28. Juli 2017 1 Likes

Die perfekte Welt

Eine erste Leseprobe von Robert Charles Wilsons Zukunftsroman „Netzwerk“

Lesezeit: 8 min.

„Robert Charles Wilson ist ein atemberaubend guter Erzähler“, sagt Stephen King über seinen Schriftstellerkollegen. Wer vom Meister persönlich so geadelt wurde, hat einiges vorzuweisen, und in der Tat gehört Robert Charles Wilson zu den bedeutendsten Science-Fiction-Autoren der Gegenwart. Seine legendäre Spin-Trilogie (im Shop) ist längst ein moderner Klassiker und Wilson selbst mehrfach preisgekrönt. Seinen neuesten Roman „Netzwerk“ (im Shop), in dem Autor eine ebenso faszinierende wie erschreckende Zukunftsvision erschafft und den schönen Schein der Social-Media-Besessenheit unserer Gesellschaft schonungslos offenlegt, haben wir in einer ausführlichen Review bereits vorgestellt.

Alle, die sich selbst noch einen Eindruck von „Netzwerk“ verschaffen wollen, finden hier eine Leseprobe des Romans.

Wir wünschen viel Vergnügen bei der Lektüre!

 

Erster Teil

Ein Haus in einer Winternacht

Als eine obskure Data-Mining-Firma vor zwei Jahren die von ihr so genannten »Affinitäten« ins Leben rief, blieb das praktisch unbeachtet. Die Idee war quichottisch und scheinbar ohne jede Zugkraft. Abgesehen von einigen Großstädten, gab es keine Werbekampagne, und selbst dort blieb das Medienecho eher bescheiden. Doch unbemerkt von der Öffentlichkeit, geschah etwas Erstaunliches …

Einer Einladung folgend, erschien ich mit sehr geringen Erwartungen zu einem örtlichen Treffen. Ich war auf eine Begegnung mit einer Gruppe ganz gewöhnlicher Menschen gefasst, die sich dazu hatten überreden lassen, für das Privileg gegenseitiger Schmeichelei einen Jahresbeitrag zu entrichten – ein kommerzieller Kunstgriff, der einem Schausteller wie P. T. Barnum Ehre gemacht hätte. Aber die Versammlung strahlte eine soziale, sexuelle und intellektuelle Energie aus, die mich überraschte. Das veranlasste mich zu der Überlegung, wohin das alles steuerte, und ich fragte eine junge Frau, was die Mitglieder ihrer Affinität wohl in zwanzig oder dreißig Jahren machen würden.

Sie lachte. »Wahrscheinlich schreiben wir unsere ­Memoiren. Oder vielleicht unsere Bekenntnisse.«

– The Atlantic, »Teleodynamik, Meir Klein und der Aufstieg der Affinitäten« (Leitartikel)

 

1

Ich fasste meinen Entschluss, als ich das Blut im Spiegel bemerkte. Das Blut gab den Ausschlag.

Natürlich hatte ich vorher schon darüber nachgedacht. Ich hatte die Anzeige aus den hinteren Seiten der Lokalzeitung geschnitten, mich auf der Website umgesehen und mir die Adresse des örtlichen Testzentrums eingeprägt. Erst diesen Nachmittag war ich an dem Gebäude vorbeigeschlendert und hatte aus reiner Neugier – wie ich mir auch selbst weiszumachen versuchte – an der Mattglastür mit Messinggriff gezögert. Ich malte mir aus, in die kühle, schwach beleuchtete Lobby hinter dem Logo ­INTERALIA zu treten und damit vielleicht den Lauf meines ­Lebens zu ändern. Letztlich ging ich mit einem Achselzucken weiter. Ob mich der Mut verließ oder ob ich einfach bloß zu skeptisch war, ich konnte es nicht sagen.

So stark die Versuchung war, mit dem Öffnen dieser Tür hätte ich mir meine Unzulänglichkeit eingestanden, und dazu war ich nicht bereit.

Erst beim Anblick meines blutverschmierten Gesichts überlegte ich es mir anders. Vom InterAlia-Gebäude ging ich nach Süden, um mich mit meinem ehemaligen Mitbewohner Dex am Fährhafen zu treffen. Wir wollten zu einem Open-Air-Konzert auf den Toronto Islands übersetzen. Dummerweise war ich so mit mir selbst beschäftigt, dass ich nichts von der großen, in den Nachrichten angekündigten Demo mitbekommen hatte, die genau jetzt zwischen mir und dem Seeufer im Bankenviertel stattfand.

