25. September 2014 3 Likes

True Detective und der wahre Kosmische Horror

Wir, die Alten Götter

Lesezeit: 22 min.

Wie kosmisch ist der Horror im HBO-Serienmeilenstein True Detective? Nur eine der Frage, die sich auf der Suche nach den losen Handlungsfäden der Mörderjagd im morbiden Süden der Vereinigten Staaten stellt. Eine Fantheorie mit Spoilern! 

Fantheorien zu Serien sind ein vergleichsweise neues Phänomen. Sicher gab es auch bei Dallas hitzige Diskussionen, wer denn nun JR Ewing erschossen hat und ohne Frage war das Mitraten bei der Mörderjagd von Inspektor Colombo, Jessica Fletcher und Dr. Quincy immer fester Teil des Seherlebnisses. Als integraler Baustein, mit dem sich das Publikum mit den Ambiguitäten der Narrative auseinandersetzen sollte, die eben über den unmittelbaren Akt des Schauens hinausgingen, war David Lynchs enigmatisches Twin Peaks ein erster Übergangspunkt zwischen Krimi-Rätseln und tieferer Auseinandersetzung mit Subtext, Motiven und Figuren. Dicht gefolgt von Akte X, die als Serienhit ertsmals die aus Ungewissheit geschnitzten Gewissheiten der paranoiden Gesellschaftsränder in den Mainstream zerrte und das Publikum sich über offene Plotlöcher aktiv mit der Handlung auseinandersetzen ließ. Zur Perfektion trieben dieses Phänomen dann Damon Lindelof und JJ Abrams mit Lost: Über vermeintliche Zufälle, Übereinstimmungen und Verschränkungen von Handlungsfäden und Details luden die Serienschöpfer das Publikum sehr offensiv zur Auseinandersetzung mit der fiktiven Welt der Mystery-Serie ein. Das ARG – das in den USA über verschiedene Aktionen auf die Spitze getrieben Alternate Reality Game – holte die Fiktion über Telefonaktionen, in den Werbeblöcken versteckte Nachrichten oder den realen Webseiten erfundener Firmen in den Alltag des Publikums. Der Umstand, dass viele der angeschnittenen Mysterien der Serie letztlich nie geklärt wurden, legt nur nahe, dass es den Autoren und Schöpfern eben um die aktive Auseinandersetzung mit ihrem Stoff ging, weniger um die Auflösung und endgültige Klärung.

Mittlerweile sind Fantheorien – entsprungen aus absichtlichen oder unabsichtlichen Auslassungen, empfundenen Zusammenhängen oder vermeintlich geknackten, in der DNA der Serie hinterlassenen Codes –  zum festen Bestandteil der TV-Kultur geworden. Ob die unbekannten und anfangs unsichtbaren Gegner in The 100, die mysteriösen Ereignisse in Under The Dome, die undurchschaubaren geheimdienstlichen Schattenspiele in The Honourable Woman oder die wahre Natur der Bedrohung in Extant – je weiter das Serienformat als eigenständige narrative Form reift und je größer die Konkurrenz untereinander wird, umso stärker scheint die Auseinandersetzung  des Publikums mit den uneindeutigen und plotverzögernden Elementen einer Serie gewünscht und aktiv als Stilmittel eingesetzt. Wenn es jedoch um eine kohärente Verbindung von vermeintlich entdeckten Motiven, Allegorien und Symbolismen geht, greift wohl weniger die tatsächliche Intention des Autoren, als die Resonanz, die sie beim Zuschauer hervorruft. Einerseits wird das passive Schauen zur aktiven Auseinandersetzung, die dem Publikum Aufmerksamkeit abverlangt, wenn er nach versteckten Codes und Mustern fahndet. Andererseits entzieht sich die Serie damit zumindest ein Stück weit dem Verdacht reine Ablenkung zu sein: Wir lassen uns von schnöder Unterhaltung berieseln, sondern setzen uns mit einem Werk auseinander. Kein TV-Eskapismus, sondern Kunst mit Vorsatz wird genossen.
 

