18. November 2017 2 Likes

Marsianer im Ohr

Die Qual der Wahl: H. G. Wells „Der Krieg der Welten“ als Hörbuch und Hörspiel

Lesezeit: 7 min.

Dieses Jahr lohnt es sich, das Oeuvre des Science-Fiction-Urvaters Herbert George Wells wieder zu entdecken. Selten zuvor gab es eine größere Auswahl an Neuübersetzungen und Neuadaptionen der wegweisenden Klassiker „Die Zeitmaschine“ und „Der Krieg der Welten“. Durch das Wegfallen des Urheberrechts im vergangenen Jahr buhlen die Verlage um die Gunst der Leser: dtv und S. Fischer haben beide Romane neu übersetzen und mit Zusatzmaterial aufarbeiten lassen, Mantikore bietet eine illustrierte Ausgabe von „Der Krieg der Welten“ an, Egmont hat einen deutschen Künstler mit deren Comicadaption beauftragt und Splitter veröffentlicht eine Comicreihe der Wells‘schen Werke. Auch den Liebhabern des gesprochenen Wortes wird einiges geboten: Gleich vier Verlage warten mit Hörbüchern bzw. Hörspielen auf. Zur Veröffentlichung von Stephen Baxters „Das Ende der Menschheit“ (im Shop) hören wir uns drei der Neuvertonungen von „Der Krieg der Welten“ genauer an.

Doch zunächst widmen wir uns der Mutter aller Wells-Hörspiele! Seien wir ehrlich: An Orson Welles‘ und Howard Kochs Interpretation von „Der Krieg der Welten“ dürfte auch in Zukunft kein Weg vorbei führen. Zu legendär ist die Erstausstrahlung von 1938, zu prägnant die Geschichten um die angebliche Massenpanik, die sich als Erfindung der Boulevardpresse herausstellten. Gut 80 Jahre nach seiner Premiere hat das Hörspiel dennoch nichts von seiner Faszination verloren und lässt auch heute noch dem Hörer den einen oder anderen Schauer über den Rücken laufen. Sollten damals tatsächlich einzelne Zeitgenossen das Spiel für bare Münze gehalten haben, so ist das wegen seines Realismus nur verständlich. Welles inszenierte die Invasion der Marsianer als reguläre Radiosendung, die live von den vermeintlichen Geschehnissen in den USA berichtete – inklusive Unterbrechungen aufgrund von Eilmeldungen oder dem Abbruch der Verbindung zum Reporter vor Ort. Wer zuschaltete, nicht über das Tagesprogramm Bescheid wusste, und Welles Zwischenkommentare verpasste, in denen er die Fiktion des Stücks betonte, wurde kurz vor Halloween ordentlich erschreckt. Zuletzt erschien 2014 das englischsprachige Original als CD, Download und Vinyl im Hörverlag. Der deutschen Übersetzung des WDR von 1977 blieb diese Ehre in den letzten Jahren leider verwehrt.

Während Welles mit dem Radio, einem damals noch recht jungem Medium, experimentierte und mit der Erwartungshaltung der Hörer spielte, setzen die hier vorgestellten Neuinterpretationen nicht mehr vordringlich auf diesen Verbreitungsweg. Stattdessen sind sie als CD und/oder Download erhältlich und warten mit unterschiedlichen Schwerpunkten in der Inszenierung auf.

Parallel zu der von Lutz-W. Wolff verfassten und bei dtv erschienenen Neuübersetzung brachte DAV Anfang des Jahres die Hörbuchfassung heraus, die von dem „Die drei ???“-Star Andreas Fröhlich gelesen wird. Die ungekürzte Lesung bringt es auf knapp sieben Stunden Spielzeit und wurde von Bayern 2 produziert und auch ausgestrahlt. Von Anfang an schafft es Fröhlich Wells namenlosem Erzähler eine unverwechselbare Stimme zu geben, die das Geschehen rekapituliert und das Grauen greifbar macht. Behutsam variiert er die Intonation, damit die verschiedenen Figuren mit unterschiedlichen Stimmen sprechen können. Andere Instrumente stehen ihm als Hörbuchsprecher auch nicht zur Verfügung. Wer der warmen, sanften und eindringlichen Stimme von einem der bekanntesten und besten deutschen Sprecher lauschen möchte, ist hier goldrichtig.

