17. Oktober 2017

>>Wiederentdeckt: Die „Inhumans“-Comics von Paul Jenkins und Jae Lee

oder: Individuen im Kollektiv

Lesezeit: 5 min.

Manchmal gibt es Romane, Comics, Filme oder Musik, die in der Zeit ihrer Entstehung durchs Raster fallen. Die veröffentlicht werden und dann einfach – verschwinden. Verschwinden, oder unverdienterweise vergessen werden. Manchmal lohnt sich aber ein zweiter Blick.

1999 erhielt die „Inhumans“-Maxiserie von Autor Paul Jenkins und Zeichner Jae Lee, die zwölf Comic-Hefte umfasst, einen Eisner Award. Trotz des Comic-Oscars hat es hierzulande leider nie für einen Sammelband gereicht – 2000 erschien die Story nur in drei dicken Heften, die übrigens „Perry Rhodan“-Autor Frank Borsch ins Deutsche übersetzte. Auf Englisch wurde die preisgekrönte Serie passend zum angedachten Aufstieg der Inhumans in Marvels Comics und TV-Serien 2013 immerhin als Hardcover und 2015 als Softcover neu abgepackt. Die Saga von Jenkins und Lee hat aber nicht allein wegen der Inhuman-Plots in der schwer unterhaltsamen Fernsehserie „Marvel’s Agents of S.H.I.E.L.D.“, der brandneuen „Inhumans“-Show und der Präsenz der Inhumans in den aktuellen Marvel-Comics alle Aufmerksamkeit verdient. Schließlich lieferten Jenkins und Lee ihre Neudefinition der Übermenschen, die aus genetischen Experimenten der Kree-Alien hervorgingen, zu einem Zeitpunkt, als die Inhumans in den Marvel-Comics kaum eine Rolle spielten, und sowieso alles den Bach runter zu gehen drohte. Doch der Reihe nach.

Damals ging es nicht nur den Inhumans schlecht, die Stan Lee und Jack Kirby 1965 in einer ihrer fruchtbaren „Fantastic Four“-Geschichten eingeführt hatten, die das frühe Marvel-Universum der Avengers und ihrer Kollegen ausschmückten und bis heute prägten. Ende der 90er war die irrsinnige Blase des Spekulationsgeschäfts mit Comic-Variantcovern in den USA implodiert und hatte den gesamten Markt in die Krise gestürzt. Selbst Branchengigant Marvel kämpfte mit dem wirtschaftlichen Konkurs, und kreativ sah es bloß geringfügig besser aus. Joe Quesada und Jimmy Palmiotti sollten es richten und für frischen Wind und damit den dringend benötigten Aufschwung sorgen. Als verantwortliche Redakteure kümmerte sich die beiden Alleskönner um die nötigen Talente und Geschichten, die sie unter dem Marvel Knights-Banner vereinten und veröffentlichten. Der Plan ging auf, dank einschlagender Comics wie „Punisher: Willkommen zurück, Frank“ von Garth Ennis und Steve Dillon (und Palmiotti als Tuscher), „Black Panther“ von Christopher Priest und Mark Texeira (und Quesada als Co-Autor), „Daredevil: In den Armen des Teufels“ von Kevin Smith, Quesada als Zeichner und Palmiotti als Inker, und eben „Inhumans“ von Jenkins und Lee.

Der koreanische Künstler Jae Lee fügte seinem Portfolio im Laufe der Jahre Titel wie „Batman/Superman“, „Before Watchmen: Ozymandias“, „Fantastic Four 1234“ und „Stephen King’s Der Dunkle Turm“ hinzu. „Inhumans“ steht für die Periode innerhalb seines Schaffens als typischer Superhelden-Zeichner, in der die 90er noch deutlich zu sehen waren. Während Lee heute auf ein glattes und weiches Artwork setzt, geizte er damals beim Tuschen noch nicht mit Strichen und Schatten, mit Runzeln und Falten. Die „Inhumans“-Serie unter dem Marvel Knights-Label kann rein optisch ihre Verbundenheit zu den einerseits so verhängnisvollen, andererseits so stilprägenden 90ern des US-Comics also niemals verbergen – wirklich stören tut das allerdings selten. Wer dabei gewesen ist, hat ohnehin ein Herz für die Jim Lees und Jae Lees (nicht verwandt oder verschwägert) dieser Zeit, wenn es um das Comic-Vokabular dieser Ära geht, und den exotischen Inhumans der MK-Serie hat der Ansatz durchaus gut zu Gesicht gestanden.

