16. September 2014 4 Likes

Physik-Fiction ist nicht genug

Warum wir unser Bild von Science-Fiction unbedingt erweitern sollten – Eine Kolumne von Adam Roberts

Lesezeit: 5 min.

Wenn wir von Science-Fiction reden, meinen wir fast immer „Physik-Fiction“, insbesondere „Technologie-Fiction“ und „Ingenieurs-Fiction“ und gelegentlich auch „Biologie-Fiction“. Was ziemlich kurzsichtig von uns ist. Die Physik ist der Bereich der Wissenschaft, der sich mit materiellen Objekten von jeder erdenklichen Größe beschäftigt; mit ihrer Bewegung durch die Raumzeit und den Kräften und Energien, die diese Bewegungen definieren. Sie ist die Schlüsseldisziplin hinter fast allen Ingenieurswissenschaften und Technologien – und diese beiden Gebiete wiederum stellen die Basis der Science-Fiction dar. Wenn Jules Verne in De la Terre à la Lune (1865) beschreibt, wie ein Raumschiff aus einer gigantischen Kanone zum Mond geschossen wird, dann extrapoliert er die Newtonsche Physik, um Science-Fiction zu schreiben. Genau genommen extrapoliert er nur einzelne Elemente der Newtonschen Physik (die Physik lehrt uns nämlich auch, dass jede Kraft eine Gegenkraft hervorruft; zum Beispiel würde dieselbe Kraft, die entsteht, wenn das Raumschiff ins All geschossen wird, als Gegenkraft auf die bedauernswerten Astronauten einwirken und sie zu Erdbeermarmelade zerquetschen). Aber das ist nicht so schlimm: Wir verlangen von unserer „Physik-Fiction“ ja nicht, dass sie sich immer streng und konsequent an die Naturgesetze hält.

Wenn in der Science-Fiction gewaltige Strukturen und Gebilde ins Spiel kommen – Weltraumlifte, Sternenzerstörer, Dyson-Sphären – handelt es sich um Ingenieurs-Fiction und damit im Grunde um Physik-Fiction. Wenn es um Raumzeit, Warpantriebe und Zeitreisen geht, ist es Physik-Fiction. Wenn darüber spekuliert wird, wohin sich gegenwärtige Technologien in der Zukunft entwickeln werden, dann geschieht das nach den Vorgaben der Physik.

Natürlich ist die Physik nicht die einzige Wissenschaft. Manche Science-Fiction-Autoren spielen sehr kreativ mit dem Instrumentarium anderer Wissenschaften. „Biologie-Fiction“ zum Beispiel handelt von außerirdischen Lebensformen oder Genmanipulation. Manche Science-Fiction-Autoren sind Experten auf diesem Gebiet: Der britische Schriftsteller Paul McAuley zum Beispiel war Biologe, bevor er sich ganz dem Schreiben von geistreichen und plausiblen Romanen über die Zukunft seiner Disziplin widmete. Im Großen und Ganzen sind die meisten Leser jedoch keine Spezialisten auf dem Gebiet der Chemie und Biologie und auch nicht böse, wenn man es damit nicht allzu genau nimmt. Manchmal reicht es schon, ein „Nano-“ vor ein Wort zu stellen, um einer bestimmten fiktionalen Erfindung, die eigentlich nichts anderes ist als Zauberei, den Anstrich von Wissenschaftlichkeit zu verleihen. Studierte Chemiker und Biologen würden dabei jedoch nur die Augen verdrehen. Vor ein paar Jahren bezeichnete der Biochemiker Andrew Sun die Chemie in der Science Fiction als „unterschätzte Allmacht“.

Die Dominanz der Physik-Fiktion lässt sich mit dem gesunden Menschenverstand erklären. Wir alle leben und bewegen uns in einem Newtonschen Universum; was bedeutet, dass wir die Physik des Weltraums in einem Film wie Gravity (2013) intuitiv begreifen. In der Biochemie ist dies nicht ohne weiteres möglich. Ihre Funktionsweise widerspricht oft der Intuition, außerdem findet sie meist in mikroskopischem Maßstab statt und ist hochkomplex, beispielsweise der Prozess, mit dem ein genetischer Code kopiert wird. Ziemlich trockene Materie. Da ist der Biss einer „radioaktiven Spinne“, die einem menschlichen Körper außergewöhnliche Kraft und Wendigkeit verleiht, um einiges dramatischer.

Eigentlich keine besonders inspirierende Vorstellung, unterstellt sie doch, dass man bei uns Science-Fiction-Fans ein eher grobes Verständnis von der Wissenschaft voraussetzt. Um die Lektüre unserer Lieblingsliteratur angemessen genießen zu können, müssen wir über ein bestimmtes Maß an Wissen verfügen, aber wir dürfen nicht zu viel wissen.

