20. Juli 2012

Ausflug ans Meer

Die Verfilmung von Ishiguros Meisterwerk „Alles, was wir geben mussten“

Lesezeit: 6 min.

Was fangen wir mit der Zeit an, die uns zum Leben bleibt? Wie funktioniert Erinnerung? Warum betrachten wir die Vergangenheit oft durch den verklärenden Schleier der Nostalgie? Was bedeu­ten Begriffe wie Seele, Liebe, Freundschaft? Und was macht den Menschen eigentlich zum Menschen?

Wie viele große SF-Autoren beschäftigt sich der japanischstämmige, britische Schriftsteller Kazuo Ishiguro in seinem 2005 erschienenen Roman »Alles, was wir geben mussten« vor dem Hintergrund eines dystopischen Szenarios mit existenziellen Fragen, die weit über den wissenschaftlichen Aspekt der spekulativen Science Fiction hinausgehen. Aus der Perspektive der Ich-Erzählerin Kathy beschreibt er die Erlebnisse dreier Schüler eines Elite-Internats in einem alternativen England von den Siebzigern bis in die Neun­zigerjahre, einer fiktiven Parallelgesellschaft, deren besonderen Charakter er dem Leser erst nach und nach offenbart. Seine Er­zählerin Kathy erinnert sich an ihre gemeinsame Kindheit mit Tommy, einem zu Wutausbrüchen neigenden, minderbegabten, aber zerbrechlich-attraktiven Mitschüler, und Ruth, einer hübschen, impulsiven und arroganten Klassenkameradin im Internat Hailsham – eine Kindheit, die geprägt ist von den vielen alltäglichen Wundern des Heranwachsens, der aber auch ein dunkles Geheimnis innewohnt. In vielen kleinen Episoden schildert Ishiguro, wie diesen Schülern nach und nach bewusst wird, dass sie in ganz anderer Hinsicht »special« sind, als ihnen das von Lehrenden und Aufsehern immer wieder vermittelt wird.

In den Gegenwarts-Kapiteln des Romans ist immer wieder von »Spendern« und »Betreuern« die Rede; hier wird etwas impliziert, aber nicht offen ausgesprochen. Die erschreckende Realität wird dann ganz banal und beiläufig enthüllt: Kathy, Tommy, Ruth und die anderen Hailsham-Schüler sind Klone, deren einzige Bestimmung es ist, eines Tages nach und nach ihre Organe zu spenden. Ein düsteres Bild der extremen Blüten, die der medizinische Fortschrittsglaube zu treiben vermag; was aber Ishiguros Roman wirklich bemerkenswert macht, ist die Tatsache, wie wenig Platz diesem eigentlichen SF-Aspekt eingeräumt wird. Seine Protagonisten fügen sich in ihr Schicksal, wissen um ihre wahre Bestimmung, richten sich in ihren prädestinierten Leben ein, so gut es geht. Nach ihrer Schulzeit bewohnen sie verlassene Gutshöfe, sind weitgehend sich selbst überlassen, manche arbeiten als Betreuer der Spender, andere gehen direkt in die klinischen Zentren, um den Spendenprozess zu beginnen, an dessen Ende der »Abschluss« steht – im englischen Original treffender »completion«, Komplettierung und Bestimmung ihres kurzen Lebens.

Die Tatsache, dass hier niemand ernsthaft versucht, seinem Schicksal zu entfliehen, nicht einmal große dramatische Momente der Panik und des Verzweifelns das Handeln bestimmen, sondern vielmehr eine leise Melancholie im Angesicht des Unvermeidlichen, rückt den Roman eher in die Nähe von Ishi­guros »Was vom Tage übrig blieb« als in die Reihe vergleichbarer SF-Werke. Hier wie dort geht es um verpasste Chancen, um späte Erkenntnis und das sehr britische Spannungsverhältnis von Pflichtbewusstsein und Selbstverwirklichung. Der Unterschied ist, dass die Hailsham-Schüler noch expliziter um ihr Schicksal wissen als der alternde Butler Stevens – und letzten Endes wir alle. Der Tod ist unausweichlich, jeder muss das Beste aus seiner Zeit machen. Und genau das ist es, was Kathy, Ruth und Tommy versuchen – genau dieses Bewusstsein steht zunehmend im Mittelpunkt ihres Handelns. Und je schneller ihnen die Zeit davonläuft und sie der düsteren Wirklichkeit ihres Erwachsenenlebens entgegensehen, umso mehr verklären sie ihre Vergangenheit, wie Ishiguro in den nostalgischen Hailsham-Episoden und dem zu Tränen rührenden Schlusskapitel immer wieder verdeutlicht. Nun beginnen die Versuche, das Unvermeidliche hinauszuzögern, es werden Strategien entwickelt, um Aufschübe zu erhalten, mehr Zeit zu gewinnen, das Leben zu verlängern.

Doch diese Bemühungen sind zum Scheitern verurteilt; was bleibt, ist das Bedürfnis, im Angesicht des Todes die schönen Momente zu kon­servieren, Liebe und Freundschaft zu erleben, den Weg gemeinsam zu Ende zu gehen. All das macht das leise Zweifeln an einer Ge­sellschaft, die dabei ist, das medizinisch Machbare entgegen aller ethischen Bedenken zur obersten Priorität zu erheben, viel kraftvoller als essayistische Kritik oder populistisches Traktat. Ein wirklich außergewöhnlicher, im allerbesten Sinne sentimentaler Roman.

