte. Es war kein Papier, sondern ein unregelmäßig geformtes Stück Rinde einer Weißbirke, auf dem in grazilen Schriftzeichen geschrieben stand:

Alles, wirklich alles, führt zu dem gleichen Ergebnis: Die Physik hat niemals existiert und wird auch in Zukunft nicht existieren. Ich weiß, dass ich mich so vor der Verantwortung drücke, aber ich habe keine Wahl.

Sie hatte nicht mal unterschrieben. Sie war tot.

»Die Physik … existiert nicht?« Wang Miao schaute verunsichert auf.

Generalmajor Chang schloss die Unterlagenmappe. »In jüngster Zeit wurden weltweit drei neue Teilchenbeschleuniger errichtet. Das Dokument enthält auch ein paar konkrete Informationen über die Ergebnisse der Experimente, die man dort durchgeführt hat. Es ist alles sehr speziell, und wir werden uns hier nicht damit beschäftigen. Stattdessen werden wir uns zunächst auf die Frontiers of Science konzentrieren. Als die UNESCO 2005 das Internationale Jahr der Physik ausrief, kam es zu einem intensiven Austausch von Wissenschaftlern in aller Welt. Die Organisation Frontiers of Science entstand ganz allmählich während der zahlreichen Konferenzen in diesem Jahr. Dr. Ding, du bist doch Spezialist der theoretischen Physik. Kannst du uns schildern, was damals geschah?«

Ding Yi nickte. »Ich hatte niemals direkten Kontakt mit Frontiers of Science, aber diese Organisation ist in akademischen Kreisen sehr berühmt. Sie beschäftigen sich mit einem Grundproblem unseres Wissenschaftszweigs: Seit der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wird die Physik immer komplizierter. Von der einfachen und präzisen Aussagekraft ihrer klassischen Theorien ist heute kaum noch etwas übrig. Die modernen Erklärungsmodelle werden immer undurchsichtiger und unbestimmter und lassen sich kaum noch in Experimenten überprüfen. Allem Anschein nach sind die physikalischen Forschungen an eine Grenze gestoßen. Die Organisation Frontiers of Science versucht, eine neue Denkrichtung zu eröffnen. Um es einfach auszudrücken: Ihre Mitglieder versuchen, mit wissenschaftlichen Methoden aufzuzeigen, wo die Grenzen der Wissenschaft liegen. Sie wollen herausfinden, wie weit man mit der Wissenschaft die Natur überhaupt begreifen kann – ob es eine Grenze gibt, die sich von der Wissenschaft nicht überwinden lässt. Nach dem heutigen Stand der Forschung scheint es eine solche Grenze zu geben.«

»Sehr gut«, sagte Generalmajor Chang. »Soweit wir herausfinden konnten, standen die meisten der Wissenschaftler, die sich das Leben genommen haben, in Kontakt mit Frontiers of Science. Manche waren sogar Mitglieder dieser Forschergemeinschaft. Aber wir fanden keinen Hinweis auf eine Gehirnwäsche, wie man sie bei einer Sekte erwarten würde. Oder auf die Einnahme von psychotropen Drogen. Mit anderen Worten: Wenn Frontiers of Science diese Wissenschaftler beeinflusst hat, dann nur im legalen wissenschaftlichen Austausch. Professor Wang, du hattest doch in jüngster Zeit Kontakt mit ihnen. Was kannst du uns über sie sagen?«

»Vor- und Zunamen der Kontaktpersonen. Zeitpunkt und Ort der Treffen. Inhalt der Gespräche. Und sofern es welche gab, Inhalt von Briefen und E-Mails …« Shih Qiang zählte die einzelnen Punkte an den Fingern ab.

»Sei still, Shih Qiang!« Generalmajor Chang sah ihn streng an.

»Auch wenn du mal den Mund hältst, halten wir dich nicht für stumm!«, zischte der Polizeibeamte neben Shih Qiang ihm zu. Dann hob er sein Teeglas zum Mund. Dabei bemerkte er den Zigarettenstummel darin und setzte es geräuschvoll wieder ab.

