11. März 2013

Unverfilmbar? Keineswegs!

David Mitchells „Cloud Atlas“ als Blockbuster

Lesezeit: 6 min.

David Mitchells »Der Wolkenatlas« gehört zu jenen Büchern, denen aufgrund ihrer postmodernen Verspieltheit sowie ihrer thematischen und narrativen Reichhaltigkeit immer wieder der Stempel »unverfilmbar« verpasst wurde. Und in der Tat erscheint dieser Roman auf den ersten Blick nicht wirklich als geeigneter Kandidat für eine aufs Wesentliche verdichtete Leinwand-Adaption.

Denn Mitchell erzählt nicht nur eine Geschichte, sondern entwirft sechs in sich geschlossene Handlungsblöcke, ein inhaltliches und formales Panorama, das rund 500 Jahre umfasst. Die Südseeabenteuer eines amerikanischen Anwalts um 1850. Die amourösen Irrungen und Wirrungen eines jungen britischen Komponisten im belgischen Exil des Jahres 1931. Der lebensgefährliche Kampf einer amerikanischen Journalistin gegen die Atomlobby während der 1970er-Jahre. Die verrückten Erlebnisse eines englischen Verlegers, der wider Willen im Altersheim landet, in unserer Zeit. Die Auflehnung eines weiblichen Dienstboten-Klons gegen ein oppressives System im Korea des Jahres 2144. Die Geschichte eines Ziegenhirten in den Hügeln eines postapokalyptischen Hawaii in einer fernen, nicht näher bestimmten Zukunft.

Für die Anordnung dieser sechs Geschichten wählt Mitchell eine strenge Bogenstruktur, in der die einzelnen Teile (bis auf einen) jeweils in zwei Hälften separiert und ineinander verschachtelt sind – das erste und letzte Kapitel bilden eine Geschichte, das zweite und vorletzte ebenfalls usw. Eine Teilung, die immer wieder auch inhaltlich thematisiert wird: So liest der Held der zweiten Geschichte beispielsweise das »Pacifiktagebuch des Adam Ewing«, das die erste Geschichte beinhaltet, muss jedoch nach der Hälfte feststellen, dass der Rest des Buches fehlt – ist an dieser Stelle also genau so schlau wie der Leser des »Wolkenatlas«.

Diese Spielereien auf der Metaebene ziehen sich durch den ganzen Roman, der auch stilistisch zahlreiche Kapriolen schlägt und für jede erzählte Handlungseinheit eine eigene Sprache wählt. Vom klassischen Abenteuerroman des 19. Jahrhunderts über den Krimi-Pulp der 70er bis hin zur rudimentären neo-indigenen Sprache nach dem Sturz der Menschheit in vorzivilisierte Zeiten hat jeder Teil seine eigene Identität und Struktur. Und doch sind alle Geschichten miteinander verknüpft und durch zahlreiche Querverweise verbunden, nicht nur formal (jede Geschichte ist als solche diegetischer Teil der nächsten, sei es als Tagebuch, Briefsammlung, Romanmanuskript oder digitale Aufzeichnung), sondern vor allem thematisch und motivisch.

In allen geht es um die Wechselwirkung von Freiheit und Abhängigkeit, von Unterdrückung und kreativer Entfaltung, von Zivilisation und Barbarei und um nichts weniger als die Natur des Menschen. Mitchell möchte verdeutlichen, dass es sich hier um universelle Themen handelt, um Aspekte menschlicher Gesellschaften, die über alle Grenzen von Zeit und Raum hinaus Bestand haben und höchstens in ihrer Intensität verschiedene Formen annehmen. Dabei ermöglicht es ihm die verschachtelte zeitliche Struktur zu zeigen, dass die Zukunft immer schon in der Gegenwart angelegt ist – ein Punkt, den er immer wieder stark betont.

Sein Roman repräsentiert in weiten Teilen eine fiktionale Extrapolation von Nietzsches Konzept der »ewigen Wiederkunft«, eines zyklischen kosmologischen Zeitverständnisses, das er explizit erwähnt und dem er mit Andeutungen auf mögliche reinkarnative Vorgänge eine religiös-mystische Komponente hinzufügt, die dem Roman ihren Titel gibt: »Seelen wandern durch die Zeiten wie die Wolken übern Himmel. Wer weiß schon, von wo ’ne Wolke hergeweht is und was fürn Mensch ’ne Seele morgen sein wird? Nur der Atlas von den Wolken.«

Sehr ambitionierter Stoff, sicher. Und leider fällt selbst nach hundert Jahren Kinokunst im Zusammenhang mit solchen Werken immer noch beinahe reflexhaft das Urteil »unverfilmbar«, ein zutiefst derogatorisches Attribut, das im Kern die ästhetische Überlegenheit der Literatur über den Film suggeriert. Dabei haben gerade in letzter Zeit eine Reihe von vermeintlich unadaptierbaren Romanvorlagen die Grundlage für beeindruckendes Kino geliefert, von Ang Lees Life Of Pi über David Cronenbergs Cosmopolis bis hin zu Walter Salles’ On The Road. Eigentlich keine neue Erkenntnis, denn bereits Eisenstein machte mit seinem Versuch, Karl Marx’ »Das Kapital« zu verfilmen, deutlich, dass Kino seinen eigenen Gesetzen gehorcht, die eben nichts ausschließen, aber alles inkorporieren.

