22. März 2013 1 Likes

Zwischen Diesseits und Jenseits

Ernst Augustins „Robinsons blaues Haus“

Lesezeit: 4 min.

Robinson ist wieder einmal schiffbrüchig geworden. Aber diesmal strandet er nicht auf einer weltabgewandten Insel irgendwo im Mündungsgebiet des Orinoco, sondern »inmitten eines Ozeans von Menschen über Menschen, die alle laut reden und alle etwas anderes meinen«. Ernst Augustins Fantasieinsulaner ist einer, der sich schon als Kind ein Tauchbehältnis gebaut hat, um sich vor Altersgenossen, die ihn drangsalieren, zu verbergen.

Nun ist er ein Gejagter, einer, der agentengleich verschiedene Namen führt. Ein Meister des Unsichtbarkeit bewirkenden Mittelmaßes und des Nicht-Auffallens. An den Bahnhöfen von Grevesmühlen, London und Warschau unterhält er kleine Besenkammern als Ausweichquartiere, allesamt so luxuriös ausgestattet, dass sie dem Leser innen beinahe größer vorkommen als außen, jede Besenkammer eine TARDIS, ohne dass ihr Insasse zum Zeitlord würde. Denn dieser Ich-Erzähler hat nicht mehrere Leben, er hat nur eines.

Der Ich-Erzähler fühlt sich dieses Leben lang verfolgt, hält sich in kleinen, holzvertäfelten Verstecken auf: »Und dann steht man vor dieser Tür und steckt den Schlüssel ins Schloß. Und dann … Wärme, Wärme, Ruhe, Ruhe, teefarbene Beleuchtung, das Bernsteinlämpchen. Und, ja, der leise zimtartige Geruch, der ist auch ganz wichtig, es ist die Täfelung aus Dengue-Holz, die nur sehr schwer zu beschaffen war, nur unter größten Umständen.«

Die Welt, aus der sich der Held zurückzieht, vor der er sich verbirgt, erscheint als bissiger Albtraum: »Lieber Freund. Das Leben ist ein Säbelzahntiger.«

Der Insel-Baumeister Robinson baut sich seine Welt zurecht: einen Kosmos der Verstecke. Mit den Menschen in Kontakt steht er nur via Chatroom. Dort trifft er auch, für Robinson wohl unvermeidlich, auf seinen Freitag. Doch dieser »Freitag« hat etwas von einem Wechselbalg, tritt einmal als schwarz-lackierter Schuhscheinboy auf, dem Robinson das Leben rettet, ein andermal als Dame mit Schritt, für die Robinson ein gläsernes Penthouse auf dem Wyman Tower in New York errichten will. Unter falschem Namen, versteht sich.

Verstehen wir überhaupt etwas? Haben wir es mit einem Mann zu tun, der unter Wirklichkeitsverlust leidet und Verfolgungswahn? Mischen sich – mal wieder – Pathologie und Fantastik, Genie und Wahn?

Ernst Augustin, der Autor dieser Robinsonade, wurde im Jahr 1927 in Hirschberg am Fuß des Riesengebirges geboren. Der Flecken findet sich heute unter dem Namen Jelenia Góra in der polnischen Woiwodschaft Niederschlesien. Was alles ja schon so klingt, als hätte viel passieren müssen, um als Sohn dieses Fleckens nicht Autor märchenhaft-fantastischer Bücher zu werden. Seine Dissertation schrieb Augustin über »Das elementare Zeichnen bei den Schizophrenen«. Er arbeitete als Unfallchirurg, danach in der Neurologie und Psychiatrie der Ost-Berliner Charité. Nach seiner Flucht aus der DDR im Jahr 1958 arbeitete er an Orten, die damals am Rand der europäischen Wahrnehmung lagen: im afghanischen Kandahar beispielsweise. Er bereiste Pakistan und Indien, die Türkei und die Sowjetunion. Hernach wirkte er bis 1962 als Stationsarzt an der Münchner Universitäts-Nervenklinik; bis 1985 verfasste er psychiatrische Gutachten. Im Jahr 2009 musste er sich eines Tumors wegen einer Hirnoperation unterziehen, in deren Folge er erblindete.

Augustin ist fünfundachtzig Jahre alt. »Robinsons blaues Haus« soll, wie er selbst sagt, sein letzter Roman sein, sein abschließender Reisebericht, wird man denken dürfen, die retrospektive Fahrt in die farbenprächtigen Weltinnenräume eines Mannes, dem sich die äußere Welt verdunkelt hat.

Der Ich-Erzähler ist Bankangestellter, aber alles andere als ein fixierter Schalterbeamter. Er kommt herum: nach Luxemburg (sowieso), nach London und New York, auch auf die Südseeinseln. Warum? Er ist, wie es scheint, auf der Flucht. Er hatte einen Vater, dessen Beruf offenbar gefährlich war. Es geht, wie sich dem Leser nach und nach erschließt, um Geld, schlimmer noch: um viel Geld. Um krummes Geld, ja, und um Summen, die sich gewaschen haben oder, auch möglich, vom Vater gewaschen worden sind.

Der Ich-Erzähler macht eine Ausbildung bei der Bank und tritt in die Fußstapfen seines Vaters, der ihm einen mysteriösen Code nebst reichhaltig Kapital vermacht hat. Auf das väterlich vermachte Geld erheben aber auch andere Anspruch. Ist also die Angst vor Verfolgern berechtigt? Ist das Versteckspiel notwendig, um zu überleben?

Oder naht die Erlösung per Knopfdruck? »Es gibt ja noch den Knopf an der Tastatur, den ich drücken kann oder nicht drücken kann. Und wenn ich ihn drücke, wird alles gelöscht sein. Alle Verbrechen und alle Vergehen, alle Bankkonten und Depots, sämtliche Anbindungen, Vernetzungen und Verquickungen mit all dem Geld auf dieser Welt. Mit allen Kredit-, Pfand- und Verschreibungsinstituten, allen Anleihen und Gegenanleihen und den Investitionen in die Staaten Sambesi und Kiribati … Nicht zu reden von Goldbeständen … Und schon gar nicht von Lombard- oder Finsbury-Optionen, die sowieso nur fiktiv bestehen, und das Ganze auf Knopfdruck: ›Erase‹, Löschen.« Am Ende begegnet auch dieser Robinson seinem Freitag leibhaftig, und dieser Freitag ist niemand anderes als sein »höchst privater Tod«.

Augustin hat großartige Romane geschrieben. An dieser Stelle möchte ich nur »Eastend« erwähnen, den ich für ein Jahrhundertbuch halte, ebenso brillant wie gläsern im Stil, menschenkundig, leidenschaftlich, voller Entdeckerfreude und, was das Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Fantasie angeht, ausbalanciert wie weniges in deutscher Sprache. »Robinsons blaues Haus« scheint mir nicht mehr ganz so unverrückbar im Leben zu stehen wie dieses »Eastend« damals, wirkt in seinen Spielzügen losgelöst, fast transzendent. Natürlich geht es hier um den Tod, um die zusehends schwindende Distanz zwischen Diesseits und Jenseits, und darum, dass irgendwann alle Besenkammern unserer Luftschlösser und Wolkenkuckucksheime nicht mehr hinreichen, um sich vor dem Unabwendbaren zu verbergen. Kein fröhliches Buch, aber eines, mit dem ein großer Autor uns Gravierendes zu lesen leicht macht.

Ernst Augustin: Robinsons blaues Haus • Roman · C. H. Beck, München 2012 · 319 Seiten · € 19,95

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