Wang Miao störte Shih Qiangs Verhalten extrem. Er fühlte sich, als hätte er eine Schmeißfliege verschluckt. Der Anflug von Dankbarkeit, den er vorhin noch verspürt hatte, war verpufft. Aber er zwang sich zur Ruhe. »Mein Kontakt zu Frontiers of Science kam über Shen Yufei zustande. Sie ist eine japanische Physikerin mit chinesischen Wurzeln und arbeitet heute bei einer japanischen Firma in Peking. Früher hat sie für Mitsubishi Electric in der Nanotechnik geforscht. Wir haben uns Anfang des Jahres bei einem Symposium für neue Technologien kennengelernt. Über sie habe ich ein paar ihrer Physikerfreunde kennengelernt. Sie sind alle Mitglieder bei Frontiers of Science, Chinesen und auch Ausländer. Die Gespräche mit ihnen drehten sich immer um sehr, wie soll ich sagen, entscheidende Themen. Dabei ging es immer um die Frage, die Dr. Ding gerade angesprochen hat: Was sind die Grenzen der Wissenschaft? Anfangs fand ich das alles nicht sonderlich interessant. Einfach eine Art Zeitvertreib. Mein Metier ist die angewandte Forschung, ich weiß nicht viel über diese theoretischen Themen. Also hörte ich ihnen hauptsächlich zu, während sie miteinander diskutierten und stritten. Sie waren alle kluge und tiefschürfende Denker mit sehr originellen Auffassungen. Ich fand, dass der Meinungsaustausch mit ihnen meinen Horizont erweiterte. Und allmählich wuchs auch mein Interesse. Aber sie diskutierten ausschließlich Themen, die wie am Himmel entlanggaloppierende Rösser waren, ohne jede Bodenhaftung. Alles bloße Theorie, sonst nichts. Sie luden mich auch dazu ein, Mitglied bei Frontiers of Science zu werden. Aber dann wäre die Teilnahme an solchen Symposien zur Pflicht geworden. Und weil mich das überfordert hätte, habe ich ihnen freundlich abgesagt.«

»Professor Wang«, sagte Generalmajor Chang, »wir möchten, dass du die Einladung annimmst und dich Frontiers of Science anschließt. Das ist der Hauptgrund, warum wir dich heute hierhergebeten haben. Wir hoffen, mit deiner Hilfe mehr über die inneren Abläufe in dieser Organisation zu erfahren.«

»Du meinst, ich soll sie bespitzeln?« Wang Miao war beunruhigt.

»Bespitzeln, dass ich nicht lache!« Shih Qiang schien von der Vorstellung ehrlich amüsiert.

Generalmajor Chang bedachte ihn mit einem tadelnden Blick. Dann wandte er sich wieder an Wang Miao. »Wir möchten nur, dass du uns ein paar Informationen beschaffst. Wir haben keinen anderen Zugang zu ihnen.«

Wang Miao schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Generalmajor. Das kann ich nicht machen.«

»Professor Wang, Frontiers of Science ist eine Organisation internationaler Top-Wissenschaftler. Es ist sehr schwer, etwas über sie herauszufinden. Wir bewegen uns da auf sehr dünnem Eis. Und wenn uns niemand von der Intelligenzija hilft, kommen wir keinen Schritt weiter. Nur deshalb wenden wir uns mit dieser taktlosen Bitte an dich. Aber wir werden deinen Wunsch respektieren. Wir können verstehen, wenn du nicht willst.«

»Ich … bin beruflich sehr eingespannt. Mir fehlt die Zeit.«

Generalmajor Chang nickte. »In Ordnung, Professor Wang. Dann möchten wir nicht mehr von deiner Zeit in Anspruch nehmen. Vielen Dank, dass du an dieser Besprechung teilgenommen hast.«

Wang Miao brauchte ein paar Minuten, bis er begriff, dass er damit entlassen war.

Generalmajor Chang begleitete ihn noch höflich bis zur Tür. Dabei hörte Wang Miao Shih Qiang in seinem Rücken lospoltern: »Das ist auch besser so. Ich war von Anfang an gegen diese Idee. Wo sich doch schon so viele Bücherwürmer das Leben genommen haben. Wenn wir den da auch noch hinschicken, wäre es ja, als würden wir einem Hund ein Fleischklößchen hinwerfen.«

Wang Miao wandte sich um und ging direkt auf Shih Qiang zu. Er hatte Mühe, seine Wut zu zügeln. »Solche Kommentare geziemen sich nicht für einen guten Polizisten.«

»Wer sagt, dass ich ein guter Polizist bin?«

»Wir wissen nicht, warum sich diese Forscher umgebracht haben. Und du solltest nicht so herablassend über sie sprechen. Schließlich haben sie mit ihrer Intelligenz einen unersetzlichen Beitrag für unsere Gesellschaft geleistet.«

»Du meinst, ich bin weniger wert als sie?« Shih Qiang sah von seinem Stuhl zu Wang Miao auf. »Aber wenigstens würde ich mich nicht gleich umbringen, nur weil mir irgendwer irgendeinen Mist erzählt.«

»Glaubst du etwa, ich …«

»Ich muss deine Sicherheit im Auge behalten. Stimmt doch, oder etwa nicht?« Shih Qiang schaute Wang Miao ins Gesicht und lächelte unverhohlen.

