10. November 2017 1 Likes

Das Rätsel um den Urmenschen

Eine erste Leseprobe aus Jens Lubbadehs packendem Science-Thriller „Neanderthal“

Lesezeit: 8 min.

Es ist der wohl ungewöhnlichste Fall in der Karriere von Kommissar Philipp Nix: Unter einer Autobahnbrücke in Düsseldorf wird eine männliche Leiche gefunden, die aussieht wie ein Neandertaler. Nix steht vor einem Rätsel. Wer ist der Tote, und woher kommt diese verblüffende Ähnlichkeit mit einer Menschenart, die seit Zehntausenden von Jahren ausgestorben ist? Nix beginnt zu ermitteln und macht dabei eine grausige Entdeckung.

Knallharte Fakten und ein spannender Thrillerplot – der preisgekrönte Wissenschaftsjournalist Jens Lubbadeh widmet sich in seinem neuen Roman „Neanderthal“ (im Shop) dem Geheimnis um den sagenumwobenen Urmenschen. Das Ergebnis ist ein mitreißender Pageturner, der ab Montag, den 13.11.2017, endlich in den Buchläden erhältlich ist. Wenn Sie schon einmal in die Geschichte reinschnuppern wollen, stellen wir Ihnen hier eine erste Leseprobe zur Verfügung und wünschen viel Vergnügen bei der Lektüre.

 

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EINE RÄTSELHAFTE LEICHE

Das Gesicht sah aus wie ein Puzzle, dessen Teile nicht zusammenpassten. Es war unverletzt, trotz des tiefen Falls. Aber dennoch sah es sonderbar aus. Als Philipp Nix sich wieder erhob, wusste er: Diese Leiche würde Arbeit bedeuten. Und Ärger.

Die Pfeiler der Autobahnbrücke ragten in den Himmel wie die Säulen eines Tempels, zwischen denen der Tote wie eine Opfergabe lag. Nur dass es so gut wie keine Götter mehr gab, höchstens für die Unverbesserlichen. Der überwiegende Rest der Deutschen huldigte nur noch einem Gott – dem eigenen Körper.

Aber dieser Körper hier war nicht mehr zu retten.

Beide Beine waren mehrfach gebrochen. Der rechte Unterschenkel – es tat weh, ihn anzuschauen – war … wie abgebrochen, anders konnte man es nicht beschreiben. Noch hing er zwar an ein paar Fleischfetzen, allerdings in einem Winkel über 90 Grad abgespreizt. Weiße Knochenspitzen stachen in Kniehöhe aus dem Bein heraus. Der Hinterkopf des Mannes war aufgeplatzt. Herausgequollenes Blut und Hirn malten eine Art Heiligenschein um den Schädel. Die Kapuze des Hoodies war halb vom Kopf gerutscht und lag in der rotweißen Masse. Gierig sog der Stoff die farbige Flüssigkeit auf. Lange rotbraune Haare hingen an den Seiten des Kopfes herab. Ein Blutfaden rann aus dem linken Mundwinkel. Abgesehen davon war das Gesicht merkwürdigerweise unverletzt. Nix schätzte den Mann auf Ende zwanzig, höchstens Anfang dreißig.

»Sowas schon mal gesehen, Kramer?«

Der Polizeiarzt stand neben ihm. Genauer: Er hielt sich wie ein Fähnlein im Wind. Sein dunkelgrauer und wie gewohnt bis obenhin zugeknöpfter Zweireiher schlotterte um den versteckten Leib. Auch sein Hut hatte Mühe, sich auf dem mageren Schädel zu halten. Wann verdammt nochmal kauft er sich endlich einen kleineren Fedora?, dachte Nix. Dieser hier drohte jeden Moment von dem Stück Knochen, das seinen Kopf darstellte, wegzuwehen. Wahrscheinlich war der Hut ein Geschenk seiner Frau, anders war es kaum zu erklären. Lisa war bei Kramers der Boss, eine Domina und Furie. Nix hasste sie.

Kramer war noch immer über die Leiche gebeugt, den Fedora hielt er fest, damit er nicht in die Hirnmasse fiel.

»So einen noch nicht. Tippe auf behindert«, sagte Kramer mit seiner spröden Stimme und erhob sich wieder. Dabei knackten seine Kniegelenke leise. Nix bemerkte, dass es Kramer unangenehm war, weshalb Nix so tat, als hätte er nichts gehört.