Für ihre Kinoadaption des Stoffes wählen Drehbuchautor Alex Garland (The Beach, 28 Days Later, Sunshine) und Regisseur Mark Romanek (One Hour Photo) einen strukturell anderen Zugang als Ishiguro. Die zeitliche Verschachtelung des Romans geben sie zugunsten einer linearen Erzählweise mit gelegentlichen Voice-Over-Kommentaren der Ich-Erzählerin auf; die SF-Grundlage der Geschichte offenbaren sie früher und unmissverständlicher. Dadurch entfällt zwar der Aspekt der nachträglichen Verklärung vergangener Erfahrungen einer scheinbar unbeschwerten Kindheit. Doch genau dieses Fehlen macht den Reiz der frühen Szenen des Films aus; denn dieses Hailsham wirkt nicht mehr wie ein sonnendurchflutetes Jugendparadies mit schön-schauerlichem Subtext, sondern erinnert vielmehr an ein Haunted House, bevölkert von den kleinen Klonen, die gelegentlich wie Wiedergänger der unheimlichen Kinder aus Das Dorf der Verdammten (1960) erscheinen.

Dem sentimentalen Ton des Romans wird hier eine dezente Horrorkomponente hinzugefügt, die durch die späteren expliziten Darstellungen des Organspendeprozesses noch verstärkt wird. Jenseits dieser äußerst effektiven Momente, die dem Ganzen eine zusätzliche Farbe verpassen, bleiben die Macher dem elegischen Ton des Romans jedoch treu und halten sich eng an den Plot, verdichten ihn dabei aber auf seinen Kern: das Liebesdreieck zwischen Kathy, Tommy und Ruth. Und das funktioniert in erster Linie so beeindruckend gut, weil die Hauptdarsteller perfekt gewählt wurden. Carey Mulligan verleiht ihrer Figur eine bleischwere Traurigkeit und Weisheit, die im Kontrast zu der verwirrten Naivität von Andrew Garfield als Tommy und der durchschaubaren Arroganz von Keira Knightleys Ruth immer wieder für unfassbare Momente der Empathie sorgt. Perfekt getroffen ist auch das Produktionsdesign; mehr noch als der Roman betont der Film die Tatsache, dass es sich bei diesen Kindern/Jugendlichen gewisser­maßen um Secondhand-Menschen handelt.

Und genau so werden sie auch dargestellt: die Pullover immer etwas zu groß und abgegriffen, die Frisuren etwas zu herausgewachsen, die Wohnzimmer etwas zu eklektisch zusammengestellt. Diese Geschöpfe leben simulierte Leben in ausrangierten Kleidern, bewohnen zurückgelassene Räume – und gerade das macht sie so exemplarisch und in ihrem existenziellen Streben so durchlässig und bedauernswert. Aber auch das Leben außerhalb der hermetischen Klongesellschaft erscheint nicht viel attraktiver – ein Ausflug ans Meer, in die Welt der »normalen« Menschen zeigt eine kalte, herbstlich-winterliche Welt der Indifferenz und menschlichen Distanz. Kein Mitgefühl, nirgends. Und wenn am Ende auch das letzte Fünkchen Hoffnung mit stoischem Gesichtsausdruck der Entscheider zunichtegemacht wird, dann ist das ein Moment der Bleakness, den man mit solch emotionaler Wucht lange nicht im Kino zu sehen bekam.

Man hat dem Film vorgeworfen, emotional distanziert und kalt seinen Figuren bei ihrem aussichtslosen Kampf zuzusehen. Eine Kritik, die in keinster Weise nachvollziehbar ist. Zwar verzichtet die Kinoversion weitgehend auf die Darstellung des Kontrastes zwischen unbeschwerter Kindheit und erschütternder Erfahrung des kurzen Erwachsenenlebens, die so viel von der Kraft des Romans ausmacht. Doch dies geschieht ganz klar zugunsten eines stärkeren Fokus auf die unaufhaltsame Linearität und Ausweglosigkeit dieser ganz speziellen Leben – und dadurch auf ihre parabelhafte Qualität. Die drei Akte des Films zeigen in zunehmender farblicher Desaturierung, was diesen Menschen – und damit uns allen – eben geschieht. Dabei bleibt der Film ganz nah an seinen Figuren: Kalt ist nicht der Blick auf die Protagonisten, sondern die erschütternde Realität ihres Daseins. Dass ganz nebenbei und ganz unkonkret auch Fragen nach den Konsequenzen eines wild wuchernden medizinischen Fortschritts gestellt werden, die bis auf einen etwas ungeschickten Schlussmonolog nie explizit formuliert werden, macht Alles, was wir geben mussten zu einem der besten Science-Fiction-Filme des Jahres – und zu einer Literaturadaption, die man kaum besser gestalten kann. Ein Film, der in mehr als einer Hinsicht an die Nieren geht.

Alles, was wir geben mussten • UK/USA 2011 · Regie: Mark Romanek · Darsteller: Andrew Garfield, Carey Mulligan, Keira Knightley, Charlotte Rampling, Sally Hawkins

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