1. September 2014 1 Likes

Copyright-Dystopie

Cory Doctorows neuer Roman „Pirate Cinema“ auf Deutsch

Lesezeit: 3 min.

In „Pirate Cinema“ (im Shop) von Internet-Ikone und Copyright-Revoluzzer Cory Doctorow, das gerade als klotziges Paperback sowie als platzsparendes E-Book auf Deutsch erschienen ist, bekommt die im Norden Englands am Existenzminimum herumkrebsende Familie des 16-jährigen Trent McCauley das Internet abgestellt, weil Trent sich zu viele Filme illegal heruntergeladen hat, um mit Szenen aus diesen Streifen eigene Mashup-Videos zu remixen. Daraufhin läuft Trent von zuhause fort und erfindet sich in London unter Hausbesetzern, Obdachlosen und politischen Aktivisten neu. Als die großen Filmstudios dafür sorgen, dass ein von Korruption vorangetriebenes Gesetz die Situation um das Urheberrecht in Großbritannien noch weiter verschärft, hat Trent die Schnauze endgültig voll und sagt dem System und den Lobbyisten mit seiner Kreativität, seinen Freunden und seinem Ruf als bald schon populärster Vertreter des Londoner Underground-Piraten-Kinos den Kampf an – ein Schlagabtausch ums Urheberrecht beginnt…

Cory Doctorow gelingt rein vom Setting her etwas Erstaunliches: Denn die Grenzen zwischen Realität und Science-Fiction verwischen in seiner bestenfalls eine Handvoll Jahre in der Zukunft Englands angesiedelter Dystopie, in der das Polizeiwesen zum Teil privatisiert ist und Medienkonzerne im britischen Parlament scheinbar ohne Mühe Daumenschrauben-Gesetze durchdrücken, die digitale Teil-Entlehnung härter bestrafen als physische Gesamt-Entwendung. Beim Lesen muss man zwischendurch mehr als einmal überlegen, wo Doctorow jetzt einen krassen, realen, gegenwärtigen Ist-Zustand (wie das Three Strikes-Gesetz) beschreibt oder wo er eine zeitgenössische Tendenz auf so glaubhafte und plausible Art und Weise extrapoliert, dass man das, was er in der nahen Zukunft seines Buches schildert, als beängstigende und unglaubliche, nichtsdestotrotz realistische Tatsache und somit Gegenwart zu akzeptieren bereit wäre.

Doch „Pirate Cinema“, das von der Libertarian Futurist Society den Prometheus Award 2014 für das beste Werk zur Förderung libertärer SF verliehen bekommen hat (als Doppelsieger mit Ramez Naams „Nexus“), ist nicht perfekt. Die eine oder andere erzählerische Schwäche und hundert Seiten zu viel? Geschenkt! Dafür erklärt niemand so schön technische Gadgets und Gefahren wie der 1971 geborene Kanadier, der seit 2011 die britische Staatsbürgerschaft hat. Allerdings sitzt Mr. Doctorow inzwischen schon ein wenig in der Klemme: Einerseits erwarten Fans und Leser von seinem neuesten Roman ganz bestimmte Dinge, Themen, Elemente und Schwerpunkte, die zusammen ein klar erkennbares Doctorow-Muster und eben „den nächsten Doctorow“ ergeben. Andererseits ist die Story-Formel seiner All-Age-Wälzer mit den Jugendbuch-Allüren inzwischen etwas zu leicht zu entschlüsseln, sind sich seine Bücher vom Aufbau und Schema und der Polemik her ein bisschen zu ähnlich, und so gibt es erste Abnutzungserscheinungen zu verzeichnen, egal wie sympathisch der jugendliche Ich-Erzähler beim Genuss der ersten Liebe oder im Kampf gegen das System ist.

Und ehrlich gesagt ist es auch ein wenig verträglicher, wenn Doctorow in anderen Romanen auf den Überwachungsstaat eindrischt, als wenn er bedingungslose digitale Copyright-Anarchie predigt, gleichwohl das ja schon immer sein Lieblingsthema gewesen ist, dem er einen Großteil seines Standings verdankt, wie man fairerweise sagen muss. Überdies macht Doctorow es sich in „Pirate Cinema“ – das er übrigens Walt Disney („Remix-Künstler, getriebener Weirdo, Public-Domain-Enthusiast“) gewidmet hat – selbst schwer: Erst nach gut der Hälfte des Romans, auf Seite 270, definiert Doctorow durch seinen Protagonisten seine in diesem Buch propagierte Sicht des Verhältnisses von Urheberrecht, Kreativität und Kunst im digitalen Zeitalter. 

So negativ und mäkelnd soll das letztlich jedoch alles gar nicht klingen: „Pirate Cinema“ ist über weite Strecken ein guter Roman, selbst wenn man ihn sich ein Stück weit ausrechnen kann und er ein paar Seiten zu viel hat – nicht Doctorows bestes Werk und im direkten Vergleich z. B. schwächer als „Homeland: Little Brother“ (im Shop), aber zweifellos eine lohnenswerte Lektüre mit dem Finger am Puls der kulturellen, medialen und technologischen Entwicklungen und den daraus resultierenden Anpassungsschwierigkeiten.

Cory Doctorow: Pirate Cinema • Heyne fliegt, München 2014  • 512 Seiten • € 14,99

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.