31. Oktober 2014 2 Likes 2

Ein Engländer auf dem Mars

Was kann es Schöneres geben als eine Wüste, die ein ganzer Planet ist? – Eine Kolumne von Adam Roberts

Lesezeit: 4 min.

In David Leans Monumentalfilm Lawrence von Arabien gibt es eine Szene, in der Prinz Feisal bin Al Hussein (Alec Guinness, der britischste aller britischen Schauspieler, ist dafür eine ärgerliche Fehlbesetzung) dem von Peter O’Toole gespielten Lawrence einen misstrauischen Blick zuwirft und sagt: „Ich glaube, Sie sind auch einer von den Engländern, die die Wüste lieben. Wie Doughty, Stanhope und Gordon von Khartoum. Kein Araber liebt die Wüste. Wir lieben Wasser und grüne Bäume. In der Wüste ist nichts. Kein Mann braucht Nichts.“

Auf dem Mars gibt es keine grünen Bäume.

Als Science-Fiction-Autor (und Engländer) muss ich gestehen, dass ich für Wüsten ähnliche Gefühle hege wie Lawrence. Ich meine allerdings eine ganz bestimmte Wüste: die des Mars, die einzige Wüste unseres Sonnensystems, die sich nicht auf der Erde befindet. Natürlich ist das eine sehr kalte Wüste und faktisch das Gegenteil von Lawrence‘ glühend heißer arabischer Halbinsel. Die Durchschnittstemperatur dort beträgt -63°C und kann bis zu -143°C fallen. Die Luft ist sehr dünn, ein schwacher Nebel aus Kohlendioxid mit winzigen Spuren von Argon und Stickstoff – erstickend und (gelinde gesagt) ziemlich unangenehm. Der Mars ist nicht nur weiter von der Sonne entfernt als die Erde, er ist auch wesentlich kleiner. Sein Durchmesser ist etwa halb so groß, und er besitzt auch eine viel geringere Dichte: Das Volumen seines Globus‘ beträgt fünfzehn Prozent des Erdvolumens, aber seine Masse nur elf Prozent unseres Planeten. Doch aufgrund eines jener Zufälle, wie sie in unserem Sonnensystem hin und wieder vorkommen, besitzt der Mars ungefähr dieselbe Landmasse wie die Erde. Der Grund dafür ist, dass der Großteil der Erde von Ozeanen bedeckt ist. Auf dem Mars gibt es keine Ozeane.

Wieso sind die Engländer so große Wüstenfans? Welcher Mann oder welche Frau liebt das Nichts? Womöglich spiegelt jene Ödnis, jene geradezu minimalistische Leere die verborgene Sehnsucht nach Vereinfachung wider, die wir in unseren englischen Herzen tragen. Für einen Engländer ist das Leben nämlich alles andere als einfach. Niemand sagt, was er tatsächlich meint: Wenn in meinem Heimatland jemand höflich sein will, drückt er sich höflich aus; und wenn er jemanden beleidigen will, drückt er sich ebenfalls höflich aus. Selbstverständlich erwartet man dann, dass das Gegenüber den Unterschied in der Intention bemerkt. Daher sind unsere sozialen Interaktionen ein niemals endender Balanceakt, bei dem es darum geht, unterschwellige Bedeutungen, versteckte Nuancen und Zweideutigkeiten zu erkennen, ständig in Angst vor einem sozialen Fauxpas oder gar der traumatischen Erfahrung einer öffentlichen Demütigung. Diese tiefsitzende Furcht vor Verlegenheit, Scham und Schuldgefühlen definiert uns – kein Wunder, dass wir so viel trinken und einen derart hochentwickelten, wenn auch oft schwer zu erkennenden und abstrakten Humor besitzen. Das alles ist sehr anstrengend.

Selbstverständlich drückt sich dies auch in unserer absurden Klassenhierarchie aus: Es gibt nicht nur „Aristokraten“ und „Bürger“, sondern ein überbordendes, Ghormenghast-ähnliches Beziehungsgeflecht, in dem man zwischen Mittel-Mittelklasse (öffentliche Schule), Mittel-Mittelklasse (Privatschule) und Oberer Mittelklasse nur aufgrund winziger Abweichungen im Akzent, dem Verhalten oder anderer Hinweise unterscheiden kann. Und dies wird von einem erwartet, ohne dass darüber jemals offen gesprochen würde. Kein Wunder, dass T. E. Lawrence – einerseits von sozial privilegierter Herkunft, andererseits durch den Makel der unehelichen Geburt ein Außenseiter – die Wüste als so befreiend empfand.

Mich dagegen hat die arabische Wüste nie so richtig begeistern können. Dafür ist sie, um Prinz Feisal zu paraphrasieren, nicht Nichts genug – sie ist bereits seit Urzeiten besiedelt und mit Oasen und Städten gespickt.

Der Mars dagegen ist anders. Der Mars ist das wahre Nichts, unbewohnt, unbefleckt durch gelegentliche fruchtbare Landstriche, ein fünf Kontinente großes Niemandsland. Die Luft ist dünn und es ist kalt – schöner könnte es sich ein Engländer gar nicht wünschen.

Und seine Farbe? Man nennt ihn den roten Planeten. Rot wie eine altmodische englische Militäruniform? Nein – so leuchtend und kräftig ist er nicht gefärbt. Verschiedene Astronomen haben ihn als „goldfarben“, „ocker“, „braun“, ja sogar als „karamellfarben“ bezeichnet. Ich bevorzuge eine britischere Analogie: Bei genauer Betrachtung hat der Mars die Farbe von Tee.

Eine kleine Welt außerhalb der habitablen Zone des Sonnensystems. Sehen Sie sich dieses Bild von Erde und Mars zusammen an:

Erinnert es Sie nicht – wenigstens ein bisschen – an eine Landkarte, auf der Großbritannien vom größeren, wärmeren, abwechslungsreicheren und vielfältigeren europäischen Kontinent getrennt ist?

Deshalb mag ich den Mars als Vorstellung so gerne. Ein kalter, unwirtlicher und geographisch entlegener Ort – schon fühle ich mich wie zu Hause. Der Mars ist ein England des Geistes, doch ein England ohne Ozeane (und daher auch ohne die fragwürdige Geschichte der britischen Marine, angefangen bei Lord Nelson) und so kahl und leer wie Lawrenceʼ Wüste.

Der Mars ist England.

 

Adam Roberts ist eine der vielversprechendsten Stimmen in der neueren britischen Science Fiction. Geboren 1965, studierte er Englische Literatur in Aberdeen und Cambridge und arbeitet derzeit als Dozent an der University of London.

Kommentare

Bild des Benutzers Elisabeth Bösl

Darauf nen Tee! Danke, Adam Roberts!

Bild des Benutzers Horusauge

Eine weitere Kolumne, die es sich lohnt zu lesen, danke Mr Roberts, danke an die Redaktion von diezukunft.

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