17. Januar 2018 3 Likes

„Über die nächsten 50 Jahre zu schreiben ist hart.“

Im Gespräch mit Lavie Tidhar, Autor von „Central Station“

Lesezeit: 8 min.

Lavie Tidhar (im Shop) wurde 1976 in Israel geboren, lebte aber auch schon länger in Laos, Vanuatu, Südafrika und England. Heute arbeitet er von London aus an Romanen, Bilderbüchern und Kurzgeschichten, zudem twittert und bloggt er rege. Für seinen Alternativwelt-Roman „Osama“ wurde er 2012 mit dem World Fantasy Award ausgezeichnet, für den Parallelwelt-Roman „A Man Lies Dreaming“ erhielt er 2015 den British Fantasy Award und den Jerwood Fiction Uncovered Prize. Sein Anfang 2018 bei Heyne auf Deutsch erschienener Science-Fiction-Roman „Central Station“ brachte ihm 2017 den John W. Campbell Memorial Award und Nominierungen für den Locus und den Arthur C. Clarke Award ein. In „Central Station“ geht es um einen Weltraumbahnhof im futuristischen Tel Aviv und um die Schicksale der Menschen, Roboter, Cyborgs, Datenvampire, digitalen Wesenheiten, Götter und heimgekehrten Weltraumreisenden im Umfeld der titelgebenden Station, wo sich Realität und Virtualität zudem längst vermischt haben. Im Interview spricht Lavie Tidhar über die ungewöhnliche Entstehung von „Central Station“, seine Vorbilder in Sachen Future History, digitale Intelligenz, Ameisen und das Schreiben von Zukunftsliteratur im Angesicht einer Gegenwart mit Donald Trump.

 


Foto: Kevin Nixon © Future Publishing 2013

Hallo Lavie. Die Kapitel von „Central Station“ erschienen zuerst in Form einzelner Kurzgeschichten in diversen Magazinen und Anthologien. Ab wann wusstest du, dass du an einer großen Geschichte arbeitest?

Ich habe „Central Station“ gleich vom Beginn an als ein einzelnes Projekt konzipiert – ich habe bewusst versucht, in Form eines Mosaikromans zu arbeiten, was etwas ist, wofür gerade die Science-Fiction bestens geeignet scheint. Viele meiner Lieblingsromane in diesem Genre – „Als es noch Menschen gab“ (im Shop), „Herr des Lichts“ (im Shop) und so weiter – wurden auf diese Art umgesetzt. Doch es gab mir auch die Freiheit, an diesem in meinem Empfinden eher unkommerziellen Projekt in meinem eigenen Tempo zu arbeiten, und in der Zwischenzeit eine Art schnelle Befriedigung aus der separaten Veröffentlichung der einzelnen Episoden zu ziehen. Und so hat es ein paar Jahre gedauert.

Hast du die Geschichten für die zusammenhängende Veröffentlichung in Romanform signifikant verändert?

Das habe ich. Ursprünglich musste natürlich jede Geschichte für sich stehen, was in der Gesamtheit des Romans zum Beispiel zu vielen Wiederholungen geführt hätte, und deshalb herausgestrichen werden musste. Noch schlimmer war, dass das finale Manuskript aufgrund der Art, wie ich es niedergeschrieben habe, nicht wirklich funktionierte, und ich auf dem Schlauch stand, wie ich es in Ordnung bringen sollte – wie ich es dazu bringen sollte, so zu funktionieren, wie ich das wollte. Glücklicherweise sah mein amerikanischer Verlag Tachyon das Potential darin und verstand, was ich tun wollte, weshalb man in der Lage war, mir äußerst konkretes editorisches Feedback zu geben, das unbezahlbar war. Größtenteils langweiliges technisches Zeug – die Reihenfolge der Geschichten wurde etwas verändert, eine Story wurde komplett rausgeworfen, eine andere halbiert, das Glattbügeln von Verknüpfungen, und hier und da musste etwas gestrichen oder hinzugefügt werden … am Ende ist es zu 95% dasselbe Material, nur besser, wie ich denke. Ich bin sehr glücklich mit dem finalen Buch.

Würdest du sagen, dass es in „Central Station“ vor allem darum geht, was es bedeutet, in der Zukunft ein Mensch zu sein?

An der Science-Fiction mag ich tatsächlich am meisten, dass ich über Dinge jenseits der Menschheit sprechen kann – über diesen gewaltigen und mysteriösen Teil des riesigen Universums, in dem wir leben und von dem wir die meiste Zeit irgendwie so tun, als sei es nicht da! Also ja, „Central Station“ dreht sich um das Menschsein, aber auch darum, zu sagen, dass die Menschheit nicht das Ein und Alles der Schöpfung ist. Mir kommt es manchmal so vor, als würden wir auf dem Planet der Ameisen leben, weißt du? Es gibt mehr Ameisen als Menschen auf der Erde … aber ich verrenne mich hier womöglich gerade ein bisschen! Was ich mit dem Buch wirklich wollte, war, all die strahlenden Tropen des Goldenen Zeitalters der Science-Fiction zu nehmen, sie in den Hintergrund zu packen, sie fast ganz zu ignorieren und dafür über normale Menschen mit normalen Leben schreiben.

