22. Februar 2016 3 Likes

Algorithm & Blues

So klingt die Datendiktatur im Yottabyte-Zeitalter

Lesezeit: 4 min.

Wir internetaffinen Kinder der Computerära lächeln zwar über „digital natives“, die vor Arbeitsplatzverlust durch Roboter zittern. Doch auch für uns gibt es eine Reihe von Jobs und Tätigkeiten, die allmählich von Software übernommen werden. Wie David Rowan, der Herausgeber von Wired U.K., schon 2014 in seinem Essay „Datenentrechtung“ schrieb, werden immer größere Teile unseres Lebens und der Wirtschaft über die Server weniger Großunternehmen abgewickelt. Laut einer Prognose des Dienstleisters EMC wird sich die von uns jährlich generierte digitale Datenmenge von derzeit rund 8.600 Exabyte bis 2020 vervierfachen und dürfte auch danach noch eine Weile rasant ansteigen, so dass wir nach dem nahenden Zettabyte- auch ein Yottabyte-Zeitalter erleben werden.

Diese „Big Data“-Entwicklung hat durchaus heute schon zahlreiche Vorteile: Wetter- und Klimamodelle werden immer genauer; durch kostengünstige Genomikdaten können Krebsforscher das Tumorwachstum effizienter bekämpfen; kommerzielle Datenanalysen helfen Unternehmen, Marktänderungen in kürzester Zeit zu erkennen und darauf zu reagieren.

Doch klarerweise bringen die riesigen Datenmengen nur dem einen Vorsprung, der sie entweder selbst auswerten oder jemanden dafür bezahlen kann. Nach einer Studie der Economist Intelligence Unit übertreffen bereits heute jene Aktiengesellschaften, die effektive Datenanalysen praktizieren, ihre Konkurrenten um einen Faktor von 250 Prozent. Wer also über die bessere Software, den schnelleren Algorithmus verfügt, setzt sich im evolutionären Wettkampf durch – nur dass wir hier von einer Evolutionsspanne im Jahres- oder sogar Monatsbereich sprechen. Und wer die treffsichersten Daten besitzt, kann unser Verhalten antizipieren, um in uns Bedürfnisse zu wecken, für die das passende Produkt käuflich schon bereit steht. Oder aus unserem kollektiven und individuellen Verhalten rückzuschließen, wo Chancen, aber auch Gefahren für den Datenverwalter lauern. So entstehen veritable „Datendiktaturen“, die den Markt – und damit unsere moderne Gesellschaft – steuern und dominieren können. Entweder man hat den Algorithm, oder man bekommt den Blues.

Versuchen Sie also gar nicht erst, auf eigene Faust in den Aktienmarkt einzusteigen, sondern beauftragen Sie – wenn schon – eine Tradingfirma damit, denn diese schlägt Ihr individuelles Bemühen stets mit effizienterer Software, um Trends zu erkennen und sekundenschnelle Orders durchzuführen.

Entsprechend geringe Zukunftschancen hätte es auch, eine Job- oder Partnervermittlung zu eröffnen, in der noch echte Menschen nach geeigneten Kontakten suchen; viel schneller und günstiger erledigen das mittlerweile Algorithmen anhand der persönlichen Daten der Suchenden (ob sie diese bewusst bekannt gegeben haben oder nicht, spielt hierbei keine Rolle).

Vergessen Sie auch, als selbständiger Marktforscher zu arbeiten. Nur noch große Institute haben die Möglichkeit, gute Softwareagenten einzusetzen oder ihrerseits Institute mit Suche und Aufbereitung der Daten zu beauftragen.

Bevor Sie überlegen, im Import/Export-Geschäft einen biologischen Menschen mit der Recherche von Rohstoffen und Anbietern anzustellen, schließen Sie sich lieber einer Franchise-Kette an, die das viel wirkungsvoller über eine eigene digitale Infrastruktur erledigt, als Sie das jemals könnten.

