18. April 2016 1 Likes

Einfach unglaublich!

Jules Vernes „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ – Die Fortsetzung

Lesezeit: 4 min.

Professor Lidenbrock und sein Neffe Axel verbrachten vierzig Jahre erfolglos damit, ihre Reise ins Erdinnere zu wiederholen. Der Eintrittspunkt am Snæfellsjökull ist aufgrund vulkanischer Aktivitäten versperrt, und keiner der anderen möglichen Zugänge erwies sich als praktikabel. Für eine gewisse Zeit konnten sie ihre Expeditionen durch die Tantiemen finanzieren, die sie von einem berühmten französischen Schriftsteller im Gegenzug für die Erlaubnis erhielten, ihre Geschichte zu erzählen; leider ist diese Geldquelle inzwischen versiegt. Schlimmer noch: Laut neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen – darunter nicht zuletzt Lidenbrocks eigene Forschungen – ist die Existenz unterirdischer Höhlen, Ozeane und Lebensformen, wie sie ihnen auf der ersten Expedition begegneten, so gut wie ausgeschlossen: Das Erdinnere besteht ab einer bestimmten Tiefe ausschließlich aus flüssigem Gestein. Lidenbrock resigniert, zieht sich zurück und zweifelt an seinem Verstand. Doch dann taucht im Sommer 1913 ein gewisser Dipl. Arnold Saknuss bei Professor Lidenbrock in Hamburg auf. Er überzeugt den alten Wissenschaftler davon, dass die Expedition wirklich stattgefunden hat und er wirklich den Dinosauriern begegnet ist – doch seine Erklärung für ihre Existenz ist weitaus merkwürdiger, als Lidenbrock es sich hätte träumen lassen.

„Die Mächte“, sagte Mr. Saknuss, „die auf den Mittelpunkt der Erde einwirken, sind enorm. Hier konzentrieren sich Schwerkraft, Druck, Strahlung und Magnetismus an einem Punkt. Eine solche Kraft kann Risse in der Struktur der Realität selbst hinterlassen. Und ich halte es durchaus für wahrscheinlich, dass so etwas vor einem halben Jahrhundert geschehen ist.“

„Erstaunlich“, keuchte Lidenbrock. „Und wie macht sich so ein Riss bemerkbar?“

„Wir dürfen nicht vergessen“, fuhr Saknuss fort, „dass sich die Erde in ständiger Rotation befindet. Dies erzeugt unter jenen vier großen Kräften gewaltige Scherbewegungen, die direkt auf einen einzigen Punkt einwirken. Höchstwahrscheinlich gab es schon früher solche Risse, die sich jedoch von selbst schlossen. Aber dieses Mal ist der Schaden weitaus größer. Worauf Sie und Ihre Gefährten bei Ihrer unterirdischen Reise gestoßen sind, scheint mir eine Blase gewesen zu sein, die aus dem Riss hervorstieg.“

„Unglaublich!“

„Stellen Sie sich das wie eine Glückshaube vor, die man gelegentlich auf den Köpfen Neugeborener findet“, sagte Saknuss. „Diese Glückshaube verlässt also sozusagen ihren spatiotemporalen Geburtskanal. Dabei führt sie eine Trillion Tonnen Salzwasser mit sich. Von den Ungeheuern, die darin leben, ganz zu schweigen.“

„Und diese Blase hat sich nun wieder in den Riss zurückgezogen?“

„Das weiß niemand“, knurrte Saknuss und klatschte frustriert die Hände auf die Brust. „Ich bezweifle es, aber ich bin mir nicht sicher. Vermutlich haben die enorme Hitze und der Druck, der im Inneren der Erde herrscht, die Blase zerstört, den Ozean darin verdampfen lassen und alle Lebensformen vernichtet.“

„Aber“, fiel ihm Axel ins Wort, „wenn eine Trillion Tonnen heißer Dampf in den unteren Felsschichten des Erdmantels …“

„Genau!“, rief Saknuss und sprang erregt auf. „Genau! Bisher konnte niemand den Ausbruch des Krakatau von 1883 erklären! Die größte Naturkatastrophe, die die Menschheit seit Pompeji heimgesucht hat, und niemand hat eine Erklärung dafür. Nicht einmal die jüngst entstandenen Disziplinen der Vulkanologie und Geologie haben Antworten darauf. Aber ich: Das Platzen dieser gewaltigen Blase, das vermutlich in den ersten Monaten des Jahres 1883 stattfand, setzte ihren Inhalt aus urzeitlichem Wasser, das von jenseits des Mittelpunkts der Erde stammt – also jenseits des Ortes, den Sie und Ihre Gefährten bereisten – frei. Das Wasser verdampfte, und als Folge davon wurden Trillionen Tonnen heißer Dampf in die Gesteinsschichten gepumpt, die sich daraufhin ausdehnten und spannten. Krakatau war nur eine der Folgen.“

„Es gab noch mehr?“

„Im chinesischen Kaiserreich trat 1887 der Gelbe Fluss über seine Ufer und ertränkte eine Million Seelen. Niemand weiß, woher die Wassermassen stammten, nur ich! Ich allein kenne seinen Ursprung – das Wasser stieg auf und brach durch die porösen Gesteinsschichten der Hochebenen südöstlich des Himalaya …“

Daraufhin schwiegen sie. „Unglaublich“, flüsterte Lidenbrock.

„Aber das wirklich Unglaubliche ist die Tatsache“, sagte Saknuss, „dass es wieder geschehen wird. Ich habe Grund zu der Annahme, dass sich der Riss ein zweites Mal geöffnet und eine viel größere Blase hervorgebracht hat. Diese Blase bahnt sich nun ihren Weg vom Mittelpunkt der Erde zur Oberfläche. Noch weiß ich nicht, was sie beinhaltet. Wir müssen es herausfinden! Das Schicksal der Welt hängt davon ab. Wir müssen herausfinden, was sie enthält – nein, mehr noch, wir müssen über den Mittelpunkt der Erde hinaus zum Ursprung dieses fremdartigen Materials vorstoßen. Andernfalls gibt es keine Welt mehr, die wir unseren Kindern hinterlassen könnten!“

„Bei allen Heiligen!“, rief Lidenbrock und sprang auf, sein Alter und die damit einhergehende Gebrechlichkeit vergessend. „Schreiten wir zur Tat!“

Und das taten sie.
 

Adam Roberts ist eine der talentiertesten Stimmen in der neueren britischen Science-Fiction. Geboren 1965, studierte er Englische Literatur in Aberdeen und Cambridge und arbeitet derzeit als Dozent an der University of London. Alle Kolumnen von Adam Roberts finden Sie hier.

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