23. Januar 2015 3 Likes

Mehr oder weniger Gewalt?

Welche Rolle die Science-Fiction bei einem der größten Menschheitsprobleme spielt – Eine Kolumne von Adam Roberts

Lesezeit: 9 min.

Jeder Schriftsteller, der eine Handlung in der Zukunft spielen lässt, muss sich genau überlegen, wie diese Zukunft aussehen soll. Und ein Aspekt dieser Überlegungen muss die größere soziale Logik beinhalten, die Atmosphäre, die Dynamik einer wie auch immer gearteten zukünftigen Gesellschaft. Dabei stellt sich die Frage: Wird diese gewalttätiger oder friedlicher sein als die heutige? Und fast immer beantwortet die Science-Fiction diese Frage mit: gewalttätiger.

Was zum einen in der Natur des Geschichtenerzählens liegt. Jede Erzählung basiert auf einem Konflikt (kein Konflikt: keine Probleme; keine Probleme: keine Geschichte), und die einfachste Methode, einen Konflikt zu beschreiben, ist, sich Kämpfe, Kriege, Schlachten sowie Schurken und Superhelden auszudenken, die diesen ausfechten und dabei Megacity 1 in Schutt und Asche legen. Ein Großteil der Science-Fiction schöpft ihre Anziehungskraft aus dem Kontrast zum gewöhnlichen Leben ihrer Leser. Wenn deren Alltag aus dem Pendeln zur Arbeit, neun Stunden in einem Büro und dem Abend zuhause vor dem Fernseher besteht – dann stellt die Welt von Judge Dredd mit ihrer Cyberpunkstadt voller monströser Schusswaffen und Kung Fu à la Matrix eine stimulierende Abwechslung dar. Aber auch wenn die Science-Fiction nicht müde wird, uns eine gewalttätigere Zukunft zu prophezeien, so wird die tatsächliche Zukunft fast sicher weniger Gewalt mit sich bringen.

Zugegeben, mit absoluter Sicherheit  können wir das nicht behaupten. Vielleicht ereignet sich bald eine unvorstellbare Katastrophe, die darin gipfelt, dass sich die brutalisierten Überlebenden wie in „Die Straße“ von Cormac McCarthy gegenseitig auffressen. Wenn der Geschichtsverlauf jedoch weiter seinen Gang nimmt, wie er es in den letzten Jahrtausenden getan hat, dann wird die Zukunft nicht nur gewaltloser, sondern sogar um ein Vielfaches gewaltloser werden. Zu dieser Einsicht hat mich Stephen Pinkers Buch „Gewalt – Eine neue Geschichte der Menschheit“ gebracht. Und obwohl ich Pinkers Schlussfolgerung in seinem monumentalen, kontroversen Werk zustimme, seine Erklärung für diese Schlussfolgerung kann ich nicht teilen. Wenn ich Recht habe (und er Unrecht), dann hat die Science-Fiction sogar einen Anteil am Niedergang der Gewalt.

Pinkers Hauptargument (sollten Sie das Buch nicht gelesen haben) lautet, dass die Menschen heute nicht nur weniger gewalttätig sind als in der Vergangenheit, sondern viel viel viel viel weniger gewalttätig. Dies scheint der Intuition zu widersprechen, schließlich glauben nicht wenige Menschen, dass die Vergangenheit das Goldene Zeitalter der Glückseligkeit war und dass die Moderne von Massensterben und Genozid geprägt ist. Aber Pinker gelingt es, mit einer wahren Flut von harten Fakten das Gegenteil zu untermauern. Diese Fakten stellen ein Schlüsselelement dar, und das Buch untersucht die damit verbundenen Probleme sehr genau. Heutzutage stehen uns detaillierte und präzise Daten über Verbrechen und Todesursachen zur Verfügung, aber das ist ein relativ neues Phänomen in der Weltgeschichte. Wie kann Pinker die Gewaltquote des Jahres 2000 mit der von 1300 n. Chr. vergleichen? Wie können wir überhaupt eine Aussage über die damaligen Quoten treffen? Pinker beantwortet diese Frage sehr ausführlich und auf eine Art, die zumindest mich überzeugt hat.