Auch eine Karriere als Naturwissenschaftler will gut überlegt sein: Erkenntnisse der Teilchen- und Astrophysik, aber auch in Chemie und Mikrobiologie werden heute kaum noch von jemandem mit Mikro- oder Teleskop gewonnen, sondern von Algorithmen, die im Datenwust der Teilchenbeschleuniger, Observatorien und Bio-Sequenziermaschinen wühlen. Nicht einmal Feldforscher werden noch benötigt, wenn deren Arbeit viel leichter und genauer von autonomen, solargefütterten Minirobotern erledigt wird, die man über einem Wald, einer Wiese oder dem Ozean ausstreut.

Von Handwerksberufen wie Tischler, Elektrotechniker oder Mechaniker will ich gar nicht sprechen: Da stehen längst schon die Roboter ante portas. Aber ich kann Ihnen nicht einmal mit gutem Gewissen empfehlen, Designer oder Werbetexter zu werden. Denn auch hier wird immer öfter auf die wachsenden Objektdatenbanken zugegriffen und an Algorithmen gearbeitet, die anhand der gespeicherten Nutzerdaten kreative Vorschläge entwickeln. Wer braucht noch griffige Slogans und innovative Entwürfe, wenn sich anhand archivierter Nutzerkäufe berechnen lässt, welche Produktform in welcher Farbe zur passenden Jahreszeit mit dem optimalen Slogan-Bausatz angeboten wird?

Selbst als Wirtschaftsspion oder Geheimagent werden Sie nicht mehr gebraucht (zumindest für keine wirklich wichtigen Fälle). Denn die freiwillig oder unfreiwillig gespeicherten Daten von Staaten, Unternehmen und (Geheim-)Organisationen verraten viel mehr als alles, was Sie mit Kamera und USB-Stick heimlich aufzeichnen und sichern könnten.

Und selbstverständlich zahlt es sich nicht mehr aus, Soldat zu werden, schon gar nicht bei irgendwelchen Bodentruppen (und bald auch nicht mehr bei der Luftwaffe). Sie würden nur noch für dreckige, ungeliebte, unbedeutende Arbeiten ausgewählt werden, während die kriegsentscheidenden Einsätze zunehmend von anonymen Programmierern, Hackern und Mathematikern durchgeführt werden, die in Technobunkern sitzen und in Echtzeit-Kontakt mit Datenservern, Überwachungsgeräten und Kampfdrohnen operieren.

Meine Empfehlung an junge Menschen kann also nur lauten: Werdet zu denjenigen, die die Daten kontrollieren! Beschäftigt euch mit Mathematik und Informatik, um an der Softwaresteuerung zu landen und den noch besseren Algorithmus zu entwickeln. Falls ihr künstlerisch veranlagt seid oder über kreative Mustererkennung verfügt, beratet die Softwareleute oder nehmt das digitale Werkzeug selbst in die Hand.

Welche menschlichen Eigenschaften werden ansonsten in der kommenden Ära gebraucht? Alles, was unser biologisches Gehirn den künstlichen Netzwerken voraus hat und womit wir übergeordnete Positionen im Markt der Algorithmen erzielen: Verhandlungsgeschick. Tricksen und Täuschen. Schauspielerei. Aber auch Liebesfähigkeit, Empathie, Erzeugung von Emotionen und Ängsten, religiöser Glaube, Esoterik und pseudo-psychologische Lebensbegleitung. Am besten, Sie fragen sich jedes Mal: Könnte das, was ich mache, eine Software mit unbegrenztem Datenzugriff schneller und treffsicherer erledigen, oder bin ich als Mensch auch in fünf Jahren noch besser?

Und bringen Sie sich nebenher durch Lehre oder private Weiterbildung trotzdem irgendein Handwerk bei – denn es könnte ja immer noch sein, dass die neuralgischen Server unserer Welt eines Tages einmal ausfallen …
 

Uwe Neuhold ist Autor, bildender Künstler, Medien- und Museumsgestalter mit Schwerpunkt auf naturwissenschaftlichen Themen. Alle Kolumnen von Uwe Neuhold finden Sie hier.

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