23. November 2015 2 Likes 1

Im Sumpf der Gegenwart

Unsere Zukunftsbilder sind disruptiv, aber eigentlich geht das Leben immer nur weiter

Lesezeit: 4 min.

Hier ist ein Problem. Mein Problem, werden Sie sagen, aber so sicher bin ich mir gar nicht, ob es nur mein Problem ist. Wie auch immer, das Problem: Ich denke, nicht zuletzt in dieser Kolumne, wirklich gerne über die Zukunft nach, doch neuerdings kommt mir dabei immer öfter die Gegenwart in die Quere; immer öfter stockt dieses Nachdenken – bis zu dem Punkt, an dem ich einfach nur aus dem Fenster blicke. Es ist, ich gebe es zu, ein merkwürdiges Problem, denn das Nachdenken über die Zukunft setzt ja das Betrachten der Gegenwart voraus; die Zukunft, die wir in der jeweiligen Gegenwart projizieren oder von der wir erzählen, ist die Extrapolation oder die Vision dieser Gegenwart.

So scheint es jedenfalls. Wenn man aber genauer hinsieht, merkt man, dass unser Zukunftsdenken, selbst wenn es sich dezidiert aus der Datenlage der Gegenwart speist, in den allermeisten Fällen einen Bruch mit dieser Gegenwart vollzieht. Das hat durchaus praktische Gründe: Es ist nachgerade unmöglich, sämtliche Aspekte einer Gegenwart zu extrapolieren; Zukunftsforscher wie Schriftsteller beschränken sich in der Regel auf einige wenige dieser Aspekte, die dann in ihrem entsprechenden Szenario einen unrealistisch großen Raum einnehmen. Aber es hat auch, sagen wir, emotionale Gründe: Es gibt in einer Gegenwart einfach viel zu viel Unfassbares, Irrationales, Widersprüchliches, es gibt viel zu viel, das nicht in unser aufgeklärtes Nachdenken über die Zukunft passt, und so sind etliche unserer Zukunftsbilder, seien sie positiv oder negativ, eine Flucht aus dieser Gegenwart.

Die aktuelle Gegenwart zum Beispiel: Vor einer Woche haben Fanatiker in Paris über hundert Menschen getötet, Menschen, die für nichts anderes sterben mussten als für die Tatsache, dass sie zu genau diesem Zeitpunkt an genau diesem Ort waren. Kurz zuvor hat es ähnliche Anschläge in Ankara und Beirut gegeben, kurz danach in Bamako. Was für eine Zukunft bauen wir uns daraus? Eine Zukunft vielleicht, in der religiöse Fragen politische Wirkungsmächtigkeit auch in pluralistisch-laizistischen Gesellschaften haben werden? Das klingt stimmig, aber es würde voraussetzen, dass wir es wirklich mit religiösen Fragen zu tun haben. Der Endzeitislamismus, auf den sich die Attentäter berufen, ist aber eine vakuumisierte Religion, eine Leere, die aus nichts besteht als der ständigen Bereitschaft zum erweiterten Suizid. Wir können diese Bereitschaft intellektuell nicht fassen, und doch wird sie ein Aspekt der Zukunft sein, weil sie ein Aspekt der Gegenwart ist – ein blinder Fleck in einer Zukunft, die viel lieber vom Internet der Dinge oder von Marsflügen oder von Hoverboards erzählt.

Noch mehr Gegenwart? Am Wochenende nach den Attentaten war ich auf einer Konferenz zum Thema Klimawandel, eine jener zahlreichen Konferenzen im Vorfeld des in Kürze (übrigens in Paris) stattfindenden Weltklimagipfels. Dort wurde das Bild eines ausgepowerten Planeten gezeichnet, eines Planeten der Dürren und Überflutungen und humanitären Katastrophen, aber das war kein Zukunftsbild, das war nicht das extrapolierte Bild des Planeten, sondern das gegenwärtige. Die Zukunft, die sich daraus ergibt und auf die sich die Menschheit – ich sagte ja, es ist irrational – sehenden Auges zubewegt, ist nicht nur entsprechend beängstigend, sie ist auch unendlich kompliziert (man denke nur an die Querverbindungen: Die desaströsen Vorgänge in Syrien etwa sind teilweise auf eine Dürre zurückzuführen, die zu einem drastischen Ansteigen der Getreidepreise geführt hat, was wiederum, nicht zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte, politische Unruhen ausgelöst hat). Wie viel leichter ist es da, die gesellschaftlichen Folgen des nächsten Super-Smartphones zu imaginieren und das Ganze dann „Zukunft“ zu nennen.

