8. November 2015 1 Likes

Vertonte Antiutopie

Jewgenij Samjatins „Wir“ wurde von SWR2 als Hörspiel adaptiert

Lesezeit: 2 min.

Wenn es Werke gibt, die – vollkommen zu Unrecht – im Schatten großer Brüder ihrer Gattung stehen, dann gehört Jewgenij Samjatins „Wir“ zweifellos zu den weniger beachteten Antiutopien des 20. Jahrhunderts. Dabei ist der vor knapp 95 Jahren geschriebene Roman über Glück und Freiheit heute aktueller denn je und war auch George Orwell ein Begriff. Aldous Huxley bestritt jedoch von „Wir“ Kenntnis gehabt zu haben, als Orwell in seiner Rezension auf die vielen Parallelen zu „Schöne Neue Welt“ hinwies.

Wer Samjatins bittere Satire heute neu entdecken möchte, kann zwischen Buch, Hörbuch und, seit neuestem, auch dem Hörspiel wählen. Unter der Leitung von Christoph Kalkowski entstand für SWR2 ein aufwendig produziertes Hörspiel. Trotz kleinerer Kürzungen, die von Ben Neumann am Ausgangstext vorgenommen wurden, verliert „Wir“ nichts von seiner eindringlichen Wirkung. Musikern, Sprechern und Technikern gelingt es, die Atmosphäre des „Einzigen Staates“ einzufangen, der seit tausend Jahren das Leben seiner Bewohnerinnen und Bewohner überwacht und reguliert. Hunger, Liebe und Phantasie gelten hier als größte Bedrohung für das Gemeinwohl, freiwillige Überwachung, Denunziantentum und der allein herrschende Wohltäter hingegen als Allheilmittel gegen den „unzivilisierten Zustand der Freiheit“.

Unfreiwilliger Held und Ich-Erzähler ist eine der vielen glücklichen Nummern, die den „Einzigen Staat“ bewohnen. D-503 (Andreas Pietschmann) vertraut einem Tagebuch die Ereignisse an, die bis zum Start der Weltraumrakete „Integral“ sein wohlgeordnetes Leben durcheinander bringen. Ungewollt gerät er in den Einfluss von I-330 (Jana Schulz), die einer rebellischen Gruppe angehört. Sie verstößt unter den Augen des Staates gegen gleich mehrere Gesetze und verleitet D-503 zum Verrat an allem, woran er bis dato geglaubt hat. Doch auch der Wohltäter (Hanns Zischler) und seine Schergen von Beschützern bekommen mit, welch revolutionäres Pflänzchen in ihrer Mitte wächst und steuern dem entgegen.

Unterlegt ist das Hörspiel mit opulenter Orchestermusik, die von Raphael D. Thöne komponiert, von Jonathan Stockhammer dirigiert und dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR eingespielt wurde.

Am Ende des 90 Minuten langen Spiels bleibt nur die eine Frage: Was sind wir bereit aufzugeben, um unser persönliches – und kollektives – Glück zu finden? Samjatin suchte seines nach Jahren der Verbitterung und Zensur im Pariser Exil, wo er wenige Jahre nach seiner Ausreise starb.

Jewgenij Samjatins: Wir • Der Audio Verlag (DAV), Berlin 2015 • 90 Minuten • € 16,99

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