24. Oktober 2016 2 Likes 3

Eine Frage der Schere

Wie die CRISPR/Cas9-Gentechnik zu folgenreichen Gedankenexperimenten führt

Lesezeit: 7 min.

Stellen Sie sich vor, Sie könnten die Malariakrankheit mit einer schnellen und noch dazu kostengünstigen Methode auslöschen. Danach wäre allerdings eine ganze Tierart ausgerottet. Würden Sie es tun?

Ihr Zielobjekt wäre die Anophelesmücke. Die Wissenschaft besitzt seit kurzem eine einfache Möglichkeit, dieses Malaria übertragende Insekt durch einen einzigen Eingriff in ihre genetische Keimbahn unfruchtbar zu machen. Und während es bisher zahlreiche Generationen gedauert hätte, bis sich die Unfruchtbarkeit auf alle Mücken erstreckt (nach den Mendel’schen Gesetzen erbt immer nur ein Teil der Nachkommen ein genetisches Merkmal), würde sich die Veränderung nun mit einer Trefferquote von hundert Prozent bei jeder Fortpflanzung an die Nachkommen vererben – und die ganze Art in kurzer Zeit aussterben.

Möglich gemacht wurde dies durch eine Entdeckung zweier Wissenschaftlerinnen: Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna fanden 2012 heraus, dass sich Bakterien durch einen genialen dreistufigen Trick gegen Viren schützen. Im ersten Schritt schneidet ein im Bakterium vorkommendes Enzym einen Teil der viralen DNS heraus und baut es in das bakterieneigene Erbgut ein (als kurzes Stück der bisher von Genetikern kaum beachteten „Junk-DNS“). Dieser Abschnitt wird CRISPR genannt (Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats). Zwar wissen die Forscher schon lange, dass sich im Genom von Bakterien repetitive – also wiederholende – Sequenzen des DNS-Moleküls anhäufen; sie sind kurz und zum Teil sowohl vorwärts als auch rückwärts lesbar (palindromisch). Relativ neu ist aber die Entdeckung, dass sich zwischen diesen Sequenzen „Spacers“ (Distanzstücke) befinden, die nichts anderes als DNS-Sequenzen aus Viren sind. Was geschieht nun mit ihnen? Im zweiten Schritt kodiert die Zelle diesen Abschnitt in ein RNS-Molekül, die „CRISPR-RNS“. Sie enthält Informationen über das Erbgut von Virus und Bakterium. Gemeinsam mit einem zweiten Molekül, der „Tracer-RNS“, bindet sie an das „CRISPR associated“-Enzym Cas9 (ein Enzym ist quasi ein Protein, also ein Eiweißmolekül, das eine bestimmte Aufgabe ausführt). Und diese Enzyme vollführen nun im dritten Schritt das wichtigste Kunststück: Sie binden jeweils an das DNS-Molekül, aus dem das Virus besteht, und nachdem das Bakterium ja die Virenstruktur kopierte, können seine RNS-Stücke nun exakt daran andocken. Dann schneidet das Enzym den Viren-DNS-Strang einfach an dieser gemerkten Stelle auseinander (weshalb dieser Vorgang auch „Genschere“ genannt wird). Das Virus kann sich jetzt nicht mehr vervielfältigen, der Organismus bleibt von ihm unbehelligt.

Nun könnten Sie fragen: Aber was hat dieser in Bakterien wirkende CRISPR/Cas9-Effekt mit den viel komplexeren Anophelesmücken (oder gar mit den noch komplexeren Menschen) zu tun? Ganz einfach: Die eingangs erwähnten Forscherinnen konnten nachweisen, dass die Methode auch in Pflanzen und Tieren funktioniert. Hierzu fusionierten sie die CRISPR- und Tracer-RNS zu einem einzigen Molekül (wodurch sie sich künstlich leichter herstellen lässt) und setzten das dadurch modifizierte Cas9-Enzym in höhere Organismen ein, die – im Gegensatz zu Bakterien – einen Zellkern besitzen. Damit nicht genug, können sie die Sequenzen und damit die Eigenschaften der eingebrachten RNS-Moleküle nach Belieben verändern und so bestimmen, wo das Cas9-Enzym einen DNS-Strang zerschneidet (wohlgemerkt nicht mehr eine Viren-DNS, sondern nun das Erbgut der Pflanze oder des Tiers). Damit können beliebige, im DNS-Strang befindliche Gene ganz gezielt ausgeschaltet oder durch andere ersetzt werden. Sie sehen nun, dass mit dieser Methode unerwünschte Merkmale von Erbgut eliminiert oder erwünschte eingesetzt werden können. Dieses Erbgut wird dann bei der Zellteilung kopiert beziehungsweise an die Nachkommen weiter vererbt. (Sehr schön wird dieser Vorgang übrigens auf der Website transgen erläutert.)