»Hab’s befürchtet.«

Man bekam Behinderte nicht mehr oft zu sehen. In der Tat gab es kaum noch welche. Falls doch, sah Nix sie in der Regel tot. Was in einer Gesellschaft, deren zwei Fetische Glück und Gesundheit hießen, auch kein Wunder war. Als Behinderter aufzuwachsen musste sich wie eine Strafe anfühlen.

»Er sieht aber nicht aus wie ein Downie oder dergleichen«, sagte Kramer. Nix zuckte innerlich zusammen. »Downie«, so wurden die immer seltener werdenden Menschen mit Down-Syndrom bezeichnet. Eine alte Erinnerung blitzte für Sekundenbruchteile in Nix’ Geist auf. Timmys rundes, fröhliches Gesicht, seine breite Zunge, die er beim Lachen immer ein wenig herausstreckte, seine mandelförmigen Augen, die, wenn er sich freute, noch schmaler waren als sonst. Ein Stich in Nix’ Herz. Noch immer, nach all den Jahren.

Ja, das Gesicht des Toten war rund wie das eines Downies, aber es war nicht so flach. Ganz im Gegenteil. Wie ein Berg ragte es auf. Die schmale Stirn und das kaum vorhandene Kinn waren die Täler; die Augenbrauen, die große Nase und der riesige Mund bildeten die Spitzen.

Die Nase war geradezu riesig, breit, fleischig – wie von einem übereifrigen Maskenbildner mit dem Auftrag geformt, einen Schauspieler in ein Monster zu verwandeln. Und die Augen, über denen sich gewaltige Brauenwülste wölbten, waren groß und braun wie Kastanien.

Sie blickten aus ihren tiefen Höhlen flehend in den Himmel, an der Brücke vorbei, auf der die Auto-Autos unbeeindruckt weitersummten wie Körner durch den Hals einer gigantischen Sanduhr.

Nix blickte in den Himmel über der Autobahnbrücke, den Himmel über Düsseldorf, sah das Blau dieses Sommertags, über das nur wenige einsame Wolken wie verunsicherte Schäfchen irrten. Hatte der Mann, als sein Körper nach fünfzig Metern freiem Fall auf den Boden aufgeschlagen war, diesen Ausschnitt dieser Welt noch gesehen? Oder war das zerrupfte Stückchen Gras das Letzte gewesen, was in den Synapsen seines Gehirns kursiert war? Aber die spannendere Frage war: Was hatten sie kurz davor gesehen? Einen Mörder? Einen »Ehrenmörder«?

Die Polizeibeamten hatten die Fundstelle abgesperrt und schwirrten auf dem mit gelb-schwarzem Absperrband gesicherten Areal umher. Insektendrohnen würden später kommen und die 3D-Kartierung erledigen, um ein virtuelles Modell des Tatorts zu generieren.

Es war Vormittag und sehr warm an diesem Juli-Tag. Zum Glück wehte ein starker Wind, denn Nix schwitzte ohnehin schon wie ein Schwein. Und gut, dass er heute Morgen nicht den Fedora genommen hatte, sondern den Panama, seinen bevorzugten Sommerhut. Trotzdem hatte er sich ihn vom Kopf gezogen. Auch das Jackett trug er längst nicht mehr.

»Was mich irritiert, ist sein Körperbau«, murmelte Kramer.

Nix sah noch einmal genauer hin. Tatsächlich, auf den ersten Blick fiel einem nicht auf, wie enorm muskulös der Mann war. Der grobe dunkelgraue Hoodie verbarg die wuchtige Brust des Toten. Die zerschlissene weite Cordhose hatte auf den ersten Blick weder die breiten Schenkel noch den untersetzten Körper vermuten lassen.

Kramer zog die Gummihandschuhe aus. »Okay, Philipp, ich benachrichtige das Labor. Soll ich gleich mit der Obduktion loslegen oder warten, bis die Ergebnisse da sind?«

Er sah Nix aus seinen müden Augen an. Nix wusste, dass Kramer in Dauertherapie war, aber das hieß nichts. Viele waren in Dauertherapie. Es konnte alles Mögliche bedeuten. In Therapie zu sein war nichts Anstößiges; die Pflege der seelischen Gesundheit war die Pflicht eines jeden Mitglieds des Solidarsystems. Er hoffte nur, dass es nicht die Große Depression war, an der Kramer litt, sondern nur eine »normale«. Aber auch das würde zusätzlichen Aufwand sowie den möglichen Verlust Kramers als Polizei-Mediziner bedeuten. Und Kramer war ein verdammt guter Mediziner.

»Ich fürchte, wir können das nicht so lange liegen lassen«, sagte Nix.