Warum nun diese lange Vorrede, wenn es doch eigentlich um True Detective gehen soll? Zum einen, um nicht den Eindruck zu erwecken, sich der Serie mit einem absoluten Wahrheitsanspruch zu nähern, sondern von vorne herein festzuhalten, dass es sich hier um eine Fantheorie handelt. Zum anderen aber auch deshalb, da True Detective über seine erzählerische Struktur, seine Motive und deren Aufbereitung eben dieses Bedürfnis nach einer interpretativen Sinnsuche zu bedienen scheint. Was auf den ersten Blick zunächst nach einer erwachsenen, den Ansprüchen von Pay-TV-Sender und Serieninnovator HBO gerecht werdenden Variation des Krimithemas wirkte, ließ viele Zuseher aufhorchen, als mit einem Mal Zitate aus dem 1895 erstmals erschienen The King In Yellow auftauchten. Die paganischen Ritualmorde, denen sich Matthew McConaughey und Woody Harrelson als Ermittlerduo Rust Cohle und Martin Hart widmeten, erhielten plötzlich eine neue Dimension: Robert W. Chambers Kurzgeschichtensammlung, die als Referenz auftauchte, ist eine der literarischen Keimzellen, aus denen eine neue Spielart der Gattung der Horrorliteratur entstehen sollte – der kosmische Horror. Schon wenige Stunden, nachdem die entsprechende Folge in den USA ausgestrahlt worden war, mehrten sich auf den einschlägigen Foren und Sozialnetzwerken die Theorien der Fangemeinde, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, der Serie die letzten Geheimnisse zu entreißen. Hatte True Detective sich der Ideen und Motive der sogenannten „weird fiction“ von Chambers, H.P. Lovecraft und deren literarischen Wegbegleiter bemächtigt, in denen eine für den Protagonisten oft unerklärbare, vorahnungsreiche und bedrückende Stimmung eines kommenden, für den menschlichen Geist kaum zu fassenden Schreckens lauerte? War aus einer Krimiserie im Umfeld des Okkulten mit einigen bedächtigen Schubsern des Autors plötzlich eine Serie des kosmischen Horrors geworden? Würde zum Ende der Serie die oft als Alte Götter bezeichneten monsterhaften Kreaturen Cthulu, Azathoth oder Yog-Sothoth über die Erde wandeln und Zerstörung und Wahnsinn verbreiten?
 

Zur Enttäuschung einiger Fans: Nein. Anstatt in die Sphären des Fantastischen aufzusteigen, blieb True Detective in der Realität geerdet. Auch wenn einige Szenen wie die von Rust beobachtete Spirale aus Vögeln für einige Momente die Pforte hin zu übernatürlichen Interpretationen einen Spaltbreit öffnete – letztlich aber stets eine nachvollziehbare Erklärung parat hatte – warteten gegen Ende keine Alten Götter auf ihre Auferweckung, sondern lediglich ein psychisch derangierter Serienkiller im ländlichen Hinterland von Louisiana. Was einige der Fans jedoch nicht davon abhielt, auch weiterhin nach einer versteckten, unter der Oberfläche lauernden „echten Wahrheit“ zu suchen: War Marty in Wirklichkeit ein Mitglied des Kultes? Ging die Verwicklung von Rust mit dem Fall nicht doch weiter, als dem Publikum tatsächlich gezeigt wurde? Alles Überlegungen, die versuchten, vermeintlich lose narrative Fäden zu einem neuen Muster zu verknüpfen, das weit mehr umfassen sollte, als das, was Autor Nic Pizzolatto dem Publikum tatsächlich zeigte.

Doch bei genauerer Betrachtung und zusammen mit einigen Hinweisen und Interpretationen, die Pizzolatto in Interviews preisgab, wird deutlich, dass der kosmische Horror – speziell in Hinblick auf Chambers‘ The King In Yellow – zwar ein für die Protagonisten unfassbares übernatürliches Grauen im Sinn hat. Jedoch weniger im Sinne einer sich in die Geschichte des Serienmörders und seiner Jägern fügenden Horrors, sondern als Auseinandersetzung mit uns, dem Publikum.
 

Doch beginnen wir von vorne. True Detective trägt einige der in der Serie verankerten Ideen und Querverweise bereits in seinem Titel. Zum einen findet sich hier die offensichtliche Anspielung auf die Pulp-Romane aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Unter Namen wie True Crime, True Weird, Best True Fact Detective, True Police, True Danger und eben auch True Detective verbanden die Magazine den Wunsch der Leserschaft nach sensationslüsternen, reißerischen Stoffen mit der implizierten Verheißung unglaublicher, makabrer oder gruseliger „wahrer“ Geschichten. Letztlich stand jedoch stets ein Motiv im Vordergrund: leicht konsumierbare Unterhaltung für einen, in der englischen Sprache meist nicht besonders beschlagenen Massenmarkt zu produzieren. Ganz im Sinne der in den elitären bürgerlichen Salons Amerikas und Europas immer noch vorherrschenden strikten Trennung zwischen erbaulicher, „echter“ Literatur und dem auf schnöde Bespaßung und Ablenkung ausgerichteten Vaudeville-Theatern, Nickelodeons, Yellow Paper-Druckerzeugnissen, Comic Strips und Pulp-Romanen. Dass eben aus dieser Ursuppe der vermeintlich niedrigen Unterhaltungsinstinkte über die Brutkästen des Pulp, des Radios, der Comics und des Kinos in einer Transponierung der Themen die verschiedenen Genres der TV-Serien entstanden, soll hierbei nur als Fußnote vermerkt sein. Der Umstand, dass True Detective die Pulp-Geschichten von einst und ihren versuchten Brückenschlag zwischen Fiktion und Realität auf ganz andere Weise zitiert, zeigt sich in dem Fall von okkult motiviertem Kindesmissbrauch, der vor neun Jahren in Louisiana für Schlagzeilen sorgte und den scheinbar fiktiven Horror der Serie im nüchternen Licht der Realität erscheinen lässt: Ja, True Detective ist clever ersonnene kreative Schöpfung. Der Nährboden auf dem sie wurzelt, ist jedoch tragisch real. Der Horror der Verbrechen, dem sich Rust und Marty stellen, ist eben keine reine Erfindung, er ist allgegenwärtiger Teil der menschlichen Natur.
 

