26. Oktober 2015 3 Likes 2

Das Beste vom Besten

Wenn man die Science-Fiction neu einteilt, ergeben sich auch ganz neue Leseempfehlungen

Lesezeit: 4 min.

Es gibt viele Bestenlisten in der Science-Fiction, und der Fan kann unzählige vergnügliche Stunden damit verbringen, über die jeweiligen Vorzüge der verschiedenen Bücher und Geschichten zu diskutieren. Allerdings führt es in die Irre, den Begriff „Science-Fiction“ wörtlich zu nehmen. Schließlich ist „die Wissenschaft“ keine alleinstehende, kohärente Disziplin; sie besteht aus vielen unterschiedlichen Bereichen, und jede Fiktion, die sich mit einem dieser Bereiche beschäftigt, kann als Science-Fiction gelten. Daher schlage ich vor, dass wir uns an Richard Feynmans Aufzählung der unterschiedlichen Wissenschaftssparten orientieren.

Laut Feynman gibt es : 1. Die Wissenschaft von Erde und Weltall (zum Beispiel Astronomie und Geowissenschaft), 2. Sozialwissenschaften (Soziologie, Jura, Ethik, die Wirtschaftswissenschaft und die Psychologie), 3. Lebenswissenschaften (die herkömmliche Biologie, die Zellbiologie, die Biochemie und die Evolutionstheorie), 4. Physikalische Wissenschaften (Chemie und Physik) und 5. Die formale Wissenschaft (Mathematik und Logik). Wenn wir nun den eher unspezifischen Begriff „Wissenschaft“ durch diese präziseren Einteilungen ersetzen, können wir neue Bestenlisten aufstellen. Im Folgenden meine Vorschläge – aber Ihnen fallen sicher noch bessere ein …

Astronomie-Fiktion: Selbstverständlich wimmelt es in der Sciene-Fiction nur so von Vertretern dieses Genres. Mein persönlicher Liebling ist Olaf Stapledons grandioses Epos Der Sternenschöpfer von 1937, ein Buch von wahrhaft galaktischen Dimensionen, voller genialer, zum Nachdenken anregender Einfälle (etwa mit Bewusstsein ausgestattete Sterne).

Geowissenschafts-Fiktion: Obwohl die Wissenschaft darin nicht den Ansprüchen des 21. Jahrhunderts genügt, reicht meiner Meinung nach nichts an Jules Vernes bahnbrechendes Werk Reise zum Mittelpunkt der Erde (1864) heran. In diesem Roman ist der ganze Globus Schauplatz spannender Abenteuer.

Soziologie-Fiktion: Hier ist Ursula K. Le Guin sicher die wichtigste Vertreterin. Der Höhepunkt ihres Schaffens ist ihr Roman über eine Gesellschaft, in der das soziale Geschlecht und die damit einhergehende Geschlechterrollen und -annahmen flexibel sind: Die linke Hand der Dunkelheit (1968, im Shop).

Wirtschafts-Fiktion: Francis Spuffords Rote Zukunft (2010) beschreibt anschaulich eine Alternativwirtschaft, die den Kommunismus womöglich vor dem Untergang gerettet hätte. Diese Alternative wurde tatsächlich von sowjetischen Wirtschaftswissenschaftlern vorgeschlagen, konnte in der Praxis aber nie erprobt werden.

Psychologie-Fiktion: Im Grunde sind ja alle Romane mehr oder weniger „Psychologie-Fiktion“. Auch in der Science-Fiction gibt es Schriftsteller, die psychologische Probleme einfühlsam und tiefgründig erforscht haben. Meine Wahl fällt auf den Urtext des Genres, Mary Shelleys Frankenstein (1818). In den Kapiteln, in denen das Monster von seiner Geburt erzählt, wie es sein Bewusstsein erlangte und die Auswirkungen, die eine feindselige Umwelt auf seine psychologische Entwicklung hatten, sind auch heute noch eine kraftvolle Aussage über die Beziehung zwischen individuellem Innenleben und Außenwelt.

Biologie-Fiktion: Octavia Butlers Xenogenesis-Trilogie (1987-89, im Shop) behandelt Fragen der biologischen Diversität und Hybridität mit seltener Raffinesse und Tiefe. Die Geschichte der außerirdischen Oankali und ihrer menschlichen Gefangenen – oder Gäste –, die sich miteinander paaren und kreuzen, gehört zweifellos zu den Meisterwerken der Science-Fiction der Achtzigerjahre.

