10. Januar 2018 3 Likes 1

Im Bahnhof der Zukunft

Lavie Tidhars Buch „Central Station“: Ein futuristisches Mosaik

Lesezeit: 3 min.

Es gibt englischsprachige Bücher, von denen man als Fan verlockender Zukunftsliteratur im Grunde gar nicht zu hoffen wagt, dass sie je auf Deutsch erscheinen. Bei „Central Station“ aus der Feder des in London Lebenden Israeli Lavie Tidhar (im Shop), der für seinen Parallelweltroman „Osama“ mit dem World Fantasy Award ausgezeichnet wurde und seit Jahren eine ganz spannende Stimme der internationalen Genre-Literatur stellt, handelt es sich eigentlich um genau so ein Buch. Doch nun können deutschsprachige Leser seit Anfang des Jahres die Heyne-Ausgabe des ursprünglich 2016 veröffentlichen Werks in Händen halten oder auf ihren Reader beamen lassen …

Central Station ist der Name eines gigantischen Weltraumbahnhofs im futuristischen Tel Aviv, aber auch des Multikulti-Viertels, das um ihn herum wuchert und pulsiert. Während die Menschheit längst das All besiedelt hat, lebt man auf der Erde von Morgen sowohl in der Realität, als auch in der Virtualität. Die permanente UNTERHALTUNG, die aus den Leben und Gedanken der durch Implantate vernetzten Menschen und der digitalen Lebensformen gespeist wird, scheint überall zu sein – immer online, immer hörbar, immer abtastbar, immer verfolgbar, immer lesbar, immer erfahrbar. Dazu kommen uralte Cyborg-Veteranen, Tentakelsüchtige, Robotpriester, Datenvampire, altmodische Buchliebhaber ohne Netzimplantat, aus Codes und Genen bestehende Wunderkinder, adaptive Pflanzensiedlungen, Goldfarmer in einer virtuellen Game-Realität, gehackte und im Labor gezüchtete Lebensformen, kluge Schrottsammler, programmierende und handwerkende Göttermacher, Orakel mit einem digitalen Symbionten sowie Heimkehrer vom Mars, die ein parasitäres Aug am Hals haben, das ihre Wahrnehmung verändert und erweitert …

Die Kapitel, die Lavie Tidhar zu seinem faszinierenden, vor Ideen überbordenden Episodenroman „Central Station“ verstrickt hat, erschienen in ihrer ursprünglichen Form ab 2011 als einzelne Kurzgeschichten in amerikanischen Science-Fiction-Magazinen wie „Clarkesworld“, „Strange Horizons“ und „Interzone“, oder in Anthologien wie „Robots. The Recent A.I.“ und „Dark Faiths. Invocations“. Außerdem sind die Geschichten über Central Station Teil einer großen, traditionellen Future History namens ‚The Continuity Universe’, innerhalb dem Tidhar all seine SF-Erzählungen ansiedelt, ob sie nun im All oder auf der Erde spielen. Im zusammengesetzten Mosaik „Central Station“ geht es dabei weniger um die Sehnsucht nach der Weite und den Möglichkeiten des besiedelten Weltraums, sondern viel mehr um die weiterentwickelte Gesellschaft auf Erden. Immerhin findet um den Weltraumbahnhof, der die jüdischen und arabischen Konfliktparteien der Stadt wie ein Puffer voneinander trennt, ein permanentes Ringen um die Frage statt, was Menschlichkeit und was Realität bedeutet. Beides lässt sich schließlich nicht mehr so leicht definieren.

Tidhars Fiction sprüht nur so vor Bildern und Aufzählungen, die eine lebendige Zukunft zwischen digitaler Intelligenz, realer Virtualität und vollzogenem Transhumanismus formen – dazu muss der Weltbürger Tidhar gar nicht viel ausformulieren, ja genügt es meistens schon, genug anzureißen und auf die Vorstellungkraft und auf alle Sinne des Lesers einzustürmen. Die einzelnen Elemente und Einfälle erscheinen zudem wie ein Streifzug durch die großen Epochen der SF-Literatur und verweisen auf die Themen der wichtigsten und interessantesten Autoren des Sujets: Arthur C. Clarke, Isaac Asimov, Robert Heinlein (Expansion, Roboter), Philip K. Dick (die Frage nach der Realität, dem Anrecht künstlicher Menschlichkeit und nach Gott), Ray Bradbury (der altmodische Bücherfreund, der Mars, das Lyrische), William Gibson (Cyberpunk um die virtuelle Realität), Paolo Bacigalupi (Biopunk mit Leben, das wie Software gehackt und reproduziert wird), Jeffrey Tomas (die Punktown-Mischung aus Horror und SF), Richard Morgan (das Bewusstsein in künstlichen Körpern), James S. A. Corey (Abenteuer, Kolonien und Mächte im Gürtel und darüber hinaus), und aufgrund des jüdischen Settings natürlich Michael Chabon. Zumal die verknüpften Lebensgeschichten aus der Welt um und über dem Weltraumbahnhof Erinnerungen an „Babylon 5“ wecken …

„Central Station“ ist kein stringenter, klassischer Roman, aber klassische Science-Fiction und vor allem hervorragende und aktuelle Ideenliteratur – ein reichhaltiger Episodenroman für Liebhaber der SF-kurzgeschichte, und zwar aller Generationen, Epochen und Subgenres.

Lavie Tidhar: Central Station • Aus dem Englischen von Friedrich Mader • Heyne, München 2018 • 352 Seiten • E-Book: 8,99 Euro (im Shop)

Kommentare

Bild des Benutzers Elisabeth Bösl

Lese ich gerade und kann es kaum aus der Hand legen. Tolles Buch!

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