Die Andreas-Fröhlich-Festspiele sind damit aber noch nicht vorbei. Auch in der Inszenierung der Mediabühne, einer Hamburger Künstlertruppe, die bereits „Der Elefantenmensch“ und „Der Mord in der Rue Morgue“ als bombastisches Live-Hörspiel auf die Bühne gebracht hat, ist Fröhlich einer der Hauptsprecher. Die Bezeichnung „Hörspiel“ ist für diese Interpretation schon fast eine Beleidigung. Klaus Ude und Annelie Krügel haben ein im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubendes Audioerlebnis erschaffen, das durch einen atmosphärischen Soundtrack, stimmige Spezialeffekte und ein fantastisches Sprecherensemble glänzt. Dabei setzt das Kreativduo nicht nur auf bekannte Schauspieler und Synchronsprecher wie Sascha Rotermund, sondern auch auf eine behutsame Erweiterung der Romanwelt. „Der Krieg der Welten“ wurde eben nicht eins zu eins akustisch aufgearbeitet, sondern in den soziokulturellen und historischen Kontext des ausgehenden 19. Jahrhunderts eingebettet. Zwar beginnt das Abenteuer auch hier mit der bedrückenden Beobachtungsszene aus Wells Roman, in dem er den Voyeurismus der Marsianer beschreibt. Danach geht es jedoch nicht in die Grafschaft Surrey, sondern zu einer Polarexpedition des ganz realen Abenteurers Robert Edwin Peary, die aufgrund von vermeintlichen Meteoriteneinschlägen vollkommen aus dem Ruder läuft. Zentrale Protagonisten sind die Brüder Cillian (Sascha Rotermund) und Fergus McBiggs (Andreas Fröhlich). Während sich ersterer als Autor verdingt, hat es letzteren als Journalist in das Zeitungsimperium des einflussreichen Verlegers Alfred Harmsworth (Gordon Piedesack) verschlagen. Die Berichte von Pearys letzter Expedition erreichen nur kurze Zeit später die Londoner Presse. Fergus trifft den bekannten Astronomen Charles Ogilvy (Michael Bideller) und dessen Tochter Norma (Elise Eikermann). Während Ogilvy an die guten Absichten möglicher extra-terrestrischer Besucher glaubt, beschwört Pater Nicholas (Santiago Ziesmer) die Apokalypse herauf. Jene Einschläge in der Polarregion waren nämlich nur die Vorboten der marsianischen Invasion, die in Surrey ihren Anfang nehmen wird… Kreativproduzent Klaus Ude und Regisseurin Annelie Krügel ist mit ihrer Neuinszenierung von „Der Krieg der Welten“ ein kleines Meisterwerk gelungen. Auch wenn Puristen an den vielen neuen Figuren und Handlungsorten vielleicht Anstoß nehmen könnten, bietet die bei Lübbe Audio erschienene Gesamtbox Kopfkino der Extraklasse. Ihnen gelingt nicht nur die perfekte Symbiose von Ton und Werk und eine Hommage an die Interpretation von Welles und Koch, sondern auch die Bewahrung des satirisch kritischen Geists des Ursprungwerks: Rassismus und Imperialismus sind auch hier zentrale Themen. Die Neuinterpretation der Medienbühne hat das Zeug zum Klassiker und ist ein Muss für Hörspiel-Fans und ideale Unterhaltung für die stürmisch kalten, nebeligen Herbst- und verschneiten Wintertage.

Einen anderen Ansatz hat das Team um Marc Gruppe für die „Gruselkabinett“-Folgen Nr. 124 und 125 gewählt. Gruppe bleibt mit seiner Adaption nah am Roman und verwandelt die Wells‘schen Seiten in Erzählpassagen und Dialoge. Als Sprecher mit an Board sind auch hier die bekannten Stimmen der Film-/Fernseh-/Hörspielstars und Schauspieler (u. a. George Tryphon als Mr. Ogilvy, Bruno Winzen als Erzähler Julian, Kathryn McMenemy als dessen Frau Margret und Lutz Reichert als Lieutnant). Bei Titania Media erschien dieses Jahr nicht nur „Der Krieg der Welten“. Gleich mehrere von Wells Romanen und Novellen wurden für die preisgekrönte Hörspielreihe aufgenommen, darunter „Die Zeitmaschine“, „Der Unsichtbare“ und „Die Insel des Dr. Moreau“. Auch für das kommende Jahr sind weitere Veröffentlichungen geplant. Zweifellos bietet das „Gruselkabinett“ daher einen idealen Einstiegspunkt in H. G. Wells Werk. Die Zuhörer erwartet bei ihrem „Der Krieg der Welten“ ein klassisches Hörspielerlebnis, das bei knapp zwei Stunden Gesamtspielzeit viel Wert auf das Zusammenspiel der einzelnen Figuren und die gruselige Atmosphäre legt. Es ist kein Radioexperiment oder ausladendes Live-Hörspiel, sondern solide Hörspielkost, die den Horror eines außerirdischen Eroberungsfeldzug lebendig werden lässt. Fans des „Gruselkabinetts“ und des Romans können bedenkenlos zugreifen und die Geschichte auf sich wirken lassen.