Der Umstand, dass die fantastische Literatur und die Krimiliteratur vom Anfang des 20. Jahrhunderts mit ihren Subgenres des Noir, des Science Fiction und des Okkulten immer auch die großen gesellschaftlichen Umwälzungen, die Rolle des Individuums in der Gesellschaft und ihrem System oder die durch einschneidende historische Ereignisse hervorgerufenen mentalen Verschiebungen mit einer Mischung aus Fiktion und  Pseudo-Realismus verarbeiteten, ist aus den Pulp-Romanen ebenso ersichtlich wie aus ihren literarischen Vorgängern der penny dreadfuls sowie der Kurz- und Seriengeschichten von Magazinen und Zeitungen. Womit True Detective bereits in seinem Titel einen entlarvenden Blick auf sich selbst wirft: Was wir als Publikum sehen, ist reine Unterhaltung und Ablenkung, deren exploitative Beziehung zur menschlichen Natur im Vordergrund steht.
 

Etwas spekulativer erweist sich die Verbindung zwischen Titel und Charakterentwicklungen, die nahelegt, dass es für die beiden Protagonisten Rust und Marty um die Suche nach dem „wahren Selbst“ geht; die Suche nach dem „true detective“, der in ihnen auf seine Entdeckung lauert. Marty beginnt als untreuer und dominanter Ehemann und Vater, der im Lauf der acht Episoden seine Fehler erkennt und sich in den Augen seiner Familie rehabilitieren kann. Rust begegnet uns zunächst als von Selbsthass zerfressener Nihilist, der zum Ende der Ereignisse seine selbstzerstörerischen Tendenzen ablegen konnte, um Freundschaft und sogar Optimismus zu finden. Beide müssen im Lauf der 17 Jahre, die der Fall umfasst, lernen, die Narrativen, mit denen sie sich selbst täuschen, zu durchbrechen. Marty schiebt seinen Alkoholismus auf den Fluch seines Berufs als Polizist, Rust glaubt in seinem Pessimismus an die Sinnlosigkeit des individuellen Handelns vor der Kulisse des unüberblickbar weit reichenden Bösen der menschlichen Natur. Beide werden im Laufe der Serie einen Aspekt an sich entdecken, der es ihnen erlaubt, jene Geschichten, die sie sich selbst erzählen, als Selbsttäuschung zu entlarven und eine neue, umfassendere Wahrheit zu entdecken. Eine Annahme, die Pizzolatto in seinem Interview mit Andrew Romano bestätigt:

„Everything in True Detective is composed of questionable narratives, inner and outer, from Cohle’s view that identity is just a story we tell ourselves, to the stories about manhood that Hart tells about himself, to the not always truthful story they tell the detectives investigating them.“

True Detective ist eine Geschichte über Geschichten. Doch wie sich zeigen soll, nicht nur eine Geschichte über die Geschichten, mit denen sich die beiden Hauptfiguren ihre Welt konstruieren, sondern vor allem eine Geschichte über die Geschichten, mit denen wir als Publikum uns beschäftigen. Einer der Schlüssel dazu scheint der in der Serie zitierte The King In Yellow zu sein; zum einen, da er über die Ebene des kosmischen Horrors als Plot hinaus weist, zum anderen, da die Kurzgeschichtensammlung den Weg in Richtung einer meta-narrativen Perspektive ebnet. Die Verbrechensaufklärung ist zwar Hintergrund, vor dem sich die Charaktere von Rust und Marty entwickeln, letztlich bleibt sie aber – wie in der letzten Folge klar vor Augen geführt – eine Sisyphusarbeit: Der Mörder Errol Childress ist zwar zur Strecke gebracht, das grauenhafte Netzwerk, für das er arbeitete, bleibt jedoch unangetastet.  Selbst Marty merkt gegen Ende der Serie an, dass es gar nicht darum gehe, alle Bösewichter zur Strecke zu bringen, es geht nur darum, „ihren“ Bösewicht zu fassen.