Pinkers Buch gliedert sich in zwei Teile. Im ersten will er zeigen, dass wir trotz unserer Vorstellung eines vergangenen Goldenen Zeitalters, trotz unseres Empfindens, dass die Dinge schlimmer sind, als sie es jemals waren, in einer weitaus gewaltloseren Welt leben als zu jedem anderen Zeitpunkt in der Geschichte. Da bin ich ganz seiner Meinung. Pinker hat klar erkannt, dass es auf die Anzahl der unter Gewalt leidenden Individuen in Bezug auf die Gesamtbevölkerung ankommt und nicht auf die Summe der verübten Gewaltakte. Letztere ist zwar angewachsen, aber längst nicht in dem Maß wie die Bevölkerung an sich, so dass sich die Wahrscheinlichkeit für ein Individuum, Opfer von Gewalt zu werden, verringert hat. Sogar wenn wir die Weltkriege und Genozide mit einrechnen, gab es in den letzten Jahrhunderten weniger Gewalt als jemals zuvor; und heute noch viel weniger als im letzten Jahrhundert.

Die Erklärung, die Pinker dann im zweiten Teil seines Buches für diesen Rückgang der Gewalt liefert, ist ziemlich kompliziert, und ich laufe Gefahr, sie in einer schnellen Zusammenfassung nur unzureichend widerzugeben. Im Prinzip behauptet er, dass wir heute stärker in der Lage sind, unsere Gewaltimpulse zu kontrollieren, zu dämpfen oder auf andere Weise zu unterdrücken. Er lehnt das „hydraulische Modell“ menschlicher Gewaltimpulse ausdrücklich ab, das besagt, dass der Drang zu Gewalt  quasi in uns selbst entsteht; wenn es uns dagegen mithilfe verschiedener Strategien gelingt, die Gewalt zu ent-normalisieren, dann resultiert dies in einem Rückgang der Gewaltimpulse und damit auch der Gewalttaten. Das ist eine sehr optimistische Theorie. Pinker zählt einige miteinander verbundene „historische Kräfte“ auf, die, wie er glaubt, „unsere friedlichen Motive begünstigt und den Rückgang der Gewalt in mehrfacher Hinsicht vorangetrieben haben“.

Diese Kräfte sind: (1) Der Leviathan: die beständige Zunahme von Effizienz und Größe des modernen Nationalstaates mit seinen Polizeibehörden, seiner Rechtsgewalt und seinem staatlichen Gewaltmonopol; Pinker ist der Meinung, dass diese Überstruktur der Gewalt einige Motivationen für individuelle Gewalt „entschärft“ hat, etwa Vergeltung für ein Verbrechen, Rache usw.

(2) Handel: Nach Pinker bedeutet das Aufkommen eines internationalen, globalen Handels, dass „Menschen im lebenden Zustand wertvoller sind, als wenn sie tot sind, und die Wahrscheinlichkeit, dass sie zum Ziel von Dämonisierung und Entmenschlichung werden, sinkt“.

(3) „Feminisierung“ und „Kosmopolitismus“: Pinker behauptet, dass der Rückgang der Gewalt mit dem zunehmenden Respekt für die „Interessen und Werte von Frauen“ einhergeht, und – als eine Konsequenz daraus – in einem weiteren Sinn dem Anderen eine eigene, gültige Weltsicht zugestanden wird; auch damit geht eine Zunahme unseres Empathievermögens einher. Schließlich wäre da noch die (kulturoptimistisch gefärbte)  „Beförderung der Vernunft“:

„… eine zunehmende Anwendung unserer Kenntnisse und Rationalität auf menschliche Angelegenheiten, die Menschen zu der Erkenntnis zwingt, dass Kreisläufe der Gewalt nutzlos sind, dass man die Bevorzugung der eigenen Interessen auf Kosten anderer am besten aufgibt und dass man Gewalt in einem neuen Rahmen betrachtet: als Problem, das es zu lösen gilt, nicht aber als Wettbewerb, den man gewinnen muss“.

