22. Mai 2016 2 Likes

Vampire, fremde Welten und utopische Momente

Auf der Suche nach Genre in Cannes

Lesezeit: 3 min.

Beim bedeutendsten Filmfestival der Welt, bei dem sich alljährlich die Creme de la Creme des Autorenkinos in Cannes an der Cote d`Azur versammelt, geht es meist ernst zu. Schwere Themen der Gegenwart werden verhandelt, es wird viel gelitten in diesen zwölf Tagen und auch wenn immer mal wieder ein Arthouse-Regisseur Genrestrukturen verwendet, um seine Geschichte zu erzählen (Olivier Assayas Mischung aus Geister- und Shopping Drama „Personal Shopper“ lief etwa im Wettbewerb) muss man doch meist in den Nebenreihen suchen, um auf Genrefilme zu stoßen.


Mario Bavas „Planet der Vampire“

Besonders in den so genannten Cannes Classics, keiner richtigen Retrospektive, sondern einer eher losen Ansammlung von Filmen, die gerade restauriert wurden, gab es dieses Jahr manch Futuristisches zu entdecken. Mario Bavas Vampir-Klassiker „Planet of the Vampire“, war hier zu sehen, eingeführt von Nicolas Winding-Refn, der selbst mit dem Modeindustrie-Arthouse-Horror „The Neon Demon“ im Wettbewerb vertreten war. Klassischen Mustern folgt die Handlung, die von Astronauten erzählt, die beim Flug durchs All ein Rettungssignal empfangen und auf dem Planeten Aura landen. Sie stoßen auf die Reste eines Raumschiffes und müssen erleben, dass die Bewohner von Aura körperlose Wesen sind, die von ihnen Besitz ergreifen. In gewisser Weise ein Trash-Vorläufer von „Alien“, nicht ganz so intensiv, aber höchst originell.

Das ist Andrei Tarkovskis „Solaris“ natürlich auch, über den nicht noch mehr Worte verloren werden müssen, solche Klassiker in makellosen Kopien zu sehen ist jedoch immer wieder eine Freude. Und noch ein weiterer Film basierte auf einer Romanvorlage von Stanisław Lem, der tschechische Film „Ikarie XB 1“ von Jindrich Polak, 1963 nach Lems Roman „Gast im Weltraum“ gedreht. Wenig überraschend  also, dass es auch hier nicht um Science-Fiction der eher plakativen Sorte geht, sondern um große philosophische Fragen, die in einer ganz ähnlichen Geschichte wie beim viel bekannteren „Solaris“ verhandelt werden. Auch hier ist eine Gruppe Astronauten in fernen Welten unterwegs und bewegt sich in der Nähe eines erdähnlichen Planeten, der sich im Sternbild Alpha Centauri befindet. Experimente mit Atomexplosionen und der Vorbeiflug an einem dunklen Stern bedrohen die Besatzung, doch ein merkwürdiges Kraftfeld schützt die Mannschaft.


„Ikarie XB 1“ von Jindrich Polak

Lem schrieb seinen Roman 1955, gedreht wurde Anfang der 60er Jahre, also kurz nach der Kuba-Krise, als der Kalte Krieg auf seinem Höhepunkt war und eine nukleare Katastrophe fast unausweichlich schien. Diese Themen schwingen auch hier stets mit, nicht die Konfrontation mit fremden Wesen wird beschworen, sondern die Chance auf eine Verständigung, ein Entgegenkommen. All das gefilmt in den einfachsten Sets, die dennoch viele Elemente späterer und teurerer Filme vorwegnahmen: Allein das die Raumschiffe hier tatsächlich der Vorstellung fliegender Untertassen entsprechen datiert den ansonsten bemerkenswerten „Ikarie XB 1“ deutlich.

Auch in der Sektion Un Certain Regard gab es zwei Genreperlen zu entdecken, Michael O`Sheas brillanter Vampir-Depressions-Teenie-Film „Transfiguration“ und der überraschende, utopische „Captain Fantastic“. Nicht in einer fernen Zukunft spielt Matt Ross Film, sondern in der Gegenwart. Hier versucht der von Viggo Mortensen gespielte Ben ein Leben fernab der Zivilisation zu leben, abseits der Exzesse des Kapitalismus, den Lehren marxistischer Denker folgend. Seine sechs Kinder sind treue Gefolgsleute, die Nähe zu einer Sekte ist unübersehbar, doch der Erfolg scheint Ben recht zu geben: Seine Kinder sind selbstständig denkende Wesen, doch da ihr Wissen nur aus Büchern stammt, haben sie Probleme, sich in der normalen Welt zurecht zu finden. Wie Ben langsam realisiert, dass er mit seiner extremen Haltung zwar das richtige intendiert, aber doch zu weit gegangen ist, erzählt Ross in einem berührenden Drama, das mit einem geradezu surrealen Moment endet: Da sitzen Ben und seine Kinder am Frühstückstisch, es ist ruhig, man liest, macht Schularbeiten und niemand spielt mit seinem Smartphone oder einem anderen elektronischen Gerät rum, es herrscht eine friedliche, ja geradezu bukolische Atmosphäre. Eine ganz einfache Einstellung, die Ross lange hält, und damit zu einem wahrhaft utopischen Moment überhöht, der Phantasie einer Welt, wie sie kaum noch existiert.


„Captain Fantastic“ von Matt Ross

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