In diesem Punkt schwingt die Referenz zum kosmischen Horror von Chambers, H.P. Lovecraft und Thomas Ligotti sehr stark mit: Die Beseitigung des Bösen, ja selbst ihre Fassbarkeit durch den Protagonisten, scheint unmöglich. Doch der kosmische Horror geht über ein nicht zu greifendes kriminelles Netzwerk hinaus, schließlich geht es dabei stets um die Erkundung einer Wahrheit, die zu schrecklich, zu sehr gegen die scheinbar unverrückbaren Regeln von Natur und Naturgesetzen läuft, als dass sie mit dem begrenzten menschlichen Geist fassbar ist. Oder wie es in dem auf Loveraft’schen Schöpfungen beruhenden Rollenspiel Call Of Cthulu einst prägnant als kausaler Zusammenhang in den Regeln festgeschrieben wurde: Je mehr die Figuren über die Schrecken der Alten Götter erfahren, umso näher kommen sie dem Wahnsinn. Weniger direkt drückt es Lovecraft selbst in seiner Definition des „kosmischen Horrors“ aus: „Eine bestimmte Atmosphäre des atemlosen und unerklärlichen Schreckens vor externen, unbekannten Mächten. Eine böswillige und sehr bestimmte Aussetzung oder Aushebelung der festgeschriebenen Naturgesetze, die unser einziger Schutz vor den Attacken des Chaos und der Dämonen … sind.“ Der kosmische horror zeigt sich dabei immer auch als ein existenzialistisches Grauen – die absolute und unverrückbare Insignifikanz der menschlichen Existenz im Angesicht der jenseits seines Verständnishorizonts, jenseits seiner penibel konstruierten Narrativen lauernden Mächte. 

Die Verbindung zum The King In Yellow scheint sich jedoch nicht vorrangig auf eine Art des unfassbaren Schreckens zu beziehen, die innerhalb der Dimension der Narration liegt. In Robert W. Chambers Kurzgeschichtensammlung ist ein Theaterstück das verbindende Element. Ein Theaterstück, das denselben Titel wie das Buch trägt – The King In Yellow – und das jeden, der es in seiner Gesamtheit liest, wahlweise in den Wahnsinn treibt oder zu wahnsinnigen Taten bewegt. Chambers Werk – massgeblich beeinflusst in einigen der Ortsbezeichnungen innerhalb des Theaterstücks  von Ambrose Pierce An Inhabitant of Carcosa – wurde wiederum von H.P. Lovecraft und seiner literarischen Gefolgschaft aufgegriffen, der Elemente wie das „Gelbe Zeichen“ oder den See von Hali sehr beiläufig in seiner Geschichte Der Flüsterer im Dunkeln oder dem Horrorgedicht Fungi From Yuggoth erwähnt.

Bei Chambers jedoch wird der Inhalt des Stückes, gleichzeitig Vorlage für das bei Lovecraft mit ähnlich geistesraubenden Eigenschaften versehene Buch Necronomicon,  meist nur angedeutet oder in kurzen Exzerpten zitiert. Die Idee eines Schreckens, der dem Leser vorenthalten bleibt, um dessen Vorstellungskraft anzustacheln, wird bei Lovecraft und seinen Kollegen bis zur Perfektion getrieben und findet sich bis heute im Horrorgenre wieder – die eigene Fantasie kann in ihrer unbestimmten Formlosigkeit sehr viel schrecklichere Dinge ausmalen, als sie der Autor in seiner konkreten Ausformulierung jemals erschaffen kann.

Die Handlung des schrecklichen Theaterstückes, das in Exzerpten in den verschiedenen Kurzgeschichten angedeutet wird, scheint zunächst wenig wahnsinnig machend: Ein in gelb gekleideter Mann besucht den Maskenball eines der Adelshäuser im fernen Land Carcosa. Carcosa selbst ist eine jener fremden Welten, die in ähnlicher Form bei Lovecrafts Traumreisen in Erscheinung treten – verstörend exotisch und offenbar nicht von diesem Planeten. Oder je nach Interpretation, nicht von dieser Dimension.