Soweit also Pinker. Vielleicht hat er ja Recht. Doch als ich sein Buch las, fiel mir noch eine andere mögliche Erklärung für dieses Phänomen ein. Und die lautet: Frustration. Die These wäre folgende: Gewalttaten sind fast immer die Messlatte für eine zugrundeliegende Frustration. Wenn einer Person ihre Wünsche und Bedürfnisse auf die eine oder andere Weise versagt bleiben, dann läuft diese Person Gefahr, zu Gewalt zu neigen. Fußballhooligans etwa sind ein bedauernswertes Beispiel dafür. Einer der Gründe, warum Fußballfans eher zum Vandalismus neigen als das Publikum von Kricket- oder Rugbyspielen liegt darin, dass Fußball zu schauen eine enorm frustrierende Tätigkeit ist. Die meiste Zeit ärgert man sich, weil die unfähige Mannschaft, der man anhängt, eine Torchance verpasst oder ein Tor kassiert. Das liegt im Wesen des Spiels. Was wiederum bedeutet, dass die Freude und Erleichterung, wenn das eigene Team ein Tor schießt, weitaus ekstatischere Züge annimmt als, sagen wir, ein Korb im Basketball. Doch das Ganze hat natürlich eine Schattenseite, die wir auf unsere generelle Lebenserfahrung übertragen können – das reicht von einem einzelnen Individuum, das aufs Lenkrad seines Autos einschlägt, weil es hoffnungslos im Stau steckt, bis zu einer ganzen Bevölkerungsschicht, deren Lebensperspektive im Vergleich zu den anderen brutal reduziert ist und darum die Tendenz hat, viel schneller auszurasten. Ich denke da an den schottischen Psychotherapeuten Ronald Fairbairn, der meinte, dass Gewalt immer eine „Reaktion auf Entbehrung“ sei. Für mich klingt das einleuchtend.

Die Argumentation hat auch eine historische Komponente, denn es scheint mir mehr oder weniger offensichtlich, dass das Leben in der Vergangenheit viel frustrierender war als heute. Der Einzelne war Krankheiten ausgesetzt, die niemand verstand und die nicht bekämpft werden konnten, und generell einem kapriziösen Schicksal ausgeliefert. Zwei Drittel der Kinder erlebten das Erwachsenenalter nicht. Eine kurze Reise dauerte mehrere Tage und eine in fremde Länder mehrere Monate; die meisten Menschen reisten gar nicht. Die Gesellschaft verfügte schlicht nicht über genügend Wohlstand (und der vorhandene Wohlstand war zu ungerecht verteilt), um die Menschen tun zu lassen, was sie wollten. Es gab weder Meinungs- noch Religionsfreiheit; die herrschende Klasse war nicht durch Wahlen legitimiert und konnte willkürlich schalten und walten. Man kann wohl mit Fug und Recht annehmen, dass die Menschen in dieser frustrierenden, repressiven Umgebung schnell handgreiflich wurden.

Diese Hypothese trifft nun aber die Behauptungen Pinkers im Kern. Seiner Theorie nach ist die Gewalt aufgrund verschiedener Top-Down-Interventionen zurückgegangen: weil wir unsere Unzufriedenheit inzwischen bis zu dem Punkt unterdrücken können, an dem diese Unterdrückung der Gewaltimpulse zu unserer zweiten Natur wird und die Impulse selbst verschwinden. Ich hingegen behaupte das Gegenteil: dass die Verminderung von Gewalt auf die Verminderung existenzieller Frustration zurückzuführen ist. Ist es nicht großartig, wie viele Möglichkeiten uns heutzutage zur Verfügung stehen, um wie vieles leichter es uns fällt, unsere Bedürfnisse und Wünsche zu befriedigen? Um mal den Unterschied zu verdeutlichen: Die 1960er Jahre sind für Pinker eine Anomalie, die er wegerklären muss, um seine Theorie vom konstanten Gewaltgefälle zu halten. Es war dies das Jahrzehnt der Gegenkultur, der Reduktion der staatlichen Kontrolle (etwas, was er im Allgemeinen bedauert); wenn Pinker Recht hat, dann hätte dies einen Anstieg der Gewalt provozieren müssen. Wenn ich Recht habe, hätte das Mehr an Möglichkeiten für einen Großteil der Bevölkerung – besonders für junge Menschen, Frauen und Farbige –, das mit dieser Dekade einsetzte, genau den gegenteiligen Effekt. Ein anderes Beispiel: Wenn ich Recht habe, müsste der Siegeszug des Internets (das so viele Kommunikationsschranken beseitigt und so viele virtuelle Fantasien realisierbar gemacht hat) eine weitere Gewaltreduktion nach sich ziehen. Selbstverständlich könnte Pinker immer damit argumentieren, dass es sich dabei einfach um eine weitere „Beförderung der Vernunft“  handelt. Doch hier geht es um die Zukunft der Menschheit: Tun wir gut daran, den Zugriff und die Effizienz des Staates in der Verbrechensbekämpfung weiter zu vergrößern und die damit verbundenen Repressionen und Gängeleien einfach zu schlucken? Oder sollten wir etwas viel einfacheres tun: dafür sorgen, dass mehr Menschen ein Leben ohne Frustration genießen können?