Den britischen Autor Paul Jenkins kennt man heute hauptsächlich für mehrere emotional hochwertige Spider-Man-Serien (u. a. mit „Fables“-Zeichner Mark Buckingham und Humberto Ramos), die retroaktive Einführung des mächtigen Sentry ins Rächer-Universum, einige eigenständige Comics und dafür, dass er die Herkunft und Jugend von Wolverine in „Origin“ enthüllen – manch einer seiner Kritiker würde wohl sagen: entzaubern – durfte. Jenkins’ Ruf ist unverdienterweise viel schlechter als die meisten seiner Geschichten, von denen nicht wenige, ganz im Gegenteil, sogar ziemlich gut und lesenswert sind. Jenkins, der seine Karriere in den USA als Redakteur der Turtles-Comis startete, war eben schon immer ein reichlich ambitionierter Autor, der spürbar versuchte, einem literarischen Anspruch gerecht zu werden, was die Qualität seiner Worte, der Story und ihrer Figuren angeht. In „Inhumans“ wurde er seinem Verlangen nach Gehalt und Güte jederzeit gerecht, zumal er selbst unbedarften Lesern die komplexe Natur der Inhumans-Kultur gut näher bringt.

Allen voran den schweigsamen König Black Bolt, dessen Stimme ganze Welten vernichten kann und der mithilfe seiner rothaarigen Königin Medusa und dem Rest der royalen Sippe um Karnak und Gorgon (und, natürlich, den teleportierenden Hund Lockjaw) über den Stadtstaat Attilan und ein Volk aus viertausend Individuen herrscht. Über Nichtmenschen und Quasigötter, die im Ritual der Terrigenese eine wundersame Mutation durchlaufen, welche sich anschließend in ihrem Aussehen und in ihren Fähigkeiten widerspiegelt. Manche Inhumans ereilt beim Kontakt mit den Terrigen-Nebeln aber ein Schicksal schlimmer als der Tod, und genau so einen fallen gelassenen Inhuman spannt Black Bolts wahnsinniger Bruder Maximus, den es seit jeher nach dem Thron von Attilan verlangt, für seine gewohnt sinisteren und skrupellosen Pläne ein. In Folge dessen hetzt Maximus gleich noch die Alphaprimitiven mit auf, die von den Inhumans gezüchtet wurden, um die Maschinen im Untergrund ihrer Stadt am Laufen zu halten, und denen sie die Freiheit versprachen, ohne ihren Worten Taten folgen zu lassen. Sogar die Menschen, die Attilan belagern, macht der ewige Unruhestifter, Aufwiegler und Intrigenspinner Maximus im wahrsten Sinne des Wortes mobil, die Attilan und die Inhumans militärisch angreifen. Der altruistische Black Bolt, der um seine Verantwortung als Anführer eines Volkes übermenschlich potenter Wesen weiß, will die Eskalation des Konflikts zwischen den Spezies vermeiden und setzt deshalb alles aufs Spiel …

Jenkins und Lee nutzen dieses Szenario für vielseitige und komplexe, im Grunde feinste Science-Fiction-Kost über ein fremdartiges Volk und seine Verstrickungen, deren Verankerung im Marvel-Universum bisweilen eher nominell wirkt: Die damalige neue Black Widow springt durch ein paar Panels, Reed Richards gibt in einer Talkrunde den Inhuman-Experten, und Namor der Sub-Mariner ist mit von der Partie, doch keine Avengers oder X-Men weit und breit – lediglich eine Ben-Grimm-Puppe als Hundespielzeug neben Lockjaws Napf. Dabei werfen Jenkins und Lee, die sich zu keinem Zeitpunkt im allegorischen Subtext verheddern, von innen wie von außen einen durchdingenden Blick auf das Drama und das Dilemma der Inhuman-Existenz und der Bürde des Anführers. Mehr als fünfzehn Jahre nach dem ursprünglichen Erscheinen ist ihr Epos noch immer eine starke und vielschichtige Lektüre – zweifellos das Beste, was man über Black Bolts und Medusas Volk lesen kann, obwohl Marvel die Inhumans in jüngerer Vergangenheit mit aller Macht ins Rampenlicht drückte.

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