 

Along the shore the cloud waves break,

The twin suns sink behind the lake,

The shadows lengthen,

In Carcosa

 

Strange is the night where black stars rise,

And strange moons circle through the skies,

But stranger still is

Lost Carcosa

 

Auf dem royalen Ball gibt der Fremde Prophezeiungen des Untergangs von sich, die sich wenig später bewahrheiten sollen: Als es für die Gäste Zeit wird, ihre Masken abzulegen, stellt sich heraus, dass der Fremde keine trägt – die unmenschliche Fratze, die von den anderen Gästen gesehen wird, ist sein wirkliches Gesicht. Die Zerstörung, der in Ambrose Bierces Kurzgeschichte die Stadt befällt, wird vom King In Yellow vorhergesagt. Das in der The King In Yellow- Kurzgeschichte The Repairer Of Reputations zitierte Ende des ersten Akts des Theaterstücks deutet die Katastrophe an:
 

„…that the final moment of the first act involves the character of Cassilda on the streets, screaming in a horrified fashion, „Not upon Us, oh king! Not upon us!“

Das prophezeite Verderben, dem Carcosa anheimfällt, wird durch den King in Yellow, jene Figur eben, die nicht wie die übrigen Charaktere des Theaterstücks aus der hermetisch versiegelten, da fiktiven Welt Carcosas stammt, über die Bewohner Carcosas gebracht. Ist der Horror, den Cassilda verspürt, ein Schrecken im Angesicht der Realisation, Teil einer Geschichte zu sein? Ist die in den Wahnsinn treibende Erkenntnis der Leser des Theaterstücks eben die, nur Teil einer Geschichte zu sein? Die meta-narrativen Elemente einer Geschichte über fiktive Figuren, die realisieren, dass die Geschichten, mit denen sie die Welt um sich herum ordnen, nicht aus ihnen selbst entspringt, sondern dem Willen einer außerhalb ihrer Dimension stehenden Entität, entspringt in ihrem Kern dem kosmischen Horror. Die scheinbar unverrückbaren Naturgesetze und Regeln der von den Figuren bevölkerten Welt sind nur Erfindung, sind nur Teil einer festgeschrieben Geschichte, aus der es kein Entrinnen gibt und die der Willkür einer außenstehenden Macht unterliegt. Carcosa wird zum Symbol dieser grausamen Macht des Schöpfers über die von ihm ins Leben gerufenen Figuren und seiner Macht, diesen Figuren jedes Übel und Unheil angedeihen zu lassen, das ihm in den Sinn kommt.

Die Hinweise auf The King In Yellow und Carcosa in True Detective bergen den Keim des kosmischen Horrors. Doch nicht in der Form eines paganischen Kultes, der einen der Alten Götter heraufbeschwören will. Es ist die Erkenntnis der Figuren – zumindest die von Rust und seiner Anatagonisten – nur Teil der Kreation einer außerdimensionalen Macht zu sein. True Detective ist eine Geschichte über die Geschichten, mit denen wir unsere Wirklichkeit konstruieren.

An der Oberfläche erscheint die Handlung von True Detective trotz der verschachtelten, mehre Zeitebenen umfgreifenden Erzählart schnörkellos konstruiert: Für eine unbestimmt lange Zeit hat eine Kaste reicher und einflussreicher Bürger rund um den Tuttle-Clan satanistische oder zumindest paganische Riten zelebriert, die Ritualmord und Kindesmissbrauch umfassten. Ein illegitimer Zweig der Familie, die Childresses, ist damit beauftragt, Opfer zu finden, nachdem die bisherige Beschaffung über die Schulen und Pfarreien der von der Tuttle-Dynastie geförderten Einrichtungen eingestellt werden musste. Erroll Childress wird wahnsinnig und ruft einen Kult ins Leben, der dem King In Yellow dient und mit dem Childress eine große Nummer von Jüngern um sich schart. Als er sich mit einem öffentlich zur Schau gestellten Mord an seine Anhänger wendet, zieht er die Aufmerksamkeit von Rust und Marty auf sich. Während die Tuttles in der Folge die zu ihnen führenden Verbindungen sowie die Beziehung zu den Childresses verwischen, beginnen die beiden Ermittler über den Zeitraum von 17 Jahren, die Zusammenhänge zu rekonstruieren. Sie stoßen dabei auf das Geflecht des Bösen, bringen letzten Endes jedoch lediglich den Mörder selbst, Errol Childress, zur Strecke.

Sind wir als Publikum zufrieden? Zumindest ein Stück weit, denn die Kernelemente einer befriedigenden Geschichte sind bedient: die Helden haben das Monster zur Strecke gebracht und sich gegen das Böse behauptet. Nur eine Variation der zahllosen Geschichten, die wir uns immer und immer wieder erzählen und in denen das Böse zunächst die Oberhand zu gewinnen scheint, um anschließend scheinbar gebannt zu werden: Wie oft wurde Wendy durch die Gänge des Overlook Hotels gejagt? Wie oft wurde Jesus von den Römern zu Tode gefoltert? Wie oft wurde Luke Skywalker vom mächtigeren Vader in Das Imperium schlägt zurück seiner Hand beraubt und besiegt? Es scheint ein ewiger Kreislauf des Kampfes Gut gegen Böse, in dem das Gute zuletzt zwar offenbar gewinnt. Doch mit jeder neuen Erzählung, mit jeder neuen Aufführung, mit jedem erneuten Anschauen sind wir als Publikum zurückgekehrt an den Ausgangspunkt der Geschichte. Wir als Publikum finden Gefallen daran, die Unschuld durch das Böse zerstören zu lassen, um uns anschließend daran zu rächen und das Böse zu besiegen, das jedoch außerhalb der Rahmen der eigentlichen Geschichte liegt. Es entspringt in einer unendlichen Anzahl von Variationen aus uns selbst – als Autor und als Publikum