Zuerst nahm ich das Geräusch wahr. Ein Geräusch, wie man es aus einem Sportstadion hört, wenn ein Spiel läuft: kein erkennbarer Inhalt, nur das tosende Auf und Ab vieler menschlicher Stimmen. Zwei Blocks später dachte ich: zorniger Stimmen. Vielleicht ein oder zwei Megafone in dem Gemisch. Dann bog ich um eine Ecke und sah es. Eine Masse von Demonstranten, die die Straße in beiden Richtungen füllte und ungefähr so leicht zu durchqueren war wie ein reißender Strom. Schlecht für mich, weil ich nach der Trödelei vor der InterAlia-Filiale sowieso schon Verspätung hatte.

Die Menschenmenge setzte sich offenbar aus Studenten, ­Akademikern und Gewerkschaftsleuten zusammen. Laut ihren Transparenten waren es die neuen Schuldengesetze und eine saftige Erhöhung der Studiengebühren an der University of ­Toronto, die sie an diesem heißen Abend Ende Juni auf die Straße getrieben hatten. Einen Block weiter westlich, wo am Himmel noch der Sonnenuntergang glühte, hatte eine ernste Auseinandersetzung begonnen. Alle starrten in diese Richtung, und in der Luft hing ein saurer Hauch, der wohl auf Tränengas hindeutete. Eigentlich wollte ich in diesem Augenblick nur ans Wasser, wo die Luft vielleicht ein, zwei Grad kühler war, und Dex treffen, obwohl er bestimmt schon sauer auf mich war. Also wandte ich mich nach Osten zur nächsten Kreuzung, um mir am Zebrastreifen einen Weg mitten durch die Menge zu bahnen. Eine schlechte Entscheidung, wie ich erkannte, als ich von der Flutwelle menschlicher Leiber erfasst wurde. Ich hatte erst wenige Schritte zurückgelegt, da wurden alle durch eine neue Bedrohung oder ein Hindernis enger zusammengedrängt.

Ich reckte den Kopf – ich bin ziemlich groß – und bemerkte, dass sich von Westen Polizisten in Kampfausrüstung näherten und mit den Schlagstöcken auf ihre Schilde trommelten. In hohem Bogen flogen Tränengaskanister in die Menge und zogen Rauchfahnen hinter sich her. Rechts von mir streifte sich eine Frau ein Halstuch über Nase und Mund. Einen Meter vor mir kletterte ein Typ in einem verblichenen PROPAGHANDI-Shirt auf das Dach eines parkenden Autos und schleuderte eine Wasserflasche nach den Cops. Ich wollte umkehren, doch inzwischen gab es kein ­Voran­kommen mehr gegen den Strom der ­Demonstranten.

An der nächsten Kreuzung waren berittene Polizisten in ­Stellung gegangen, und allmählich dämmerte mir, dass ich schlimmstenfalls sogar damit rechnen musste, eingekesselt zu werden und im Zuge einer Massenverhaftung in einer Arrestzelle zu landen. (Und wen sollte ich anrufen, wenn das passierte? Meine Verwandten in New York State würden bestürzt und verständnislos auf meine Festnahme reagieren, und meine wenigen Bekannten in Toronto waren arme Kunststudenten, die sicher keine Kaution für mich aufbringen konnten.) Die Menge wogte nach Osten, und ich versuchte, zum nächsten Gehsteig auszuscheren. Trotz mehrerer Ellbogenstöße in die Rippen schaffte ich es schließlich zur Nordseite der Straße. In dem Gebäude ­unmittelbar vor mir befand sich ein Café, verriegelt und verrammelt, doch Stufen führten zu einer weiteren, ebenfalls vergitterten Ladenfront im Untergeschoss, und ich konnte mich unter die überhängende Betontreppe kauern.

Wegen der Tränengasschwaden kniff ich weiter die Augen zu, daher nahm ich nur verschwommene Schemen wahr: zumeist vorbeilaufende Beine auf Straßenniveau, einmal das Gesicht ­einer Frau mit großen Augen und panisch aufgerissenem Mund, die gestürzt war und sich verzweifelt hochrappelte. Ich zog mir das T-Shirt über die Lippen und atmete schluckend, als eine neue Ladung Tränengas zu mir herabschwappte. Das Dröhnen von Stimmen wurde allmählich von vereinzelten Schreien und dem mechanischen Poltern der Cops übertönt. Wie eine unheimliche Prozession zogen die berittenen Polizisten an der ­Nische vorbei, in der ich mich versteckt hatte.