Eine solche Zukunft hat jedoch mit der Gegenwart nichts zu tun, sie ist eine wahlweise erhoffte oder befürchtete Zukunft, die nur zustande kommen kann, wenn irgendwann ein radikaler Bruch mit der Gegenwart stattfindet – ein disruptives Ereignis. Die Science-Fiction zehrt von solchen Ereignissen ebenso wie die „wissenschaftliche“ Zukunftsforschung (auch wenn sie das nie zugeben würde). Tatsächlich aber sind solche Ereignisse sehr, sehr selten, und wenn sie doch einmal stattfinden, dann werden sie erst viel später, von den Kindern und Enkelkindern, als solche erkannt. In meiner Zeit war der 11. September 2001 vermutlich ein solches Ereignis; er war der Beginn des, wie es Martin Amis einmal genannt hat, „Age of Vanished Normalcy“. Aber wenn mir damals jemand gesagt hätte, dass dieses Ereignis die westlichen Gesellschaften grundlegend verändern würde, hätte ich ihm nicht geglaubt. Das Leben ging doch einfach weiter, oder?

Unsere Zukunftssicht ist wie ein Steinwurf über einen Abgrund hinweg, wir sehen – jedenfalls meinen wir zu sehen –, wo der Stein landet, aber was zwischen uns und dem Stein liegt, was unser gegenwärtiges Hier mit dem zukünftigen Dort verbindet, blenden wir aus. Denn was unser Hier mit diesem Dort verbindet, ist schlicht eine lange Abfolge von Gegenwarten mit allem, was zur Gegenwart gehört: das Leid, die Freude, das Geheimnis, die Schönheit, die Gewalt, die Hoffnung, die Angst. Die Gegenwart hat die Tendenz, uns zu überfordern; das war womöglich schon immer so, aber die Gegenwart des Jahres 2015 scheint so überwältigend komplex, dass es schwer fällt, daraus überhaupt irgendeine Zukunft zu destillieren. Womit soll man in all dem Chaos beginnen? Und so schweifen die Gedanken ab – und ich blicke aus dem Fenster. Es hat geschneit. Es klingt merkwürdig, aber selten habe ich mich über den ersten Schnee so gefreut wie in diesem Jahr. Und während ich auf den Schnee blicke, fällt mir der Satz einer Psychologin ein, den ich in einem der vielen Wie-konnte-das-nur-geschehen-Interviews nach den Anschlägen von Paris gelesen habe. Sie sagte: „Zu erklären ist eher, wie der Mensch es geschafft hat, sich überhaupt einigermaßen zu zähmen.“

Ja, denke ich, damit könnte man vielleicht beginnen.
 

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Kommentare

Bild des Benutzers Henner B.

Sehr geehrter Herr Mamczak,
imponierend, wie intensiv und gedanklich umfassend Sie sich mit der Zukunft auseinandersetzen. In einer bestimmten Hinsicht mag Ihr Mars-Buch gar nicht lesen: Weil darin bestimmt dezidiert all die kleinen und großen Schwierigkeiten, Hürden und differenzierteren Ansichten zur Mars-Expedition drinstehen.
Nicht, dass man sich den Enthusiasmus abschminken muss. Oder unsere humanoiden Herangehensweisen und Ideologien total fragwürdig sind. Oder sind sie es? Nur eine Frage Zeit, wann wir uns "vorwagen". Die Zukunftsfähigkeit des Menschen erprobt sich auch daran, wie wir mit dem Mars umgehen. Darin sehe ich den Hauptnutzen des "Aufbruchs", keine Ahnung, inwieweit sich diese Meinung mit Ihrem Buch deckt oder nicht.
Ich habe selten ein mich interessierendes Buch so vor mir "hergeschoben" wie das Ihre.
Und anhand Ihrer Artikel hier kann ich jetzt schon sagen, es wird mich garantiert begeistern.
Danke für die Inspiration!
Viele Grüße
Henner Bangert

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