Weder er noch Kramer waren scharf auf ein behindertes Opfer. Es bedeutete nervtötenden Papierkram und eine obligatorische Genanalyse. Vorschrift war Vorschrift. Die sammelwütigen Krankenkassen wollten alles immer ganz genau wissen. Neu entdeckte Behinderten-Gene waren für die Solidargemeinschaft Gold wert. Und der hier war sicher ein interessanter Fall. Aber das hieß auch: warten, warten, warten, denn die Labore waren völlig überlaufen. Eine Genanalyse konnte mindestens eine Woche dauern, im Zweifel länger. Außerdem waren jetzt Schulferien. Am Ende würde die Genanalyse, darauf wettete Nix, ihren Verdacht bestätigen, dass der Mann behindert war. Und dann würde eine Spezialabteilung des Ministeriums für Gesundheit und Glück die Hoheit über den Fall übernehmen, und die hatten ihre eigenen Vorstellungen. Das wiederum bedeutete, dass Nix und seine Leute umsonst gearbeitet hatten, weil sie den Fall abgeben mussten. Aber er hatte keine Wahl. Sein Chef, Engelbert, war bei allem, was das Ministerium anging, extrem vorsichtig. Er war ein verdammter Schisser und vor allem: ein Arschkriecher. Rumtrödelei bei einer behinderten Leiche konnte unangenehme Fragen nach sich ziehen. Und das bedeutete noch mehr Stress – mit Engelbert. Und darauf hatte Nix keine Lust.

»Glaubst du, er hat sich umgebracht?«

Kramer zuckte mit den Schultern. »Hoffen wir’s. Oder hast du Lust auf einen weiteren Ehrenmord?«

Ehrenmord. Was für ein abscheuliches Wort, dachte Nix. Es bedeutete die Ermordung eines Behinderten, um die Familienehre wiederherzustellen. Mord war Mord. Ja. Eigentlich.

»Wenn’s einer ist, dann wird es das Übliche. Zehn Jahre, fünf im Bau, fünf auf Bewährung.«

Die Richter erkannten bei einem Ehrenmord mildernde Umstände an. Die Belastung für alle, inklusive des Opfers, war schließlich offensichtlich, die Umstände tragisch, die Tat also irgendwie verständlich.

Nix dachte an Timmy. Damals wäre noch niemand auf die Idee gekommen, ihn zu ermorden. Wie sich die Zeiten änderten.

»Aber damit sollen sich die Ministeriellen rumschlagen«, sagte Nix.

Ehrenmorde waren ein sensibles Thema. Und ein verdammt undankbares. Jeder fühlte sich auf diesem Terrain unwohl – Mitleid traf auf Scham und klammheimliche Erleichterung. Fand man den Täter, war man das Arschloch. Fand man ihn nicht, auch. Eigentlich wollte niemand etwas damit zu tun haben. Daher war es im Grunde besser, das Ganze den Ministeriellen zu überlassen. Deren Presseabteilung war, wie Nix neidlos anerkennen musste, bezüglich solcherlei extrem auf Zack.

»Mach die Obduktion, Kramer. Wir wollen den Bürokraten doch zeigen, dass wir auch was draufhaben, oder?« Er klopfte dem Arzt auf den Rücken. Es war, als würde man ein Skelett tätscheln. Kramer brach unter dem Klaps leicht zusammen. Mann, Mann, Mann, Kramer, dachte Nix. Er würde mit ihm reden müssen. Als sein Vorgesetzter war er für seine Gesundheit mit verantwortlich und musste bei jeglichem Verdacht auf Krankheit oder gesundheitliche Einschränkungen aktiv werden.

»Essen?«

Er wusste, was Kramer sagen würde, aber er versuchte es trotzdem.

»Heute nicht, Philipp, sorry. Hab ’ne Sitzung.«

»Kein Problem«, sagte Nix. Vielleicht hatte er im Rahmen seiner Dauertherapie tatsächlich eine Sitzung vor sich. Aß er deswegen kaum noch etwas? Oder gab es einen anderen Grund? Hatte Lisa ihm untersagt, in der Kantine zu essen? Diese verdammte Furie mit ihrem Ernährungswahn. Sie würde noch dafür sorgen, dass Kramer sich zu Tode hungerte.

Nix setzte seinen Panama auf und zog zum Abschied an der Hutkrempe.

 

Jens Lubbadeh: „Neanderthal“ ∙ Roman ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2017 ∙ 528 Seiten ∙ Preis des E-Books € 11,99 (im Shop)

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