Die Methode hat zwei riesige Vorteile: Erstens ist sie einfacher und preiswerter als alle bisher bekannten Gentechnologien, denn es muss „nur“ noch ein RNS-Molekül verändert werden – für Genetiker reine Routine. Zweitens kann damit ein DNS-Molekül an einer exakt vorgegebenen Stelle zerschnitten und verändert werden (alte Methoden, etwa die Bestrahlung des Erbguts, waren dagegen sehr ungenau und funktionierten nur nach dem Versuch-und-Irrtum-Prinzip). Bei Pflanzen wird CRISPR/Cas9 bereits in Laborversuchen angewandt, um sie widerstandsfähiger gegen Krankheiten zu machen. In naher Zukunft könnten auch Erbkrankheiten beim Menschen gezielt eliminiert werden.

Interessanterweise laufen derzeit intensive Diskussionen, ob es sich bei CRISPR/Cas9 überhaupt noch um „Gentechnik“ handelt. Denn im Gegenzug zu früheren Methoden verwendet sie in der Regel keine artfremden Gene: Es werden also beispielsweise keine Quallengene in eine Maus eingesetzt, um diese zum Leuchten zu bringen, sondern jetzt könnte die Maus-DNS selbst so umprogrammiert werden, dass sie leuchtet. Zudem verändert CRISPR/Cas9 den DNS-Strang so perfekt, dass hinterher – wenn dieser sich vervielfältigt – gar kein Eingriff im Erbgut mehr sichtbar ist. Befürworter von CRISPR/Cas9 sagen also: Keine herkömmliche Gentechnologie, somit können damit veränderte Lebensmittel auch problemlos für den Markt zugelassen werden. Gegner wiederum sagen: Es zählt hier nicht das fertige Produkt, sondern der Vorgang – und dieser ist ja nach wie vor künstlich, mithin handle es sich sehr wohl um Gentechnik.

Da die Sache noch nicht entschieden ist, ist CRISPR/Cas9 – zumindest in der EU – noch nicht für Produkte zugelassen, sondern auf die Anwendung im Labor beschränkt. Aus obigen Gründen könnten Lebensmittelbehörden jedoch nicht rückwirkend feststellen, ob es sich etwa bei einem aus den USA oder Asien importierten Nahrungsmittel um ein mit dieser Methode verändertes handelt. Das wäre an sich auch kein Problem, solange nur Erbkrankheiten beseitigt oder verhältnismäßig harmlose neue Eigenschaften in die DNS eingesetzt wurden. Allerdings ist auch CRISPR/Cas9 bei aller Genauigkeit nicht zu hundert Prozent genau, das heißt: Mit einer geringen, aber doch vorhandenen Wahrscheinlichkeit kann es passieren, dass das Cas9-Enzym das DNS-Molekül an einer falschen Stelle zerschneidet und ein sogenannter „Off-target“-Effekt auftritt, also eine unerwartete neue Eigenschaft des Erbguts. Und da bei CRISPR/Cas9 durch die unmittelbare Veränderung der DNS auch ein Gene Drive eintritt, ist die neue Eigenschaft schon in der ersten Population reinerbig und wirkt sich damit auf sämtliche Nachkommen aus.

So kommen wir wieder zur einleitenden Frage: Wenn wir über eine derartige Technologie verfügen, die etwa Malaria samt Anophelesmücke ausrottet, sollten wir sie auch einsetzen? Oder sollten wir menschliche Erbkrankheiten wie beispielsweise Beta-Thalassämie durch gezielte Eingriffe in unsere Keimbahn auslöschen, selbst wenn es mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit dabei auch zu anderen, unerwünschten Veränderungen unseres Erbguts kommt? Für beide Seiten der Diskussion gibt es gewichtige Argumente (ungeachtet der Tatsache, dass es immer Staaten und Einzelpersonen geben wird, die sich nicht an nationale oder internationale Regelungen halten). Doch wie kommen wir selbst zu einer eigenen, fundierten Meinung?

Nun, die Wissenschaft und die Science-Fiction lieben Gedankenexperimente. Stellen Sie sich also bitte Folgendes vor:

Was, wenn nicht wir Menschen, sondern zum Beispiel die Schimpansen (oder Delfine oder eine andere höherentwickelte Tierart) die CRISPR/Cas9-Methode entdeckt hätten und sie nun weiterentwickeln und anwenden wollen?

Wenn die Schimpansen damit eine andere Spezies verändern wollten (und seien es auch nur Mücken oder Getreidesorten), würden wir Menschen wohl empört aufschreien: „Das könnt ihr doch nicht MACHEN! Weder bei Pflanzen noch bei Tieren erlauben wir euch das, denn ihr könntet damit ja unsere gemeinsamen Lebensgrundlagen nachhaltig zum Schlechteren verändern. Und schon gar nicht dürft ihr das Zeug an UNS ausprobieren, ihr greift damit auf massive Weise in unsere Persönlichkeitsrechte ein! Außerdem raten wir massiv davon ab, dass ihr es an euch Schimpansen anwendet. Immerhin können Risiken nicht völlig ausgeschlossen werden, selbst wenn ihr nur Krankheiten vorbeugen wollt. Oder habt ihr gar etwas anderes im Sinn? Wollt ihr euch gentechnisch so weiter verbessern, dass ihr zur alles beherrschenden Spezies auf unserem gemeinsamen Planeten werdet? Das werden wir GANZ SICHER NICHT zulassen!“

Ende des Gedankenexperiments. Mit einem kurzen Perspektivenwechsel wie diesem stellt sich die Frage: Warum wollen denn wir Menschen diese Technologie an anderen Spezies oder an uns selbst ausprobieren? Was gibt uns das Recht dazu? Und müssen andere Lebewesen sich das gefallen lassen, wenn wir selbst nicht bereit dazu wären?