»Unverfilmbar« gilt also nicht – und in Bezug auf »Der Wolkenatlas« schon gar nicht, denn die in dem Roman enthaltenen Geschichten bieten ganz im Gegenteil eine äußerst reichhaltige Fülle von Szenen, die einer filmischen Adaption geradezu Tür und Tor öffnen. Die Schwierigkeiten dabei entspringen eher den strukturellen Eigenheiten des Romans, den reichhaltigen inhaltlichen Bezügen sowie den sprachlichen Besonderheiten. Schwierigkeiten, denen sich das eigenwillige Regietrio aus Tom Tykwer, Lana und Andi Wachowski mutig stellte, alles auf eine Karte setzte – und am Ende auf ganzer Linie gewann.

Cloud Atlas ist ein in jeder Hinsicht monumentales Werk, das filmische Äquivalent eines tausendseitigen Romanbestsellers, eine visuell-sinfonische Ode an das Geschichtenerzählen und das Musterbeispiel einer gelungenen Literaturadaption. Tykwer und die Wachowskis verdichten die Elemente der sechs Geschichten des Romans auf das Wesentliche und arbeiten so die thematischen Bezüge heraus; sie geben die strenge Bogenstruktur des Buchs zugunsten eines aufgelockerten Springens zwischen den Zeit- und Raumebenen auf, eine Entscheidung, die es ihnen ermöglicht, motivische Parallelen zwischen den einzelnen Geschichten zu betonen.

Eine Verschiebung, die sie mit genuin filmischen Mitteln erreichen – zahlreiche Match-Cuts schaffen immer wieder visuelle Verbindungen, Überlappungen von Ton und Bild stellen inhaltliche Bezüge zwischen den einzelnen Episoden her, musikalische Leitmotive verstärken und implementieren den Aspekt der »ewigen Wiederkunft«. Das eher sequenzielle Erzählen des Romans wird in der Kinoversion zu einer fragmentierten Darstellung, zu einem wahren Meisterstück des Filmschnitts, der hier neben den durchweg guten Darstellern die Hauptrolle spielt.

Und spielen ist das Stichwort, denn Cloud Atlas ist mitnichten das unsehbare dreistündige Stück Kunstkino, das viele befürchteten; im Gegenteil sind hier drei ausgewiesene Kinofans mit großem Spaß bei der Sache, und das sieht man ihrem Werk an. Die Entscheidung, ihren Cast in allen sechs Geschichten in verschiedenen Rollen zu zeigen, ist sicherlich teilweise dem Reinkarnations-Thema geschuldet. Doch die vielen falschen Nasen, Zähne, Perücken, Fatsuits und albernen Kostüme, in denen Tom Hanks, Hugh Grant, Halle Berry, Hugo Weaving und der großartige Jim Broadbent hier stecken, zeugen in erster Linie von einer großen Lust an der Verwandlung, am analogen Spiel mit Masken und der Metamorphose, die das Kino von jeher mitbestimmte.

Auch das lustvolle Springen zwischen den Genres, eine weitere Steilvorlage des Romans, gelingt ihnen mühelos. Dabei sind alle Beteiligten spürbar in ihrem Element – während Tom Tykwer (der auch den Score beisteuerte) die zwischenmenschlichen Aspekte der eher historischen Episoden mit der ihm eigenen formalen Strenge und psychologisch genauem Blick untersucht, geben die Wachowskis in den SF-Anteilen des Films dem Affen ordentlich Zucker und bewegen sich zwischen Matrix-Coolness und Speed-Racer-Farbenvielfalt stilsicher auf gewohntem Terrain.

Im Lauf der annähernd drei Stunden wird das Tempo immer wieder angezogen und gedrosselt, den inhaltlichen Motiven je nach Bedarf Raum zur Entfaltung gegeben, um dann wieder die Schlagzahl zu erhöhen und eine Reihe von Cliffhangern zu schaffen, die sich im Minutentakt auflösen. Das ist stellenweise atemberaubend anzusehen – und bei aller Kinetik nicht ganz einfach zu verdauen, denn wer hier eine Sekunde lang nicht aufpasst, ist raus. Die notwendige Verdichtung der Geschichten sorgt für einen nicht enden wollenden narrativen Sog, von dem man sich aber gern mitreißen lässt.

Eine Tatsache, die im Roman bereits angelegt ist. Denn bei aller Ambition und Komplexität ist David Mitchells »Der Wolkenatlas« vor allem auch ein waschechter Pageturner, der mit postmodernen Elementen eher spielt, als sie zum Fokus seiner Existenzberechtigung zu erheben. Mit anderen Worten: Man kann das so weglesen, eine in diesem Fall absolut begrüßenswerte Qualität. Tykwer und die Wachowskis haben einen Weg gefunden, auch in ihrer Kinoversion ständig zwischen Anspruch und Entertainment, zwischen Spiel und Ernst, zwischen Kunst und Kitsch zu oszillieren und dabei immer »lesbar« zu bleiben. Damit ist ihnen einer der besten Filme des Jahres geglückt. Und wenn dies zu einer Neubewertung des Begriffs »unverfilmbar« führen sollte – umso besser.

Cloud Atlas • D/USA/Hongkong/Singapur 2012 · Regie: Tom Tykwer, Andy Wachowski, Lana Wachowski · Darsteller: Tom Hanks, Halle Berry, Jim Broadbent, Hugo Weaving, Jim Sturgess, Xun Zhou, Susan Sarandon, Hugh Grant, Ben Whishaw, James D’Arcy

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