Die Frage nach dem „Wieso“ des Bösen, nach dem Ursprung des Übels, das die Welt befällt, hallt bereits in den Bildern von True Detective nach. Das Setting im amerikanischen Süden, jenem pastoralen Idyll des vor allem in der amerikanischen Literatur und teils auch politischen Philosophie als Garten Eden porträtierten Landes, wird von den leeren Hüllen oder architektonischen Monströsitäten aus Menschenhand dominiert: Die zerfallenden Ortschaften, die sich am Horizont aus dem satten Grün erheben, die rauchspuckenden Raffinerien, die mit Gewalt in die Szenerie gepflanzten und letztendlich dem Verderben anfallenden Ausformulierungen menschlichen Willens sind unnatürlichen Ursprungs. Die externen Mächte, die hier den Garten Eden entweihen, sind unser eigenes Machwerk, wir selbst als Spezies können nicht anders, als alptraumhafte Dinge zu erträumen, die als dämonische Kräfte die Reinheit der Unschuld zerstören. Was True Detective dabei hervorkehrt: Wir – und in diesem Kontext „wir“ als Publikum – sehnen uns nach der Desekration und der Rehabilitation. Und fordern damit im Fall von True Detective das Unglück der Protagonisten als Teil eines pervers vergnüglichen Schauspiels. Autor Nic Pizzolatto stellte im Interview diesen Aspekt ausdrückliche hervor, als es um den nihilistischen Pessimismus von Rust geht:

„Is he a man railing against an uncaring god? Or is he a character in a TV show railing against his audience? Aren’t we the creatures of that higher dimension? The creatures who can see the totality of his world? After all, we get to see all eight episodes of his life. On a flat screen. And we can watch him live that same life over and over again, the exact same way.“

Auf was Pizzolatto anspielt, ist deutlich. Jene Sätze, die Rust gleich zu Beginn der ersten Folge im Verhör mit den Ermittlern äußert, die sich 17 Jahre später dem Fall widmen:

„I think human consciousness is a tragic misstep in evolution. We became too self-aware, nature created an apsect of nature seperate from itself, we are creatures that should not exist by natural law. We are things that labor under the illusion of having a self; an acretion of sensory expoerience and feeling, programmed with total assurance that we are each somebody, when in fact we are nobody.“

Es scheint wie das Aufblitzen einer Selbsterkenntnis, dass er nur Teil einer Schöpfung ist, auf die er selbst keinen Einfluss hat. Doch was auf den ersten Blick wie purer Nihilismus wirkt, erweist sich als sehr viel unmittelbarer an uns gerichtet. Denn in Episode drei führt Rust seine Ideen weiter aus:  

„…all your pain, all your love, all your hate, all your memories, all your pain, it was all the same thing. It was all the same dream that you had inside a locked room, a dream about being a person.“

„What’s it say about life, hmmm? You gotta get together, tell yourself stories that violate every law in the universe just to get through the goddamn day. Nah. What’s that say about your reality Marty?“

„People… I have seen the finale of thousands of lives, man. Young, old, each one so sure of their realness. You know that their sensory experience constituted a unique individual with purpose and meaning. So certain that they were more than a bioclogical puppet.“

Nur um schließlich zu dem Kernsatz zu kommen:

„This is a world where nothing is solved. Someone once told me time is a flat circle. Everything we’ve done or will do, we’re gonna do over and over and over again. And that little boy and that little girl, they’re gonna be in that room again, and again, and again, forever.“

„It’s like, in this universe, we process time linearly, Forward. But outside of our space-time, from what would be a fourth-dimensional perspective, time wouldn’t exist. And from that vantage, could we attain it, we’d see our space-time look flattened, like a seamless sculpture. Matter in a super-position—every place it ever occupied. Our sentience just cycling through our lives like carts on a track. See, everything outside our dimension—that’s eternity. Eternity looking down on us. Now, to us, it’s a sphere. But to them, it’s a circle.“

Rust ist kein pessimistischer Misanthrop. Er ist einer der wenigen Charaktere, die ahnen, dass hinter dem Schleier der offensichtlichen Geschichte eine weitere Dimension lauert. Rust scheint zu spüren, dass er nur Spielball eines so masochistischen wie sadistischen ewigen Kreislaufs ist, das er nur Teil einer Geschichte ist. Dass Rust dabei nicht seine eigenen Worte wiedergibt, erfahren wir als Zuschauer erst in Folge fünf. Dort ist es der von Rust und Marty gefasste LeDoux, der diese Worte das erste Mal ausspricht, kurz bevor er erschossen wird:

I know what happens next. I saw you in my dream. You’re in Carcosa now, with me. He sees you. You’ll do this again. Time is a flat circle.