Noch nicht sicher, wie Sie dazu stehen sollen? Machen wir ein weiteres Gedankenexperiment:

Stellen Sie sich jetzt vor, Sie wären ein Außerirdischer, der unsere Erde von weit oben betrachtet: Es wimmelt nur so von verschiedenartigem Leben, und Sie können erkennen, dass die Natur im Verlauf von Jahrmilliarden ein eng verflochtenes ökologisches Netzwerk hervor gebracht hat. Hierzu verwendete sie ebenfalls die schrittweise Veränderung von Genen – man nennt dies Evolution. Allerdings dauerte es bei der „Naturmethode“ weitaus länger – nämlich Jahrhunderte bis Jahrtausende –, bis sich neue Eigenschaften im Erbgut auf eine ganze Population auswirkten.

Nun aber bemerken Sie von Ihrem Raumschiff aus, dass eine dieser Spezies – sie heißt „Mensch“ – eine Methode entwickelt hat, das Erbgut ganzer Arten in kürzester Zeit zu verändern. Und Ihnen fällt auf, dass sie das aus bestimmten Gründen tut: Damit die Menschen durch Wegfall von Erbkrankheiten gesünder werden. Und um Nahrungspflanzen oder Tiere so zu verändern, dass die Menschen gesünder werden. Die Technik ist also auf einen einzigen Zweck hin ausgerichtet. Und falls dabei – mit geringer Wahrscheinlichkeit, aber vielleicht doch – etwas schief geht, ist nicht nur die Spezies Mensch davon betroffen.

Sie könnten sich angesichts dessen also fragen, ob es nicht besser wäre, wenn die Menschen diese Technologie nicht auf ihrem bereits funktionierenden, mit evolutionärem Leben befüllten Heimatplaneten anwenden. Sondern lieber auf einem anderen Himmelskörper, wo es noch kein Leben gibt. Auf dem Mond vielleicht oder auf dem Mars (falls dort nicht doch noch Lebensspuren auftauchen). Dort wären optimale Laborbedingungen gegeben, und die Wissenschaft hätte keinerlei Risiko, eine bestehende Biosphäre auf ungewollte Weise zu verändern. Im Gegenteil: Man würde eine völlig neue erschaffen, sie erfinden, und man könnte damit nach Herzenslust experimentieren – zusehen, wie sich dieses neue Leben im Lauf der Zeit von selbst weiter verändert. Und während Sie sich noch Ihr persönliches Urteil bilden, taucht in Ihnen plötzlich der Gedanke auf: Wer weiß, vielleicht geschah ja genau das vor vier Milliarden Jahren auf dem Planeten Erde …
 

Uwe Neuhold ist Autor, bildender Künstler, Medien- und Museumsgestalter mit Schwerpunkt auf naturwissenschaftlichen Themen. Alle Kolumnen von Uwe Neuhold finden Sie hier.

Kommentare

Bild des Benutzers Peter Brandstätter

Mir fällt dazu die alte Star Trek-Folge ein, in der die Enterprise auf einen völlig überbevölkerten Planeten trifft, deren Gesellschaft alle Krankheiten eliminiert hat. Die Menschen können nicht mehr sterben und müssen erst neue Krankheiten einschleppen ...

Bild des Benutzers stefanwally

Man wird halt leider nicht darum herumkommen, Kausalketten anzustoßen. Und es ist kaum realistisch, diese neuen Möglichkeiten wieder zu vergessen. Besonders in einer Welt der konkurrierenden Unternehmen und Staaten. Es wird uns nichts anderes übrig bleiben, als die Nutzung so zu reglementieren. Das wird ewige Kleinarbeit bleiben, die wie Bürokratie aussieht und auch ist. Aber warum soll eine komplexer werdende Welt mit unkomplexeren Regeln des Zusammenlebens auskommen müssen?

Bild des Benutzers Uwe Neuhold

Sehe ich ebenso. Eine Fortführung des schon seit langer Zeit laufenden "Wettrüstens" zwischen technologischer Entwicklung und Eindämmung unerwünschter Folgen. Auf der einen Seite winkt die Gesundheitskarotte (Ausrottung der Krankheiten), auf der anderen lauert die nachhaltige Schädigung (Ausrottung?) unserer inneren und äußeren Ökologie. Ist diese Art des Fortschritts evolutiv zwingend oder gäbe es realistische Alternativen?

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