1. Februar 2017 1 Likes

Somebody that I used to know

Dan Simmons’ Kurzgeschichte „Auf der Suche nach Kelly Dahl“ trifft einen halb-vergessenen Nerv

Lesezeit: 4 min.

Nach weniger als zehn Jahren habe ich bereits die meisten Namen meiner Klassenkameraden vergessen. Manchmal steigt deshalb ein leichtes Schuldgefühl in mir hoch, als hätten diese Menschen Besseres von mir verdient. Eine Ausnahme von dieser schleichenden Amnesie stellt Herr Salomon dar, mein Deutschlehrer während zwei Jahren Mittelstufe und der Leiter des Schultheaters, an dem ich damals teilnahm.

Dan Simmons: Helix ("Auf der Suche nach Kelly Dahl")Herr Salomon erfüllt in meiner Biografie beinahe perfekt den Archetyp des eiskalten, irgendwo tief drinnen aber wohlmeinenden Mentors, der so ziemlich als einziger Lehrer an der ganzen Schule mehr in seinen Schülern sah als nur die jüngste Generation von Blattläusen, welche sich an den Blättern der welkenden Gesellschaftspflanze vollzufressen anschickten. Er gab sich Mühe, das Potenzial in den Kindern zu sehen, die ihm anvertraut wurden, und hat mich so nachdrücklich geprägt, dass er noch heute in regelmäßigen Abständen in meinen Träumen auftaucht. Er war natürlich gleichzeitig von Herzen gerne sarkastisch, und meine hauchdünne Teenagerpersönlichkeit hat ihn dafür natürlich aus vollster Seele gehasst. Erstaunlicherweise pflegten wir nach meinem Abitur trotzdem noch kurzzeitig Briefkontakt, ehe mich das Leben woanders hinspülte.

Erst viele Jahre später begann ich rückblickend die komplexeren Facetten seiner Persönlichkeit wahrzunehmen, die ich als Jugendlicher noch nicht sehen konnte, da das Leben einem erst später das nötige Vokabular gibt, um überhaupt über solche Dinge nachdenken zu können. Heute frage ich mich jedoch manchmal, wie es wäre, Herrn Salomon als, wenn auch nicht viel weisere, doch zumindest ältere Persönlichkeit noch einmal gegenüberzutreten.

Falls Sie sich jetzt fragen, was das alles mit einer Kurzgeschichte von Dan Simmons, dem Autor von Space-Operas wie „Hyperion“ (im Shop) und „Endymion“ (im Shop), zu tun hat: Dazu komme ich gleich.

Der Topos des Mentors in Form eines besonders prägenden Schullehrers ist ja sowohl in der Literatur als auch in Hollywood so fest im Archetypenensemble angelegt, dass es fast müßig ist, Beispiele aufzuzählen. Nur der Vollständigkeit halber also seien genannt: von Erich Kästners Dr. Bökh zu Joanna Coles Miss Frizzle, von Robin Williams in Dead Poet Society und Good Will Hunting zu Jack Blacks albernem Dewey Finn in School of Rock, von Dumbledore zu Charles Xavier.

Wohl deshalb ist Dan Simmons’ ehemaliger Highschool-Lehrer Roland Jakes in der Kurzgeschichte „Auf der Suche nach Kelly Dahl“ eine Figur, mit der sich der Leser schnell anfreunden kann – auch wenn er ihn als einen suizidalen Alkoholiker antrifft, der in typischer Simmons-Manier durch ein verstörendes Alternativuniversum irrt (nicht-verstörende Standarduniversen scheinen für einen Meister der Phantastik wie ihn beinahe ein Tabu zu sein), auf der Suche nach – nun, der Titel der Geschichte verrät es ja schon.

Die Story ist in der Kurzgeschichtensammlung „Helix“ (im Shop) zu finden und baut noch eine zusätzliche Ebene in die Lehrer-Schüler-Beziehung ein, welche der Geschichte ihren eigentlichen Reiz und erst die nötige Tiefe verleiht, um sie von einer lediglich gelungenen Kurzgeschichte abzuheben. Nicht nur, dass sich das klassische Verhältnis umkehrt und Jakes derjenige ist, der in Vergangenheit wie Gegenwart von seiner ehemaligen Schülerin lernen muss – Dan Simmons beschreibt „Kelly Dahl“ in seiner Einleitung unter anderem als eine Liebesgeschichte, doch es geht dabei in erster Linie gar nicht um eine romantische Verbindung zweier Personen. Die Hauptfigur selbst reminisziert über die Tage seiner Zeit an der Schule, in denen er vor den Kindern als „Weiser auf der Bühne“ auftreten konnte. In diesem limitierten Weltbild gilt für ihn daher auch: „Ein Weiser ohne Bühne ist kein Weiser mehr.“ Hier geht es also um eine fundamentalere Beziehung, denn wie bereits viele Weisen zuvor festgestellt haben, kann nur der wahrhaft lieben, der zuerst sich selbst liebt – ob mit oder ohne Bühne. 

Was Simmons auf den weniger als 75 Seiten nicht zuletzt durch eine erfreuliche, weil so selten gelungene Anwendung der Flashback-Methode evoziert (nicht zu verwechseln mit seinem gleichnamigen Roman), ist ein Erlösungsdrama im klassischen Sinne. Und auch wenn Simmons es mir gegen Ende der Geschichte nicht leicht macht, Roland Jakes durch seine Katharsis bis zur letzten Synthese zu folgen, und auch wenn die Erklärungen für die Wells’schen Zeitreiseelemente der Story (absichtlich?) recht undurchsichtig bleiben, fühle ich mich den Figuren in dieser Beinahe-Novelle doch näher als in seinen anderen Kurzprosawerken. Ich mag natürlich durch meine eigenen Schulzeiterinnerungen voreingenommen sein. Doch sind die Herr Salomons dieser Welt nicht genau dadurch zum Archetypen gewachsen, dass so viele von uns eine so ähnliche Erfahrung gemacht haben?

Und sollte ich, wie ich annehme, nicht der einzige sein, der sich mindestens einmal gewünscht hat, seinem verehrten Mentor gegenüberzutreten und vielleicht, ganz vielleicht, die Rollen vertauschen und etwas von dem zurückgeben zu können, was man damals empfangen hat – dann hat Dan Simmons mit seiner „Suche nach Kelly Dahl“ einen Nerv getroffen.

Dan Simmons: „Auf der Suche nach Kelly Dahl“ • Story, enthalten in: „Helix“ • Originaltitel: Looking for Kelly Dahl • Aus dem Amerikanischen von Jürgen Langowski • Wilhelm Heyne Verlag, München 2016 • E-Book • 400 Seiten • € 7,99 • im Shop

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