»In so einer Situation wäre es um meine Sicherheit bestimmt besser bestellt als um deine. Die Fähigkeit, etwas richtig zu beurteilen, steigt nämlich proportional zum vorhandenen Wissen.«

»Das sehe ich anders, jemand wie du …«

»Shih Qiang, noch ein einziges Wort, und du fliegst raus«, ging Generalmajor Chang dazwischen.

»Schon in Ordnung«, entgegnete Wang Miao, »lass ihn nur reden.« Er wandte sich zu Chang um. »Ich habe mich umentschieden. Ich werde eurem Wunsch entsprechen und Frontiers of Science beitreten.«

»Gut!« Shih Qiang nickte heftig. »Wenn du dann drin bist, musst du auf Zack sein. Lies immer, was auf den Computermonitoren steht, versuche, dir E-Mail-Adressen und URLs von Websites zu merken …«

»Hör auf! Wenn du glaubst, dass ich da den Spitzel spiele, liegst du falsch. Ich möchte nur beweisen, was für ein Idiot du bist.«

»Wenn du nach einer Weile noch leben solltest, hat es sich von selbst bewiesen. Aber ich fürchte …« Shih Qiang hob den Kopf. Aus seinem Lächeln war ein wölfisches Grinsen geworden.

»Natürlich werde ich am Leben bleiben! Aber dich möchte ich nie mehr wiedersehen.«

Generalmajor Chang begleitete Wang Miao die Treppe hinunter und bestellte einen Wagen, der ihn nach Hause fahren sollte. Zum Abschied sagte er: »Mach dir keine Gedanken wegen Shih Qiang. Das ist nun mal sein Naturell. Aber im Grunde ist er ein sehr erfahrener Kriminalbeamter und Antiterrorspezialist. Vor knapp dreißig Jahren hat er als Soldat in meiner Kompanie gedient.« Inzwischen waren sie beim Auto angekommen. »Professor Wang, du hast sicher jede Menge Fragen.«

»Worüber ihr heute da drinnen gesprochen habt … Was hat das alles mit dem Militär zu tun?«

»Krieg hat natürlich immer etwas mit dem Militär zu tun.«

Verwirrt sah sich Wang Miao um. An diesem schönen Frühlingstag schien um ihn herum alles zu strahlen. »Aber wo herrscht denn Krieg? Es gibt zurzeit kaum einen Ort auf dem ganzen Erdball, wo ernsthaft gekämpft wird. Wir leben doch in der friedlichsten Epoche aller Zeiten.«

Generalmajor Chang lächelte unergründlich. »Du wirst schon bald über alles Bescheid wissen. Alle werden es wissen. Professor Wang, hat es in deinem Leben je einen Schicksalsschlag gegeben, der dein Leben völlig auf den Kopf gestellt hat? Sodass die Welt plötzlich ganz anders für dich ausgesehen hat?«

»Nein.«

»Dann hast du Glück gehabt. Obwohl es in dieser Welt keinerlei Sicherheiten gibt, bist du bislang von Krisen verschont geblieben.«

Wang Miao verstand immer noch nicht, was Chang meinte. »Das trifft doch auf die meisten Menschen zu.«

»Dann hatten die meisten Menschen einfach Glück.«

»Aber … so leben die Menschen doch schon seit Generationen.«

»Alles reines Glück.«

Wang Miao schüttelte den Kopf. Er musste lachen. »Ich gebe zu, ich bin heute etwas begriffsstutzig. Willst du damit sagen …«

»Richtig. Die Menschheit hat während ihrer gesamten Geschichte großes Glück gehabt. Von der Steinzeit bis heute ist es zu keiner größeren Katastrophe gekommen. Aber wie das mit Glückssträhnen nun mal so ist, muss auch diese eines Tages enden. Und ich sag dir eins: Sie ist zu Ende. Mach dich auf das Schlimmste gefasst.«

Wang Miao hatte noch weitere Fragen, aber Generalmajor Chang wollte nichts mehr sagen. Stattdessen schüttelte er ihm die Hand und ging davon.

Nachdem er ins Auto eingestiegen war, fragte der Chauffeur Wang Miao nach seiner Adresse. Er nannte sie ihm und fragte zurück: »Hast du mich nicht auch abgeholt? Das Auto scheint mir das gleiche zu sein.«

»Nein, ich habe Dr. Ding abgeholt.«

Wang horchte auf. Er bat den Chauffeur, ihn zu Dr. Ding zu fahren.

 

Eine weitere Leseprobe aus „Die drei Sonnen“ folgt in Kürze.

Cixin Liu: „Die drei Sonnen“ ∙ Roman ∙ Aus dem Chinesischen von Martina Hasse ∙ Heyne Verlag, München 2016 ∙ 592 Seiten ∙ E-Book: € 11,99 (im Shop)

 

 

 

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