Die Erwähnung von Carcosa ist dabei eine offensichtliche Anspielung auf die meta-narrativen Elemente: Rust, Marty und LeDoux sind nicht an einem tatsächlichen Ort namens Carcosa, sie sind an jenem metaphysischen Ort, an dem der Autor über den King In Yellow für ein außerdimensionales Publikum Verderben über seine Schöpfung bringt. LeDoux und später Childress haben einen Blick auf diese Wahrheit erhascht, die sie in den Wahnsinn trieb. Oder wie Pizzolatto es in einem weiteren Interview auf den Punkt bringt:

The King In Yellow is in there because it’s a story about a story, one that drives people to madness. So it made sense – to me, at least — to allude to an external narrative that is supposed to create insanity, or as I prefer, deranged enlightenment. When I did that, a kind of secondary language began to form in the scripts, where the notion of cosmic horror became a very real part of the environment, at least for those who know Chambers’ work.“

Um an anderer Stelle mit dem Hinweis auf Yeats das selbe Thema anzusprechen:

„If you look at the symbol of the cult, the spiral, it’s also a gyre, isn’t it? The ‘widening gyre’ of Yeats‘ The Second Coming. And that’s what you’re describing: ‘The falcon cannot hear the falconer/things fall apart; the center cannot hold.’“

Marty und Rust sind unsere Falken und wir die Falkner. Mit dem einzigen Unterschied, dass Rust durch die Risse seiner Realität, seiner Geschichte, blickt und die dahinterliegende Wahrheit erahnt: Er lebt in einer Welt, deren Schicksal bereits vorbestimmt ist und gehorcht dabei den Eingebungen einer externen Macht, dem Autoren, der den realen Schrecken der Verbrechen auf seine Schöpfungen loslässt, um andere externe Mächte, uns - das Publikum, zu unterhalten. Rust und Marty müssen sich mit dem Bösen auseinandersetzen, weil wir als Publikum es so wünschen.

In einem Auftritt, der weit mehr als nur ein Cameo ist, unterhält sich Marty in einer Kneipe mit dem Barkeeper und fragt ihn geradeheraus, warum er ihn die Dinge sagen lässt, die er, Marty, von sich gibt. Dass der Barkeeper Pizzolatto selbst ist, der mit dem entlarvenden T-Shirt „Asshole“ zu sehen ist, erscheint dabei beinahe als Verspottung der nichtsahnenden Schöpfung durch ihren Schöpfer. Sehr viel stärker blickt Rust durch diesen Schleier, wenn er im Epilog der Serie meint, er wäre Childress bereits im Jahr 1995 gegenübergestanden, hätte ihn aber nicht erkennen können. Natürlich nicht, denn die Geschichte war nicht auf diese Art geschrieben gewesen.

Carcosa wird damit zu jenem Ort des unausweichlichen, da festgeschriebenen Unheils, das wir als Publikum als ewigen Maelstrom des Bösen erschaffen. Der King In Yellow in Chambers ursprünglicher Geschichte ist der einzige auf dem Maskenball, der keine Maske trägt, da er als Agent oder Avatar der Alten Götter keiner Identität innerhalb der Narrativen bedarf. Die Aufforderung von Childress kurz vor seinem Tod durch Rust, seine Maske abzunehmen – ein Echo der Konversation in The King In Yellow – zeigt dann die Ursache von Childress Wahnsinn. Er ist sich der sich ewig wiederholenden Rollen und des Kreislaufs bewusst geworden, er hat auf die andere Seite des Portals zwischen den Welten geblickt und ist sich des Autors und seines Publikum bewusst. Er hat jenen Zustand von „deranged enlightenment“ von „geistesgestörter Erleuchtung“ erlangt, der ihn erkennen lässt, dass Rust sein King In Yellow ist. Er fordert Rust auf, den Kreislauf zu durchbrechen, in dem beide auf Geheiß des Publikums gefangen sind. Doch Rust fällt eben jener Versuchung anheim, gegen die er sich zu Beginn immer noch gewehrt hat: Er tötet das Böse, findet für einen kurzen Moment Befriedigung, nur um sich selbst dazu zu verdammen, in dem Kreislauf gefangen zu bleiben.

Vor diesem Hintergrund entfaltet sich die Figur Childress zu sehr viel mehr als nur dem reinen Bösen, das wir gewohnt sind. Er wird Sinnbild für alles Böse – sein Pfeifen zu Beginn von Episode acht ist eines der offensichtlicheren Zitate des pfeifenden Kindesmörders in Fitz Langs M - Eine Stadt sucht einen Mörder –  mit einem entscheidenden Unterschied: Childress sieht den Ausweg aus seinem Schicksal und weiß um sein herannahendes Ende.

