11. September 2017 3 Likes

Yoga mit Yoda

Warum wir uns in Wahlkampfzeiten mit der „Zukunft“ besonders schwer tun

Lesezeit: 7 min.

„Nimm eine Haltung ein!“

Ich kann nicht unbedingt behaupten, dass meine Erfahrungen mit Yoga, der Trendgymnastik für hüftsteife Arbeitnehmer, bisher didaktisch besonders wirksam waren. Aber diese Lektion habe ich mir gemerkt: Als ich einmal bei einer der Übungen aus Schmerzgründen pausierte und dachte, ich könnte einfach so herumliegen und den anderen bei ihren Verrenkungen zuschauen, forderte mich die Lehrerin auf, trotzdem eine Haltung einzunehmen. Eben eine andere Haltung. Auf jeden Fall: eine Haltung.

An diese Aufforderung musste ich denken, als ich vor einigen Tagen vor einem Wahlplakat stand, auf dem neben dem Porträt des örtlichen Bundestagskandidaten und dem Parteilogo lediglich ein Wort prangte: „Zukunft“. Noch simpler (im doppelten Sinne des Wortes) geht’s nicht, um jene Botschaft zu vermitteln, die alle Parteien, ob rechts oder links, ob bei Trost oder von Sinnen, dem Wahlvolk vermitteln wollen: Wir sind die, die nach vorne blicken. Wir kümmern uns um das Morgen. Wir sind die Zukunft.

Okay, es ist Wahlkampf, da ist die politische Kommunikation zwangsläufig etwas simpel. Und es ist auch keine neue Erkenntnis, dass „Zukunft“ im politischen Diskurs das Beliebigkeitswort schlechthin ist, die ultimative rhetorische Allzweckwaffe, insbesondere wenn man präsumtive Wählerinnen und Wähler umgarnen will. (Dieses Jahr unter anderem im Angebot: „Zukunft sichern“, „Investitionen für eine sichere Zukunft“, „Zukunft wird aus Mut gemacht“ und „Für eine Zukunft, für die es sich zu kämpfen lohnt“. Oder war das vor vier Jahren?) Aber wer diese Kolumne hin und wieder liest, weiß, dass ich es in Sachen Zukunft mit dem berühmtesten aller Jedi-Meister halte: „Schwer zu sehen, in ständiger Bewegung die Zukunft ist.“ Dass ich mich also nicht damit beschäftige, was die Zukunft bringen könnte, sondern damit, welche Zukunft wir in der Gegenwart in Betracht ziehen, welche Zukunft wir uns überhaupt vorstellen können. Und was das betrifft, bieten Wahlkämpfe reichlich Studienmaterial.

So wird wie schon bei früheren Wahlen auch dieses Mal von unterschiedlichsten Seiten der Vorwurf erhoben, dass ja über die „relevanten Zukunftsthemen“ gar nicht geredet würde. Dass es etwa in der Debatte zwischen Kanzlerin und Herausforderer zwar um Flüchtlinge, Islamismus, die Türkei, Nordkorea, Renten und Steuern ging, aber nicht um: Digitalisierung, Klimawandel, Bildung, Arbeitsmarkt. Der Befund ist selbstverständlich richtig, und die Liste der Themen, um die es in diesem Wahlkampf nicht geht, lässt sich mühelos verlängern: Hat irgendein bekannter Politiker einmal erwähnt, dass die industrielle Landwirtschaft zu einem mehr als dramatischen Artensterben führt? Hat irgendjemand thematisiert, dass künstliche Intelligenz auch ein erhebliches Gefahrenpotential in sich birgt? Oder dass die brandneuen Methoden, das Erbgut zu manipulieren, unser Bild vom Menschen fundamental verändern könnten? Aber der Befund allein hilft nicht weiter. Was wir uns fragen sollten, ist: Wer legt eigentlich fest, über welche Themen in einem Wahlkampf gesprochen wird und über welche nicht? Wer legt fest, welche Themen als „Zukunftsthemen“ gelten und welche nicht?

