17. August 2014 2 Likes

Usoni!

Im Sommer der Flüchtlinge: Was uns eine kleine Insel im Mittelmeer über unsere Zukunft sagt - Eine Kolumne von Sascha Mamczak

Lesezeit: 3 min.

August. Urlaubszeit. Erinnern Sie sich noch an den magischsten, verträumtesten, faszinierendsten Ort, an dem Sie je Ihre Ferien verbracht haben? In meinem Fall war dieser Ort eine wenige Quadratmeter große Insel zwischen Sizilien und Tunesien, eine Insel, auf der sich südeuropäische und nordafrikanische Kultur auf ganz einzigartige Weise vermischt haben, auf der die Strände und Buchten im blauen Licht der Mittelmeersonne schimmerten, als wäre dort nie ein Mensch, geschweige denn ein Tourist, je gewesen, und auf der es in dem verschlafenen Hafenstädtchen zur Abendunterhaltung ein Freiluftkino gab, das unter einem überwältigenden Sternenhimmel einen ganz anderen Blick auf die Kunst des Films ermöglichte als im heimischen Wohnzimmer.     

Diese Insel, auf der ich vor zehn Jahren war, hieß Lampedusa.

So heißt sie natürlich immer noch, aber es ist nicht mehr dieselbe Insel wie vor zehn Jahren. Heute ist Lampedusa kein Ferienort mehr, sondern ein Brennpunkt der internationalen Politik. Ein Flüchtlingslager. Ein Friedhof. Heute ist Lampedusa eine zur Gegenwart gewordene Zukunft, die sich vor nicht allzu langer Zeit so anhörte: Die Armen, Vertriebenen, Gepeinigten dieser Erde stehen vor den Toren der westlichen Welt und begehren Einlass. Sie haben für uns unvorstellbare Risiken und Entbehrungen auf sich genommen, um bei uns nach einer besseren Zukunft für sich und ihre Familien zu suchen – und wir halten die Tore geschlossen. Etliche Science-Fiction-Romane und –Filme haben eine solche Zukunft beschrieben (am nachhaltigsten im Gedächtnis geblieben ist mir Lucius Shepards „Leben im Krieg“ aus den 1980er Jahren). Praktisch nichts davon ist mehr Science-Fiction.

Selbstverständlich reden wir hier nicht nur über eine kleine Insel – oder über so bizarre Exklaven wie das spanische Melilla in Marokko -, sondern über einen Zusammenprall von Arm und Reich, der sich wie eine manchmal unsichtbare, oft aber auch wehrtechnisch befestigte Demarkationslinie um den Planeten zieht: USA/Mittelamerika, Australien/Südasien, Europa/Maghreb. Doch Lampedusa steht symbolhaft für einen Abschnitt in der Geschichte der menschlichen Zivilisation, den spätere Historiker vermutlich einmal als Kippmoment oder Achsenzeit bezeichnen werden: jene Zeit, in der eine wirklich globale (und nicht nur ökonomisch globalisierte) Welt entstand. Das wäre das positive Szenario. Das negative wäre die simple Extrapolation des jetzigen Zustands: Die Armen, Vertriebenen, Gepeinigten dieser Erde begehren nicht nur Einlass, sondern sie verschaffen sich Einlass – und kein Smartphone, kein Computerspiel, keine High-Tech-Drohne wird das verhindern können.

Wenn ich die Formel dafür wüsste, wie man dieses negative Szenario verhindern könnte, würde ich es Ihnen sagen. Aber in der internationalen Politik gibt es leider keine Zauberformeln, und nicht jeder Konflikt lässt sich in ein Schema pressen, das dem Westen die Verantwortung für sämtliche Unbill zuschiebt. In der internationalen Politik, schon immer, aber ganz bestimmt nach dem Ende der Ost-West-Polarität, kann man nur kleine Schritte tun und hoffen, dass sich daraus einmal ein großer, positiver Schritt ergibt. Und dazu gehören auch kleine Schritte hinter der Demarkationslinie – dort, wo wir leben. Denn nach wie vor leben wir dort gut, weil andere Menschen – von denen nun immer mehr zu uns kommen – gnadenlos günstig für uns arbeiten. Wenn Sie in einem Laden einer westlichen Modekette ein T-Shirt für € 1,99 sehen, dann sehen Sie gleichzeitig, was jenseits der Demarkationslinie geschieht: Ausbeutung, Sklaverei, Umweltzerstörung. Und Sie sehen, was einer dieser kleinen Schritte sein könnte: nämlich dieses T-Shirt nicht zu kaufen. Und viele, ganz viele dieser Schritte wären dann der große Schritt: jenen Menschen, die unseren Lebensstandard mitfinanzieren, endlich den Respekt zu zollen, den sie verdienen.

Auch dafür, für diesen Respekt, wird Lampedusa hoffentlich einmal ein Symbol sein. Jetzt, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, ist die Insel ein Menetekel – und ganz bestimmt kein Urlaubsziel mehr. Wie mag es dort wohl jetzt sein? Funktioniert diese besondere kulturelle Mischung noch? Schimmern die Strände immer noch so wundervoll? Gibt es das Freiluftkino noch, und wenn ja, was wird dort gezeigt? Vielleicht jene unlängst gedrehte, kenianische Science-Fiction-Serie mit dem Titel „Usoni“, in der Millionen von Europäern von ihrem durch einen Vulkanausbruch zerstörten Kontinent fliehen, auf Lampedusa löchrige Schiffe besteigen und ihr Heil in Afrika suchen. „Usoni“ ist ein suahelisches Wort.

Es bedeutet: Zukunft.

Sascha Mamczaks Buch „Die Zukunft - Eine Einführung“ ist im Shop erhältlich.

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