Diese Differenz, was die Ursache von Gewalt angeht, ist von entscheidender Bedeutung: Wenn Pinker Recht hat, würde das bedeuten, dass wir ständig neue Ebenen der Frustration schaffen müssen, um die Gewalt weiter zu reduzieren – denn die Überwachung durch externe Organe und die interne Kontrolle durch ein Über-Ich sind genau die Dinge, die ein gewöhnliches Individuum frustrieren (Pinker würde nun anfügen, dass es Möglichkeiten gibt, diese Frustration zu „normalisieren“, so dass sie zu unserer zweiten Natur wird, womit unsere Gewaltimpulse allmählich vollständig verschwinden). Wenn ich aber Recht habe, dann ist dies genau der falsche Weg. Wir sollten daran arbeiten, die sozialen und existenziellen Frustrationen in den Gemeinschaften, in denen noch immer Gewalt auftritt, zu reduzieren. Ich würde für meine Argumentation die Beobachtung anführen, dass in den alten rauen Zeiten die sozialen Konzepte von Autorität und  Religion, die den Menschen Schuldgefühl und Scham einimpften, für eine viel drakonischere „externe Kontrolle“ sorgten – obwohl sie im Vergleich mit modernen Überwachungstechnologien um einiges weniger effektiv und allgegenwärtig war. 

Ein interessantes Gedankenexperiment, wie ich finde. Die ultimative Konsequenz daraus wäre eine Welt wie die in Larry Nivens Roman „Wireheads“, wo ein Gehirnimplantat selbst die belanglosesten Frustrationen aus dem Leben einer Person eliminiert. Was würde dieser Mensch tun? Den ganzen Tag herumliegen und sich glücklich fühlen? Jedenfalls sicher nicht von der Couch aufstehen und jemanden niederstechen. Aber zu welchem Preis würde diese Gewaltminderung erkauft? Es wäre eine Vision von Passivität und Erfolglosigkeit, die wiederum die Frage aufwirft, ob nicht doch ein gewisses Maß an Frustration im Leben nötig ist, um unsere Willenskraft zu testen, um uns eine Herausforderung zu bieten, um etwas zu erreichen. Das allerdings ist nur eine andere Möglichkeit auszudrücken, dass auch ein gewisses Maß an Gewalt – sollen wir es Leidenschaft, Engagement oder den Willen zur Macht nennen? – notwendig ist. In diesem Fall ginge es nicht darum, die Gewalt abzuschaffen, sondern das richtige Maß und die Form von Gewalt für eine ideale Gesellschaft zu finden.

Was mich zurück zur Science-Fiction bringt. Denn wenn es in diesem Genre um etwas geht, dann darum, gegen Frustrationen anzukämpfen; darum, die weltlichen Beschränkungen zu überschreiten; darum, immer weiter zu gehen und immer größere, unglaublichere Dinge zu vollbringen. Wenn dies Hand in Hand mit einer Tendenz zu mehr Gewalt geht – nun, vielleicht ist das die wahre Dialektik.
 

Adam Roberts ist eine der vielversprechendsten Stimmen in der neueren britischen Science Fiction. Geboren 1965, studierte er Englische Literatur in Aberdeen und Cambridge und arbeitet derzeit als Dozent an der University of London. 

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