Gerade als ich mich endlich in Sicherheit wähnte, stapfte ein Cop in Kampfausrüstung die Stufen herunter und entdeckte mich, wie ich da im Schatten kauerte. Hinter dem zerschrammten Plastikvisier des Helms war sein Gesicht gut zu erkennen. Kaum älter als ich, vielleicht Teil der Einsatztruppe, die bei den Auseinandersetzungen angegriffen worden war. Er wirkte fast ebenso verängstigt wie die Frau, die vor einigen Minuten hingefallen war. Die gleichen großen, hektischen Augen. Aber er war auch wütend.

Beschwörend hob ich die Hände: Hey, warten Sie. »Ich gehör nicht dazu.«

Ich gehör nicht dazu. So ziemlich das Feigste, was ich sagen konnte, allerdings auch vollkommen wahr. Das war praktisch mein verdammtes Lebensmotto. Ich hätte es mir gut auf die Stirn tätowieren lassen können.

Der Cop holte mit dem Schlagstock aus. Vielleicht hatte er sich nur einen leichten Hieb auf die Schulter vorgestellt, um mir Beine zu machen, doch der Knüppel zuckte nach oben und traf mich voll am rechten Jochbein. Ich spürte, wie die Haut riss. Heiße Taubheit, die zu Schmerz erblühte.

Selbst der Cop schien erschrocken. »Raus da!«, bellte er. »Los!«

Ich stolperte die Stufen hinauf. Die Straße war fast nicht mehr wiederzuerkennen. Ich befand mich hinter der Linie von Berittenen, die östlich der Kreuzung eine Gruppe von Demonstranten umzingelt hatten. Der Block, wo ich war, war leer bis auf verstreute Flugblätter, zurückgelassene Rucksäcke und Transparente, vor sich hin zischende Tränengaskanister und körnige Glasscherben von zerbrochenen Windschutzscheiben. Ein Stück weiter westlich stand ein Auto in Flammen. Das Blut aus meinem Gesicht malte rostrote Paisleymuster auf mein Shirt. Ich drückte die Hand auf den Riss, und das Blut sickerte mir wie warmes Öl durch die Finger.

Als ich um die nächste Ecke bog, kam ich an einer Polizistin vorbei, die keine Schutzausrüstung trug. Sie warf mir einen besorgten Blick zu und schien drauf und dran, mir Hilfe anzubieten, doch ich winkte ab. Ich zog mein Telefon aus der Tasche und wählte Dex’ Nummer. Er meldete sich nicht. Offenbar war er sauer, weil ich ihn versetzt hatte. An der University Avenue wankte ich durch einen Subway-Eingang und stieg in einen Zug, ohne auf die betroffenen Mienen der Fahrgäste zu achten. In diesem Moment wollte ich mich bloß an einen sicheren Ort verkriechen und meine Ruhe haben.

Bis ich nach Hause kam, hatte die Blutung fast aufgehört. Ich wohnte in einem Junggesellenapartment im zweiten Stock eines niedrigen gelben Backsteinbaus mit Blick auf einen Parkplatz. Billiger Parkettboden und ein paar kümmerliche Möbelstücke. Das Persönlichste an dem Ganzen war der Name auf dem Schild neben der Tür: A. Fisk. A für Adam. Der andere A. Fisk der Familie war mein Bruder Aaron. Unsere Mutter war eine eifrige Bibelleserin mit einer Schwäche für Alliterationen gewesen.

Der Badspiegel war zugleich die Tür zum Medizinschränkchen. Ich kramte ein Fläschchen Ibuprofen heraus, machte wieder zu und starrte mich an. Nein, es musste wohl nicht genäht werden. Über dem Riss hatte sich ein dicker, bräunlich roter Klumpen gebildet. In den nächsten Tagen würde ich garantiert mit einem Veilchen herumlaufen.

Blut im Gesicht, an den Händen, am Shirt. Das Wasser im Waschbecken rosig.

Da wusste ich auf einmal, dass ich bei InterAlia anrufen würde. Schließlich hatte ich nichts zu verlieren. Ein Treffen zu vereinbaren konnte nicht schaden. Was erwartete mich hinter der Mattglastür mit Messinggriff?

Vermutlich irgendein Schwindel.

Oder mit Glück vielleicht etwas Neues, anderes, zu dem ich endlich gehören konnte.

 

Robert Charles Wilson: „Netzwerk“ ∙ Roman ∙ Aus dem Amerikanischen von Friedrich Mader ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2017 ∙ 384 Seiten ∙ Preis des E-Books € 8,99 (im Shop)

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