Physik, Chemie und Biologie sind jedoch nur ein kleiner Teilbereich der Wissenschaften, die man in der Science-Fiction behandeln könnte. Und dabei meine ich nicht die Geistes- und Sozialwissenschaften, sondern ganz andere Disziplinen, die gelegentlich Gegenstand von Science-Fiction-Romanen waren, insgesamt aber eher stiefmütterlich behandelt werden. Die Mathematik etwa. Edwin Abbott Abbotts Novelle Flatland von 1884 ist wohl das erste  Beispiel einer dezidiert „mathematischen Fiktion“, in der das Leben in einer zweidimensionalen Welt beschrieben wird und tiefschürfende Überlegungen zur Dimensionalität insgesamt angestellt werden. Auch zeitgenössische Autoren widmen sich hin und wieder dem Thema. Rudy Rucker beispielsweise schrieb eine Quasi-Fortsetzung zu Flatland namens Spaceland (2002); auch in seiner Ware-Serie ist viel Mathematik zu finden (Software, 1982; Wetware, 1988; Freeware, 1997; Realware, 2000). Ruckers bestes Buch ist meiner Meinung nach jedoch Weißes Licht (1980), ein mutiger Versuch, das mathematische Konzept der Unendlichkeit mit fiktionalen Mitteln darzustellen, ohne den Leser zu überfordern.

Doch wo sind die anderen Mathe-Fi-Meisterwerke? Was ist mit den übrigen Wissenschaften? Wer schreibt Romane, die die Chiralität zum Thema haben? Oder die Statistik? Die Wahrscheinlichkeitsberechnung? Was ist mit „Logik-Fiction“, also Geschichten, die sich aus den vielen Möglichkeiten der Induktion, Abduktion und Deduktion herleiten?

Die Topologie wird nur insofern in der Science-Fiction verwendet, um die inzwischen zur Konvention gewordene Vorstellung zu untermauern, dass der Raum „gekrümmt“ werden kann. So wird das Einsteinsche Diktum umgangen, dass nichts schneller als Licht ist. Dabei ist die Topologie auch sonst ein durchaus interessantes Gebiet. Wo, um nur ein Beispiel zu nennen, bleibt der große Roman über das Banach-Tarski-Paradoxon?

Auch die Ophthalmologie ist eine Wissenschaft. Trotzdem ist mir keine Ophthalmologie-Fiction bekannt. Wieso nicht? Die Lebensmittelwissenschaft behandelt sozusagen unser tägliches Brot; in der SF scheint die Nahrung jedoch auf den bunten Brei beschränkt zu sein, den die Astronauten der Zukunft angeblich essen. Wer extrapoliert unsere Ernährungsgewohnheiten und begründet damit ein völlig neues Genre?

Die Sozialwissenschaften habe ich außen vor gelassen, da mir bewusst ist, dass sie viele Naturwissenschaftler nicht für „richtige“ Wissenschaften halten. Erstaunlicherweise wurden jedoch gerade sie in der SF erschöpfend behandelt. Seit Ursula K. Le Guin haben die Anthropologie und die Linguistik ihren festen Platz in der Science-Fiction. Doch auch hier gibt es noch weiße Flecken auf der Landkarte: „Ökonomie-Fiction“ könnte über neue wirtschaftliche Systeme jenseits von Kapitalismus und Kommunismus spekulieren; trotzdem schreibt niemand darüber (das einzige Werk, das man meiner Ansicht nach als Ökonomie-Fiction beschreiben könnte, ist Francis Spuffords Rote Zukunft von 2010). Die Rechtswissenschaft als quasi-wissenschaftlicher Themen- und Systemkreis wird bevorzugt im Krimi und Thriller behandelt, aber kaum in der SF. Wieso nicht?

Die Science-Fiction lebt schließlich von der erzählerischen Freiheit, durch die wir den Alltag hinter uns lassen können. Warum schöpfen wir diese Möglichkeiten nicht bis zur Neige aus?

Was mich wieder zur Physik zurückbringt. Die Definition am Anfang dieses Artikels ist irreführend simpel. Das Wort Physik leitet sich vom griechischen φύσις phúsis ab, was so viel wie „Natur“ bedeutet. Etymologisch gesehen beinhaltet die Physik also die Gesamtheit der natürlichen Welt – das Sichtbare und das Unsichtbare, das Intuitive und das Kontraintuitive. Physik-Fiction sollte also eine Literatur über alles Mögliche sein. Aber noch ist es ja nicht zu spät …

Adam Roberts ist Science-Fiction-Autor und Dozent für Englische Literatur an der University of London.

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