13. März 2017 1 Likes

Schöne alte Welt

Warum ist die Vergangenheit gerade eigentlich wieder so beliebt?

Lesezeit: 4 min.

Ich fahre einen Toyota Aygo. Das vorweg – und damit keine Missverständnisse aufkommen.

Bekanntlich prahle ich gerne damit, dass ich meine Grundschulzeit weniger in der Schule als vielmehr im Krankenbett verbracht habe. Ich war eben ein anfälliges Kind, da halfen weder Höhensonne noch Lebertran, und der leiseste Luftzug warf mich aus der Kurve: Husten, Schnupfen, Heiserkeit die Folge. Da musste man das Bett hüten, Hühnersuppe löffeln und fernsehen.

Im Fernseher lief (wir befinden uns in der Frühphase der 1960er Jahre) am Vormittag das mysteriöse Testbild, das aussah wie eine technische Landkarte der Zukunft, und dazu das Radioprogramm des Westdeutschen Rundfunks. Bewegte Bilder gab es erst ab Nachmittag, meist Übertragungen aus dem Bundestag; alle zwei Tage Kinderprogramm (Lassie, Flipper, Fury).

Manchmal besuchten mich mein Vater oder meine Mutter im Krankenzimmer, brachten mir frische Bücher oder das Tonbandgerät, und ich hörte in (heute würde man sagen) Endlosschleife die magnetophonisch archivierten Schlager der 1950er und 1960er Jahre.

Und was für Schlager!

Dalida (eine in Kairo geborene französische Sängerin italienischer Abstammung) erzählte vom „Tag, als der Regen kam“ mit einer Stimme wie die Prophetinnen des Alten Testaments; Vico Torriani erklärte „Kalkutta liegt am Ganges, Paris liegt an der Seine, am schönen Rhein liegt Basel, und Kairo liegt am Nil, doch ich träum von Madeleine, an der liegt mir viel“ – da war jeder weitere Erdkundeunterricht überflüssig (schon klar, die indische Stadt Kalkutta liegt genau genommen am Hugli). Trude Herr wollte keine Schokolade; Nana Mouskouri schaute den weißen Wolken nach; Franz Eugen Nidl alias Freddy Quinn schluchzte „Junge, komm bald wieder“; und der große René Carol (eigentlich Gerhard Tschierschnitz) schmetterte anno 1960: „Kein Ziel kann weiter sein, / kein Weg kann schwerer sein, / als es die Heimkehr ist / in die Vergangenheit. / Und in den Wäldern, / da hört man’s raunen: / Bald kommt sie wieder, / die alte Zeit.“

Huch, dachte man: Treiben sich in den besungenen Wäldern etwa noch die Werwölfe herum, diese Bande nationalsozialistische Freischärler, die Heinrich Himmler im Jahr 1944 ins Leben gerufen hatte, ohne dass sie unter seinen Volksgenossen je besonders populär geworden wäre?

War auch nicht mein Lieblingslied. Lieber war mir, wenn Mina sang: „Heißer Sand und ein verlorenes Land“; und ganz aus dem Häuschen konnte ich geraten, wenn das Hazy-Osterwald-Sextett seinen Kriminal-Tango auf’s Parkett legte oder, besser noch, den Konjunktur-Cha-Cha „Geh‘n Sie mit der Konjunktur“, der in der leider zeitlosen Erkenntnis gipfelte: „Geld, das ist auf dieser Welt / der einzige Kitt der hält, / wenn man davon genügend hat.“

Habe ich Mina schon erwähnt? Ach, Mina kann man gar nicht oft genug erwähnen: „Schwarzer Tino, deine Lina war dem Rocco schon im Wort, weil den Rocco sie nun fanden, schwarzer Tino, musst du fort.“ (Und jetzt alle!) „Heißer Sand und ein verlorenes Land und ein Leben in Gefahr; heißer Sand und die Erinnerung daran, dass es einmal schöner war.“

In der Science-Fiction ist es ein durchaus vertrauter Gedanke, dass Zeitmaschinen automobil sind, ja Automobilen auffallend ähneln. Das trifft nicht nur auf die erste Zeitmaschine zu, den Zeitreiseschlitten von H. G. Wells, auch Dr. Emmett Brown und Marty McFly zeitreisen mit einem Auto, einem DeLorean DMC-12; Rock Fertig-Aus und die Crew des (T)Raumschiffs Surprise und der sinistere Sohn des sinistren Regulators dito (naja, letzterer immerhin mit einem Zeitreise-Mofa). Ich selbst fahre einen Toyota Aygo, einen Kleinwagen, der zwar über diverse Extras verfügt – Radio, Außenspiegel, Bremse –, nicht aber über einen Fluxkompensator.

Aber ich konnte den Wagen nachrüsten – mit einem einfachen Trick, den ich hier gerne verrate: Ich habe mir eine CD gekauft voller Schlager der 1960er Jahre. Nostalgie? Keineswegs. Mein Musikgeschmack ist schlicht, aber gegenwärtig. Ich höre deutsches Gute-Laune-Liedgut (Adam Angst, AnnenMayKantereit, Broilers, Donots, Tote Hosen, Ärzte oder Farin Urlaub und sein Racing Team) mit ebenso geneigtem Ohr wie international gefeierte Stars (Elbow, Frank Turner, Skinny Lister, Talco oder NOFX), mag der Sand noch so heiß und mögen die Beine von Madeleine noch so weltumspannend sein.

Die Schlager der frühen Jahre sind freilich derart eng mit meinem mnemoneuronalen Gewebe verknüpft, dass ich mich mental zurückversetzt finde in die Ludwig-Erhard-Meister Proper-TRITOP-Fix-und-Foxi-Höhensonnenwelt – und von dort aus in die Zukunft des Jahres 2017 schauen kann (die sich soeben vor der Windschutzscheibe ausbreitet): eine Welt fast ohne Spielwarenläden, stattdessen Sanitätshäuser mit schnittigen Rollatoren und Velopeden in der Auslage; ganze Straßenzüge ohne Lebensmittelgeschäft, Schuster, Schneider; in den Buchläden wenig Weltraumopern und Zukunftsromane, stattdessen: Trilogien, Septologien, Oktologien von Tausend-Seiten-Schmökern über eine Vergangenheit, die es nie gegeben hat, in der es von Trollen wimmelt, Elfen, Orks und Drachen, von schwert- und hammerschwingenden, zauberstabwedelnden Gesellen.

Ist die Welt alt geworden? Wo sind die jungen John F. Kennedys geblieben, die Commander McLanes, die Emma Peels in Schlangenlederjacke und Lederkorsage? Stattdessen: griesgrämige Greise, die das Geschick von Supermächten leiten und ihren Wählern die Rückkehr zu Kohle, die Rückkehr zu Stahl und Eisen, die Rückkehr zu alter Größe versprechen, wozu auch immer: Hauptsache Rückkehr.

Wie sang der große René Carol: „Und in den Wäldern, / da hört man’s raunen: / Bald kommt sie wieder, / die alte Zeit.“ Was, mit Verlaub, aber auch nur Carol und vergleichbare Klein- und Waldgeister glauben mögen. Der Rückblick in die Vergangenheit taugt allenfalls dazu, zu entdecken, was aus der Zukunft geworden ist. Im wirklichen Leben dagegen gibt es keine Rückfahrtscheine.

Auf geht’s, überlassen wir das jugendfrische Jahr 2017 nicht den Tattergeistern!

Hartmut Kasper ist promovierter Germanist, proliferanter Fantast und seines Zeichens profilierter Kolumnist. Alle Kolumnen von Hartmut Kasper finden Sie hier.

 

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