War es das schon? Nein! Auch die zu Universal Music gehörende Reihe „Folgenreich“ widmet sich in diesem Jahr H. G. Wells. Bisher sind drei Adaptionen bestätigt: „Die Zeitmaschine“ (September 2017), „Das Imperium der Ameisen“ (November 2017) und „Der Krieg der Welten“. Die Invasion der Marsianer soll Anfang 2018 in drei Teilen veröffentlicht werden. Regie führt bei den Hörspielen Oliver Döring, der sich in der Szene vor allem durch die Hörabenteuer von „Geisterjäger John Sinclair“ einen Namen gemacht hat. Nach dem Ausscheiden aus dem Team und der Gründung des Hörspiellabels Imaga – gemeinsam mit Alex Stelkens –, hatte er sich u.a. seiner ersten Eigenproduktionen gewidmet: dem Endzeitkracher „End of Time“; nicht die schlechtesten Voraussetzungen, um Wells Beinahe-Apokalypse zu inszenieren. Wer die Sprecher sind, bleibt jedoch vorerst noch ein Geheimnis. Da allerdings schon „Die Zeitmaschine“ mit Udo Schenck, Oliver Stritzel und Luisa Wietzorek eine hochkarätige Besetzung bietet, dürfte für „Der Krieg der Welten“ ähnliches zu erwarten sein.

TL;DR? Dann hier das Fazit für die Eiligen: Wer H. G. Wells „Der Krieg der Welten“ neu entdecken möchte, hat bei den Hörbuch- und Hörspielinterpretationen die sprichwörtliche Qual der Wahl. Nostalgiker kommen an dem Klassiker von Orson Welles nicht vorbei, müssen sich aber auf das amerikanische Englisch der 1930er Jahre einstellen. Das Hörbuch von DAV ist für Puristen und Fans von Andreas Fröhlich die erste Wahl. Liebhaber von aufwendig inszenierten Hörspielen und Sci-Fi-Fans greifen zu der bei Lübbe Audio erschienenen Collectors Box der „Mediabühne“. Beim „Gruselkabinett“ kommen Fans des Romans und der Hörspielreihe voll auf ihre Kosten. Sind Kinder im Haus, sollte jedoch nicht vergessen werden, dass gerade die Hörspieladaptionen aufgrund gewisser Schilderungen nur bedingt für sie geeignet sind. Wer sich immer noch nicht zwischen all den Adaptionen entscheiden kann, dem bleibt wohl nur der direkte Vergleich aller Titel. Es lohnt sich auf jeden Fall!

H. G. Wells: The War of the Worlds • der Hörverlag, München 2014 • 58 Minuten • € 10,95 – € 24,99 • Erhältlich als Download oder Vinyl

H. G. Wells: Der Krieg der Welten • Der Audio Verlag (DAV), Berlin 2017 • 408 Minuten • € 19,99

H. G. Wells: Der Krieg der Welten. Teil 1 bis Teil 4. Collectors Box • Lübbe Audio, Köln 2017 • 276 Minuten • € 30,00 • Noch bis März 2018 ist die Mediabühne mit „Der Elefantenmensch“ auf Tour. Alle Infos dazu gibt es auf deren Homepage.

H. G. Wells: Gruselkabinett - Folge 124 und 125. Der Krieg der Welten • Titania Medien, Hilden 2017 • ca. 120 Minuten • € 17,99 • Empfohlen ab 14 Jahren

H. G. Wells: Der Krieg der Welten • Folgenreich/Universal Music, Berlin • ab 2018 erhältlich

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