Ganz offensichtlich soll der Begriff „Zukunftsthema“ etwas Langfristiges markieren, etwas, das über die Dauer einer Legislaturperiode, ja vielleicht sogar über die Dauer einer politischen Karriere hinausreicht und daher, zumindest sagen das die Politologen, in einer auf kurzfristige Zeiträume ausgelegten Demokratie nur sehr schwer zu verhandeln ist. Aber einmal davon abgesehen, dass beispielsweise der Klimawandel in diesem Sinne kein Zukunftsthema mehr ist (während ich das hier schreibe, tobt sich ein so noch nie dagewesener Atlantiksturm über Florida aus, nachdem er in der Karibik eine Schneise der Verwüstung hinterlassen hat): In einer Welt, in der ständig eine Generation von der anderen abgelöst wird, ist es generell nicht möglich, zwischen „kurzfristig“ und „langfristig“ zu unterscheiden. In einer solchen Welt ist letztlich alles ein „Zukunftsthema“, und so ist die entsprechende Markierung im Wahlkampf in Wahrheit auch nicht unterschiedlichen Zeithorizonten geschuldet, sondern den Konventionen des politischen Raums. Ein „Zukunftsthema“ ist schlicht ein Thema, bei dem die Politik noch keinen Zugriff etabliert hat – ein Thema, das man vorerst in der Schublade mit der Aufschrift „Gesellschaftliche Debatte“ oder „Sozialer Wandel“ oder einfach nur „Trends“ deponiert.

Das ist, wenn man sich die Dringlichkeit etlicher dieser Themen vor Augen hält, ein äußerst unbefriedigender Zustand, also verwundert es nicht, wenn sich viele Leute, insbesondere im akademischen Bereich, inzwischen Gedanken darüber machen, ob die Demokratie in der von uns praktizierten Form überhaupt noch geeignet ist, mit „Zukunftsthemen“ zu Rande zu kommen. Tatsächlich sind die Defizite evident: So geht etwa trotz aller staatstragenden Appelle fast die Hälfte der Bürger nicht mehr regelmäßig zur Wahl, was zu dem fatalen Bumerangeffekt führt, dass die Parteien diesen Leuten auch immer weniger politische Angebote machen. Und die, die noch zur Wahl gehen, informieren sich nur zum kleineren Teil hinreichend über die politischen Zusammenhänge generell wie über die Kandidaten und ihre Standpunkte en détail, um eine faktenbasierte Entscheidung zu treffen. Gar nicht zu reden davon, dass eine dezidiert in die Zukunft reichende Abstimmung wie etwa das Referendum über den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union ein so absurdes Ungleichgewicht aufweist – zwei Drittel der Älteren haben für den Austritt gestimmt, zwei Drittel der Jüngeren dagegen –, dass es durchaus gerechtfertigt ist, ihre Legitimation in Frage zu stellen.

Vor diesem Hintergrund gibt es nicht gerade wenige Vorschläge, wie man das System „Demokratie“ weiterentwickeln oder sogar durch etwas ganz Neues ersetzen könnte, und wenn manches davon auf den ersten Blick auch ziemlich kurios klingt, ist es durchaus lohnenswert, sich einmal näher damit zu befassen (aktuell gibt es etwa dazu Bücher von Jason Brennan und David van Reybrouck). Aber ich fürchte, die erwähnte Dringlichkeit lässt uns nur in geringem Maß einen Spielraum für akademische Sandkastenspiele, also ist es vielleicht hilfreich, einmal daran zu erinnern, was die grundlegende Idee der Demokratie ist. Nämlich nicht das Mehrheitsprinzip oder die Institutionalisierung der Opposition (beides unbestreitbar wichtig), sondern die einfache Tatsache, dass jeder Mensch eine Stimme hat.

Diese Idee ist ziemlich jung; sie reicht keineswegs bis zur antiken griechischen Vorstellung von Demokratie zurück, wie oft behauptet wird, sondern wurde im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert in England und Frankreich ausgebrütet; und sie wurde lange (sehr, sehr lange, siehe das Frauenwahlrecht) ihrem eigenen Anspruch nicht gerecht. Was die revolutionäre Kraft dieser Idee aber in keiner Weise schmälert: Prinzipiell ermöglicht es das demokratische Format jedem von uns, sich am politischen Prozess zu beteiligen. Natürlich weiß ich, dass ökonomische Macht, soziale Benachteiligung, bürokratische Verflechtungen, mediale Prioritätensetzung und vieles mehr diese Beteiligung aller erschweren (ich bin ja kein um sich selbst rotierender Habermasianer), aber daraus sollte doch gerade folgen, dass wir die Möglichkeit, die das Format bietet, noch viel mehr und viel nachdrücklicher in Anspruch nehmen müssen. Demokratie heißt nicht, dass wir alle paar Jahre irgendwelche Typen wählen und ihnen dann auf der Bühne bei ihren Verrenkungen zusehen, Demokratie heißt, dass wir uns ebenfalls verrenken – auf welcher Bühne auch immer. Demokratie heißt, zu verstehen, dass Politik nicht nur ein gesellschaftliches Subsystem unter vielen ist, sondern dass eine Gesellschaft, ein Markt, ein „Sachzwang“ immer politisch konstruiert, also veränderbar ist.

