5. Juni 2017 1 Likes

Die Science-Fiction – ein Sonnenmythos

Es gibt tatsächlich eine Theorie, die alles erklärt

Lesezeit: 4 min.

Der Mythenforscher und Ethnograph Max Müller, im neunzehnten Jahrhundert eine äußerst einflussreiche Persönlichkeit, wird heute mit Verachtung gestraft, ja wenn nicht gar der Lächerlichkeit preisgegeben. Dem Zeitgeist scheint seine allumfassende Theorie suspekt, die (in aller Kürze) darin besteht, dass alle Mythen, egal woher sie stammen, auf eine einzige primitive Theologie zurückzuführen sind. Sie erzählen mehr oder weniger immer dieselbe Geschichte: Eine Sonnengottheit bekämpft die Mächte der Finsternis. An dieser Theorie könnte durchaus etwas dran sein, obwohl es auf den ersten Blick ziemlich unwahrscheinlich erscheint, alles damit erklären zu können. Es ist eine Sache, zu postulieren, dass Odin nur ein Auge hat, weil er eine Version der Sonnengottheit ist (schließlich gibt es nur eine Sonne am Himmel); andererseits ist es wohl etwas weit hergeholt, alle Elemente der nordischen Mythologie auf einen einzigen Sonnenmythos zu gründen: Thor repräsentiert die Gewitterwolken, Heimdals Reich ist der Regenbogen, und so ziemlich alle nordischen Götter sind Verkörperungen der Sonne und des Tages, die die Nacht und die Kälte in Form von Frostriesen und der Götterdämmerung bekämpfen. Wenn man sich auf diese Hypothese einlässt, kann man über kurz oder lang jeden Mythos, jede Legende und jeden kulturellen Text damit erklären – also eine reine Allerweltstheorie von einem Mann mit Allerweltsnamen?

Nehmen wir beispielsweise Müllers Homer-Interpretation, die jeden Aspekt der „Illias“ und der „Odyssee“ in Bezug zum Sonnenmythos setzt: Die zwölf olympischen Götter oder die Tatsache, dass die beiden Epen aus jeweils vierundzwanzig Büchern bestehen, sind ein Verweis auf die zwölf Monate. Der Zyklop (einäugig wie Odin) ist eine Manifestation des Sonnengottes. Genau wie Apollon und Hera. Und zu Helios, dessen Name (zugegebenermaßen) „Sonne“ bedeutet, schreibt Müller:

Bei Homer hat Helios sieben Rinderherden zu jeweils fünfzig Tieren. Diese Zahl bleibt stets unverändert. Die Entsprechung der 350 Rinder zu den 350 Tagen des primitiven Kalenders liegt auf der Hand. Wenn Homer schreibt, dass Odysseus’ törichte Gefährten nicht nach Hause zurückkehren konnten, weil sie die Rinder des Helios schlachteten, bedeutet dies, dass Odysseus durch unermüdliche Anstrengungen sein Heim erreichte, seine Gefährten jedoch ihre Zeit verschwendeten – sie sozusagen totschlugen wie die Rinder des Helios – und dafür bestraft wurden.

Und so weiter. Das Tolle daran ist, dass diese Theorie auf jeden Mythos angewendet werden kann, unter anderem auch auf den ständig wachsenden Korpus der zeitgenössischen Mythologie, den wir „Science-Fiction“ oder „Fantasy“ nennen. Nehmen wir beispielsweise die „Harry-Potter“-Bücher. Dass sie auf Müllers Solarmythologie basieren, ist sonnenklar. Immerhin besteht die Reihe aus sieben Bänden (der Anzahl der Wochentage); Harry selbst hat eine blitzförmige Narbe auf der Stirn, die ihn (wie Thor oder Zeus) mit Gewitterwolken und dem Himmel im Allgemeinen gleichsetzt – ein Detail, das Rowling dadurch bekräftigt, indem sie ihn auf einem Besenstiel durch die Lüfte fliegen lässt. Das Symbol der Heiligtümer des Todes stellt die Sonne dar; der einäugige Alastor Moody ist (genau wie Odin oder der Zyklop) eine Sonnengottheit; die Handlung selbst dreht sich um den Kampf zwischen den Mächten des Himmels und der Sonne – Dumbledore zum Beispiel ist ein altes englisches Wort für eine fröhlich im Sonnenschein herumschwirrende Biene – und den Kräften des Todes, der Finsternis und der Nacht.

Die Science-Fiction folgt ausnahmslos einem ähnlichen Muster. In Terminator muss sich der Sonnengott John Connor – aus den in einer dystopischen Zukunft angesiedelten Teilen des Films erfahren wir, dass er genau wie Odin nur ein Auge besitzt – den finsteren Maschinen stellen, die die Welt in eine endlose Nacht gestürzt haben; dass der Terminator von einem Schauspieler verkörpert wird, in dessen Nachnamen das Wort „Schwarz“ enthalten ist, kann kein Zufall sein. In Avatar führt der körperlich beeinträchtigte Held Jake Sully (ein Name, dessen etymologische Wurzeln zweifellos auf sol, also die Sonne, zurückzuführen sind) die himmelblauen Na‘vi in die Schlacht gegen die Mächte des Bösen. In 2001: Odyssee im Weltraum besteigt der Astronaut David Bowman („bow“ = „Bogen“, wie in Regenbogen) einen kugelrunden, sonnenförmigen Himmelswagen namens Discovery, um den schwarzen, rechteckigen „Monolithen“ zu bezwingen. Dies geschieht, indem er eine solare Wiedergeburt erfährt.

Ich könnte so ewig weitermachen, wenn ich den Platz dafür hätte. Eine Theorie, die alles erklärt. Und wir können sogar noch einen Schritt weitergehen und behaupten, dass Müller selbst ein Mythos für den großen Sonnenkampf ist. Der Name „Müller“ erinnert an das große, einzelne Auge im Zentrum der Flügel einer Windmühle, die Drehung der Mühlsteine nimmt direkt Bezug auf den Kreislauf  der Tage und Jahreszeiten. Auch sein Vorname Max verweist auf den römischen Namen Maximus, der ja nichts anderes als Sol Maximus, den großen Sonnengott, bezeichnet. In seinem Namen werden wir alle alternativen Interpretationsansätze zerschmettern. Sollen sie im Licht seines einzelnen, strahlenden Auges zu Asche verbrennen.

Übrigens trug Müller ein Monokel. Das ist ja wohl Beweis genug.
 

Adam Roberts ist eine der talentiertesten Stimmen in der neueren britischen Science-Fiction. Geboren 1965, studierte er Englische Literatur in Aberdeen und Cambridge und arbeitet derzeit als Dozent an der University of London. Alle Kolumnen von Adam Roberts finden Sie hier.

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