„My ascension removes me from the disc [the flattened circle] and the loop.“

Nur um anschließend mit dem Blick direkt durch die Kamera und durch uns als Publikum hindurch, auf den dahinterliegenden Fernseher hinzuzufügen:

„I can see the infernal plane.“
 

Er weiß um das Herannahen des King in Yellow Rust, der sein morbides Labyrinth, das er selbst gegenüber Rust als Carcosa bezeichnet, zum Einsturz bringen soll. Childress will sich seinem Schicksal jedoch nicht ergeben – „On Your knees now!“ schreit ihm Rust entgegen, um ein trotziges „No!“ zu ernten – sondern den Kreislauf durchbrechen, indem er den King In Yellow als Avatar der extradimensionalen Mächte, als Stellvertreter des Publikums tötet. Doch so sehr Childress die Mechanismen verstanden zu haben glaubt, so wenig kann er sich ihnen entziehen. Nur Rust und Marty haben als unsere Stellvertreter von Autor und Publikum diese Fähigkeiten. Das Messer, das Childress Rust in den Bauch rammt und mit dem er ihn in die Höhe hebt, ist wörtlich zu verstehen: Childress steht kurz davor, die Mechanismen der Geschichte auszuhebeln. Doch auch hier greift der von Tolkien beschworene Moment der Eucatastrophe, wenn eben nicht die Enthüllung des kosmischen Grauens bevorsteht, sondern das Böse in einem letzten Akt des Aufbäumens besiegt wird. Rusts getätigte Äußerung im Krankenbett, nachdem Childress besiegt ist, „I shouldn’t even be here.“, erkennt an, dass sein Überleben entgegen den eigentlich gültigen Regeln unwahrscheinlich war. Um wenig später hinzuzufügen, dass er, während er aus dem Krankenzimmer auf die Sterne blickte, realisierte, dass seine nur eine von unendlich vielen Geschichten ist.
 

Rust: „This is just one story. The oldest.“

Marty: „What’s that?“

Rust: „Light versus dark.“

Marty: „Well, I know we ain’t in Alaska, but it appears to me that the dark has a lot more territory.“

Rust: „Yeah, you’re right about that.“
 

Die letzte vom Autor seinen Kreationen untergeschobene Wahrheit, die sie selbst nicht greifen können, folgt gleich darauf.
 

Marty: „It occurs to me that your unkillable.You wanna get back and get closure or anything?“

Um schließlich Rust unter dem Sternbild des Orion – des Jägers – die abschließende hoffnungsfrohe Botschaft mit auf den Weg geben zu lassen.
 

Rust: „You are looking at it wrong, the sky and everything“

Marty: „How’s that?“

Rust: „Once there was only dark. When you ask me the light’s winning.“

Womit Pizzolatto uns als Publikum und uns als die grausamen Alten Götter freispricht, während er Rust im Moment der Eucatastrophe einen Moment den Erkenntnis schenkt, dass es durchaus einen Unterschied gibt zwischen Gut und Böse, zwischen Licht und Dunkel. Dass sich der Kampf lohnt. Ja, wir erschaffen aus unserer Obsession mit Schmerz sowie der ständig um und in uns lauernden Dunkelheit den ewigen Kreislauf aus Geschichten, in denen das Gute entgegen allen Regeln der Vernunft gegen das ungreifbar Böse triumphiert und erschaffen dabei eben jene narrativen Entsprechungen eines Kosmos voll von diesem Schmerz und dieser Dunkelheit. Doch sie erlauben uns für einen kurzen Moment, durch die Geschichten, aus denen wir unsere alltägliche Wirklichkeit über Identität, Religion oder Wissenschaft konstruieren, hindurchzuspähen auf die universellere Geschichte und Realität: Die einer unendlichen, der Liebe entsprungenen Hoffnung, die Dunkelheit zu besiegen.

Die Verbindung von Realität und Fiktion zum Zweck der ablenkenden Unterhaltung, in einer ihrer moderneren und bis heute spürbaren Formen dem Pulp-Genre entsprungen und mit dem ewigen, zyklischen Kampf vom unterlegenen Guten gegen ein übermächtiges wie unfassbares Böses, erscheint in Pizzolattos Schöpfung als heilende Kraft: Wir erahnen den existentialistischen Horror und seinen Ursprung in uns selbst. Und bekämpfen ihn, in dem wir fiktive Welten erschaffen, zerstören und immer wieder aufbauen mit nur einem Zweck: Um uns zu versichern, dass das Licht gegen die Dunkelheit siegt.

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