Folglich ist es auch nicht die alleinige Verantwortung „der Politiker“ (oder um die Evergreen-Phrase zu bemühen: von „denen da oben“), über welche Themen in einem Wahlkampf gesprochen wird – welche Themen als für die Zukunft wichtig betrachtet werden. Wir alle sind für diese Themensetzung verantwortlich. Und gerade an diesem Punkt wird es spannend: Wie viele von denen, die sich etwa darüber beschweren, dass über das „Zukunftsthema“ Klimawandel nicht hinreichend gesprochen wird, würden eine Partei wählen, die dieses Thema ganz oben auf ihre Agenda setzt? Umfragen zeigen: nur sehr wenige. Und in noch viel größerem Maß gilt das für andere vermeintliche Zukunftsthemen: „Die KI für morgen sicher machen“, „Lang leben die Bienen!“, „Die Genschere reglementieren“ – Plakate mit solchen Botschaften wären das Gespött eines jeden Wahlkampfs. Warum also sollten die Politiker dann darüber sprechen?

Gerade in Wahlkampfzeiten ist unübersehbar, wie problematisch, irrational und vermutlich auch fatal unser Verhältnis zur „Zukunft“ ist. Und das hat nichts mit unseren Ängsten und Hoffnungen die Zukunft betreffend zu tun (die werden in einem Wahlkampf ja fortwährend aufgerufen), sondern ganz viel mit unserer Weigerung, eine Haltung zur Zukunft einzunehmen, aus der sich ein Verhalten in der Gegenwart ableitet. Ja, Yoda, der berühmteste aller Jedi-Meister, hat recht: „In ständiger Bewegung die Zukunft ist.“ Aber wer einmal mit einem Yoga-Meister gesprochen hat, der weiß: Eine Haltung einzunehmen, heißt nicht, sich besonders kompliziert zu verrenken, sondern es heißt, sich dieser Haltung bewusst zu sein. Eine Haltung einzunehmen, heißt, dass wir wach sind, dass wir wissen, was wir tun: Wo ist mein Fundament? Wie ist meine Position im Raum? Das ist ziemlich anstrengend und erfordert mehr Geduld, als die meisten hüftsteifen Arbeitnehmer aufzubringen bereit sind, doch genau darum geht es: Eine Haltung zu finden und sich dann von dieser Haltung aus nach vielen Seiten zu öffnen.

Wenn ich eine solche Haltung der Zukunft gegenüber gefunden habe (und denken Sie daran: die Zukunft ist nicht irgendetwas Wolkig-Abstraktes, sondern der Ort, an dem Ihre Kinder und Enkel und Großenkel einmal leben werden), dann kann es passieren, dass ich einen ganz anderen Blick auf das entwickle, worum es in einer Wahl eigentlich geht. Dann kann es passieren, dass ich für eine Partei oder einen Kandidaten stimme, obwohl mir nicht alle Themen des dazugehörigen Programms gefallen oder einleuchten – weil mir dieses eine große Zukunftsthema wichtig ist. Ja, dann kann es sogar passieren, dass ich damit Nachteile in Kauf nehme, die bis in die persönliche Lebensführung reichen – weil mir dieses eine große Zukunftsthema wichtig ist. Dann kann es passieren, dass ich, nur mal so als Beispiel, erkenne: Das tollste Rentensystem hat keinen Nutzen, wenn die Welt um uns herum im Chaos versinkt.

Auch wenn in einem Wahlkampf nicht über „Zukunftsthemen“ gesprochen wird, hat er doch sehr viel mit Zukunft zu tun. Er bedeutet für jeden von uns: über die Zukunft nachzudenken.

Und sich dann zu entscheiden.

 

Sascha Mamczaks Buch „Die Zukunft - Eine Einführung“ ist im Shop erhältlich. Alle Kolumnen von Sascha Mamczak finden Sie hier.

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