15. April 2014 1

Die Kunst des Wegdenkens

Oder: Kultur ist das, was übrig bleibt – eine Kolumne von Hartmut Kasper

Lesezeit: 3 min.

In meines Vaters Nachtschränkchen verwahrte er, was in jenen Tagen zur Grundausrüstung eines gestandenen Arbeiters gehörte und man deswegen gern nah bei der Hand hielt: Socken, Unterhosen, Manschettenknöpfe und Taschentücher. Während die Unterwäsche eher privaten Charakters waren, trug man Manschettenknöpfe, zog man das Taschentuch auch in der Öffentlichkeit, war beides also ein dezentes Visitenkärtchen des Mannes. 

War übrigens beides auch eine gute Antwort auf die alljährliche Frage, was man Vater zum Geburtstag oder zu Weihnachten schenken sollte. Versteht sich, dass die Knöpfe darum Schmuck, und die Tücher nicht aus billigem Stoff oder fadenscheinig waren. Und beide, Knopf wie Tuch, schienen so zukunftssicher: Kaum vorstellbar, dass nicht auch meine Kinder mich eines damals noch fernen Tages mit Taschentüchern oder Manschettenknöpfen überraschen würden.

Falsch gedacht.

Sicher, noch immer sind Manschettenknöpfe im Handel. Es gibt sie aus schnödem Gold und Silber mit Diamantensplittern darin; es gibt sie sogar in Form von Darth-Vader-Figuren, Todessternen (stark verkleinert) oder Meister-Yoda-Köpfen aus Palladium. Aber aus dem unfeierlichen Alltag sind diese Accessoires doch weitgehend verschwunden. Und wer sich im 21. Jahrhundert schnäuzt, benutzt dazu in aller Regel Papiertaschentücher ‒ auch wenn diese neuerdings mit einem „Cotton Toch“ daherkommen.

Die alten Utopisten haben die Zukunft als ein technisches Schlaraffenland gesehen, voller Maschinen, die uns weiter, höher, schneller voranbringen, wohin auch immer. Zukunft, das galt als ausgemacht, würde die Menschenwelt apparativ bereichern. So ist es denn auch gekommen: Unsere Welt ist ein Lunapark wundersamer Gerätschaften. Nicht einmal das Orakel von Delphi hat in seinen kühnsten Gesichten die BlueRay-Disc vorausgesehen, den Laserpointer oder den funkgesteuerten Indoorhelikopter.

Aber der maschinelle Zugewinn ist nur die halbe Wahrheit. Die Zukunft ist auch die Zeit, aus der die hier und heute selbstverständlichen Dinge verschwunden und vergessen sein werden. Hätten wir uns damals beispielsweise ein Leben ohne Bonanza und die wöchentliche Ration Fix und Foxi vorstellen können? Abende ohne Schweinchen Dick, musikalische Unterweisung ohne Ilja Richter ‒ Licht aus! Whoom! Spot an! Jaaa …! ‒ ohne den großen Ilja Richter, den die nachgewachsene Generation nur noch als die deutsche Stimme von Mike Glotzkowski aus der Monster AG kennt?

Und für viele (nicht für mich) war ein politisches Dasein ohne lange Haare, ja, ohne Haare überhaupt undenkbar? All dies: gone with the wind of change.

Nicht ausgeschlossen also, dass unsere Ahnen in fernen Tagen ihre Speise nicht mehr mit Maggi würzen, jener Sauce, die der brave Julius Maggi anno 1887 zum ersten Mal angerührt hat und die es also jetzt bereits länger gibt als die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Finnland, hört man, sei auf dem Weg, die kleinsten Kupfermünzen abzuschaffen; manche Staaten möchten das Bargeld überhaupt loswerden und Geld in ein rein metaphysische Medium verwandeln.

Schon Iain M. Banks, einer der großen visionären Wegdenker, hat mit seiner Kultur eine geldlose Gemeinschaftszivilisation imaginiert.

Und der Sänger und Gitarrist der Liverpooler Kapelle The Beatles sang schon im Jahr 1971:

„Imagine no possessions“, und
„Imagine there’s no countries
It isn’t hard to do
Nothing to kill or die for
And no religion, too.“

No religion? Nun ja. Wahrscheinlich werden sich bestimmte Produkte der menschlichen Zivilisation auch in Zukunft als besonders zäh erweisen: das Hoffen auf den Erlöser, möge man ihn sich als grundgütigen Messias vorstellen (eine immerhin schöne, humane Version) oder als sechs Richtige mit Superzahl.

Auch Tri Top fiele mir dazu ein, oder die Anno 1902 vom Reichstag beschlossene Schaumweinsteuer zur Finanzierung der kaiserlichen Kriegsflotte, die noch heute und Jahrzehnte nach dem Untergang der kaiserlichen wie anderer Kriegsflotten wackere hunderte von Millionen Euro ins Staatssäckel spült, beinahe ewigkeitstauglich erscheint, wenn sie nicht überhaupt schon Weltkulturerbe ist. Wahrscheinlich.

Der wahre Utopist aber wird sich im Wegdenken noch des Unwegdenkbarsten üben.

Kommentare

Bild des Benutzers BenFlavor

"Der wahre Utopist aber wird sich im Wegdenken noch des Unwegdenkbarsten üben." Ein wunderschöner Satz. Schapoo (wie man so sagt, aber mitnichten schreibt).

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