Evolutions-Fiktion: Stephen Baxter hat wie keiner seiner Zeitgenossen das große Ganze im Blick: Er schreibt über gewaltige Entfernungen und noch größere Zeiträume. Die Evolution ist sein Thema, und am deutlichsten wird das meiner Meinung nach in einer Novelle namens Mayflower II (2004). Auf achtzig Seiten wird anhand eines Generationenraumschiffs dargestellt, wie die Evolution tatsächlich funktioniert und dass sie weder Ziel noch Richtung kennt.

Chemie-Fiktion: Ich habe mir den Kopf darüber zerbrochen, ob es einen Science-Fiction-Roman gibt, der detailliert chemische Prozesse beschreibt. Mir fällt keiner ein! Natürlich gibt es in vielen Werken neue Drogen und Wundersubstanzen, der dazugehörige chemische Hintergrund dagegen wird so gut wie nie beschrieben, und schon gar nicht wird über die Chemie als solche spekuliert oder extrapoliert. Isaac Asimovs Experiment mit dem Tod (1958) ist ein hervorragender Kriminalroman, der in einem Chemielabor spielt und in dem die Chemie auch tatsächlich der Schlüssel zur Lösung des Falles ist. Nach langem Nachdenken bin ich zu dem Schluss gekommen, Paul McAuleys Stiller Krieg-Zyklus (im Shop) um eine Gruppe von Wissenschaftlern, die die Biochemie auf raffinierte Art und Weise verändern, als die beste Chemie-Fiktion zu bezeichnen ist, insbesondere der zweite Roman der Serie, Sonnenfall. McAuley war früher Professor für Biochemie, und obwohl seine Beschreibungen chemischer Prozesse manchmal zu wünschen übrig lassen, ist doch unübersehbar, wie sehr diese Disziplin seine Arbeit beeinflusst.

Physik-Fiktion: Da gibt es schon mehr Auswahl! Viele große Werke der Science-Fiction beschäftigen sich mit Physik, aber nur wenige radikaler und tiefgreifender als Greg Egans Orthogonal-Trilogie (The Clockwork Rocket, 2011; The Eternal Flame, 2012; The Arrows of Time, 2013), in denen mit bewundernswertem Ehrgeiz und wie beiläufiger Sachkompetenz eine Welt erdacht wird, in der sich die Naturgesetze fundamental von denen unseres Universums unterscheiden.

Mathematik-Fiktion: Edwin Abbott, englischer Theologe und Lehrer, schrieb Flächenland 1884 zur Verdeutlichung mathematischer Konzepte. Dabei handelt es sich um eine eloquente Fabel in einem schlüssigen Alternativuniversum – einer zweidimensionalen Welt, die von zweidimensionalen Figuren bevölkert wird. Frauen sind einfache Linien, Männer Vielecke unterschiedlicher Komplexität (so etwa der Erzähler, ein gewisser A. Square; der soziale Status ist abhängig von der Anzahl der Seiten, die ein Polygon besitzt). Keine Ahnung, weshalb nur so wenige bisher in Abbotts Fußstapfen gewandelt sind.

Logik-Fiktion: Hier muss ich leider passen. Mir fällt keine spekulative Fiktion ein, die sich mit Logik oder den Möglichkeiten alternativer logischer Systeme befasst. Es ist ja auch kompliziert. Stellen Sie sich einen Roman vor, der in einem Universum spielt, in dem die Regel des ausgeschlossenen Widerspruchs keine Gültigkeit besitzt oder die den Prinzipien der klassischen Logik wie etwa Folgerichtigkeit, Stichhaltigkeit und Vollständigkeit zuwiderläuft? Irre, oder? Nun, vielleicht sollte ich mich hinsetzen und genau so etwas schreiben …
 

Adam Roberts ist eine der vielversprechendsten Stimmen in der neueren britischen Science-Fiction. Geboren 1965, studierte er Englische Literatur in Aberdeen und Cambridge und arbeitet derzeit als Dozent an der University of London. Alle Kolumnen von Adam Roberts finden Sie hier.

Kommentare

Bild des Benutzers Klaudia Seibel

Danke für die Zusammenstellung.
Wie wäre es mit "Alice im Wunderland" als Logik-Fiktion?

Bild des Benutzers Johann Seidl

Ein anregender Gedanke! Danke für die Lesetipps.

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