Ich finde es spannend, dass du im Buch von digitaler anstatt künstlicher Intelligenz sprichst. Glaubst du wirklich an die digitale Evolution von Bewusstsein?

Nun, es ist ein Strang der Forschung, der ein paar interessante Ergebnisse hervorgebracht hat. Mir missfällt definitiv der Begriff künstliche Intelligenz, obwohl ich denke, dass die Leute, die ihn verwenden, eigentlich so etwas wie ein Expertensystem meinen, das gut darin ist, bestimmte Probleme zu lösen, das jedoch kein Bewusstsein hat und sich auch nicht seiner Selbst bewusst ist. Meine Herangehensweise ist, dass jede Art von digitaler Intelligenz wahrscheinlich eine nichtmenschliche Intelligenz oder eine Alien-Intelligenz ist – dass sie nicht zwingenderweise besonders menschlich sein würde (was den Turing-Test irgendwie eher nutzlos macht in solch einem Fall).


US-Cover A

Realität und Virtualität sind in deiner Zukunftsvision verschmolzen. Wie stehst du zu den Technologien und den virtuellen Realitäten, die wir heute bereits in unserem Alltag haben und nutzen?

Ich bin mehr oder weniger mit dem Internet erwachsen geworden, weshalb es echt nett ist, dass es letztendlich so lange gewartet hat damit, das zu werden, was ich mir immer vorgestellt habe, dass es sein sollte. Meiner Meinung nach ist die Technologie nicht so problematisch wie das, was wir mit der Technologie tun – ich sehe es besonders bei Tech-Evangelisten, die zu denken scheinen, das alles ‚revolutionär’ ist und sich nicht vorstellen können, jemals von ihren Telefonen getrennt zu sein. Die echte Technologie – die wichtige Technologie, die wir in der Tat haben – ist häusliche Tech, wie Kühlschränke und Waschmaschinen. Glaub mir, ich habe ein Jahr lang auf einer abgelegenen Insel im Südpazifik ohne Elektrizität und dergleichen gelebt, und in so einer Situation willst du nicht unbedingt ein Telefon – du willst Nahrung, die nicht schlecht wird, und Klamotten, die du nicht in einem Fluss waschen und gegen einen Felsen schlagen musst. Ich mag also sehr, was wir haben, doch ich bin mir auch der Gefahren bewusst. Aber das ist eigentlich bei jeder Technologie der Fall.

In „Central Station“ sind auch Flüchtlinge ein Thema – waren es genau genommen bereits vor der großen Flüchtlingskrise in unserem Teil der Welt …

Alles in „Central Station“ ist aus der Gegenwart von Central Station gespeist, einem ganz realen Ort im Süden von Tel Aviv, wo es schon jetzt Flüchtlinge gibt – größtenteils aus dem Sudan, so weit ich weiß. Die Flüchtlingskrise resultiert aus dem Problem, dass wir sehr reiche und sehr arme Länder haben, wobei die sehr reichen Länder in weiten Teilen dafür verantwortlich sind, dass es so ist, und das führt zu der Situation, die wir jetzt haben. Meine Mutter wurde nach dem Krieg in einem deutschen Flüchtlingslager geboren. Ich fürchte also, dass meine Sympathie immer den Flüchtlingen gehören wird …

„Central Station“ gehört zu deinem „Continuity“-Universum, einer Future History. Wessen klassische Future Histories haben dich beeinflusst?

Der bereits erwähnte Cordwainer Smith ist der offenkundigste Einfluss: sein Stil und einfach die Art, wie er eine Zukunft als vergangene Mythologie einer noch viel weiter entfernten Zukunft erschaffen hat. Dazu kommt eben alles aus Simaks „Als es noch Menschen gab“, oder Larry Nivens Known Space-Geschichten und solche Sachen. Wenn möglich, versuchte ich, in meinem Buch hier und da ein Augenzwinkern oder eine Referenz an diesen Stoff anzubringen. In „Central Station“ steckt auch viel von Philip K. Dick (im Shop), und ich nicke Arthur C. Clarke (im Shop) zu – und widerspreche ihm, würde ich sagen! Und so weiter. Es ist schon ein bisschen Meta-Fiction, wie meine anderen Bücher „Osama“ oder „A Man Lies Dreaming“, die sich allerdings stark von „Central Station“ unterscheiden. Das ist schon mehr ein Liebesbrief an ältere, obskurere Sachen – C. L. Moore, Smith, Simaks merkwürdigere Bücher, all so was.

Ist die Kurzgeschichte geeigneter als der Roman, um die Ideen der Zukunft zu erforschen?

Ich weiß es nicht. Ich mag Kurzgeschichten echt gerne und schreibe sehr viele – in vielerlei Hinsicht ist es eher meine natürliche Distanz beim Schrieben –, jedoch bin ich kein großer Fan der klassischen Geschichte um eine einzige Idee, die in der Science-Fiction so beliebt ist. Ich bevorzuge es, eine einen ganzen Haufen Ideen als Hintergrund zu verwenden und dann außer acht zu lassen, wie gesagt. Beide Arten Story funktionieren auf verschiedene Weise, aber ja, Science-Fiction wurde traditionell von Kurzgeschichten angeführt, und wird es auch immer noch weitgehend. Wenn du die interessanteren Sachen mitkriegen willst, musst du noch immer eher in die Magazine als in die Bücher schauen, da die Verlage hinter letzteren nicht so risikofreudig sein können … mit Kurzgeschichten kann man mehr riskieren.


US-Cover B

Man sagt gern, der Ideenliteratur ist der Stil nicht so wichtig – aber du achtest sehr auf die Schönheit deiner Prosa, oder?

Nett von dir, das zu sagen! Stil ist mir wichtig – ich fing sogar als Dichter an (mein erstes Buch war eine Sammlung hebräischer Poesie!) und ich konnte das „Ideenliteratur“-Ding nie besonders gut leiden. Die Autoren, die ich mag, zum Beispiel Zelazny (im Shop), haben sich immer Gedanken über das Schreiben selbst gemacht. Mir wird leicht langweilig, deshalb gefällt es mir, beim Schreiben den Stil zu variieren und zwischen zwei Büchern neue Dinge auszuprobieren und zu hoffen, dass sie klappen…

Science-Fiction und entsprechende Adaptionen im TV sind derzeit schwer gefragt. Wann wird „Central Station“ eine Netflix-Serie zwischen „Babylon 5“ und „Black Mirror?“

Nicht so bald, fürchte ich. Ein anderes meiner Bücher wird aktuell fürs Fernsehen entwickelt, aber ich weiß nicht, ob ich sagen darf, welches! Ich mag auch die Idee einer Adaption von „Central Station“, aber ich kann schon jetzt sehen, dass das kein einfaches Unterfangen wäre.

Donald Trump hat den Konflikt in Israel und Jerusalem Ende 2017 befeuert, nachdem er zuvor bereits zum nuklearen Säbelrasseln mit Kim Jong angetreten ist. Wie schreibt man SF über die Zukunft, wenn die Gegenwart so apokalyptisch aussieht? Oder anders gefragt: Beeinflusst Donald Trump die gegenwärtige Science-Fiction, und versaut er einem die Beschäftigung mit dem Morgen?

Ich würde sagen, über die nächsten 50 Jahre zu schreiben ist hart – gebt mir 200 bis 300 Jahre, und wir können drüber reden! Nach Trumps Wahl habe ich die witzige Story „The Simulcara“ geschrieben, die man auf meinem Blog findet, eine Alternativweltgeschichte über Trump, der zum Präsidenten gewählt wird … allerdings bereits in den 1980ern. Die Dinge stehen bekanntlich immer zum Schlechten. Es ist ja nicht so, als wären die 40er oder die 50er oder selbst die 80er rosig gewesen, unabhängig vom plötzlichen Nostalgie-Boom für dieses Jahrzehnt. Und mich kümmert die Apokalypse nicht. Hauptsächlich deshalb, weil sich die Ameisen in meinen Augen nicht drum scheren, ob wir hier sind, oder verschwunden! Auf gewisse Weise war „Central Station“ ein Glücksfall für mich – ich neige wirklich dazu, mehr über die Vergangenheit zu schreiben, historische oder alternativ-historische Romane. Meine Science-Fiction findet sich mehr in Kurzgeschichtenform. Mein nächstes auf Deutsch erscheinendes Buch ist lustigerweise wieder komplett anders … aber erneut weiß ich nicht, ob ich jetzt schon verraten darf, um welches es sich handelt! So oder so werde ich bald wieder mehr Science-Fiction schreiben. Es gibt da ein paar neue Dinge, die ich momentan echt aufregend finde und die noch nicht wirklich erforscht wurden. Solange ich neue Ideen finde und neue Wege, über die Welt nachzudenken und zu schreiben, werde ich weitermachen!

Das freut uns. Danke für das Gespräch, Lavie!

Lavie Tidhar: Central Station • Aus dem Englischen von Friedrich Mader • Heyne, München 2018 • 352 Seiten • E-Book: 8,99 Euro (im Shop)

Autorenfoto von Kevin Nixon © Future Publishing 2013

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