27. Oktober 2014

Absolut keine Nebensächlichkeit

William Gibsons neuer Roman „The Peripheral“

Lesezeit: 3 min.

Seit „Zero History“ (dt.: „System Neustart“) aus dem Jahre 2010 hat William Gibson, Godfather des Cyberpunk und seit „Neuromancer“ (im Shop) einer der wichtigsten und angesehensten Science-Fiction-Autoren und visionärsten Vordenker der letzten dreißig Jahre, keinen Roman mehr vorgelegt (auf Deutsch erschien 2013 zuletzt seine nichtsdestoweniger bemerkenswerte Non-Fiction-Sammlung „Misstrauen Sie dem unverwechselbarem Geschmack“).

Das ändert sich nun, wenn heute endlich Gibsons neuer Roman  „The Peripheral“ im englischsprachigen Original erscheint.

Das neue Science-Fiction-Werk des 66-jährigen Amerikaners, der mit seiner scharfen Beobachtungsgabe und überragenden Fähigkeit der Extrapolation die Gegenwart stets zur plausiblen Zukunft macht und die Zukunft zur nicht weniger plausiblen Gegenwart, zeigt diesmal sogar zwei Zukunftsszenarien, die durch eine einschneidende Katastrophe voneinander getrennt sind: Protagonistin Flynne Fisher lebt mit ihrem Bruder, einem Kriegsveteranen, keine 20 Jahre in der Zukunft im Süden der USA, wo sie in einem 3D-Printshop und als Profi-Gamerin ihren Lebensunterhalt zu verdienen versucht. Allerdings ist keine zwei Dekaden in der Zukunft die Linie zwischen Virtual Reality und realem Verbrechen schon nicht mehr so leicht zu ziehen, wie die Geschwister herausfinden müssen. Denn eines Tages erhalten Flynne und ihr Bruder einen neuen Auftrag und sollen ein Game testen – und werden so auf kriminelle, erschreckende Weise mit der Welt von Wilf Netherton konfrontiert, der ein lässiges Leben im finsteren London des 22. Jahrhunderts führt. So verwischen die Grenzen zwischen Realität und Spiel und zwischen Gestern, Heute und Morgen …

William Gibson nimmt wie immer keine Rücksicht und steigt voll ins Geschehen ein: Der Cyberpunk-Wegbereiter schleudert einen ohne lange Vorrede in zwei überraschende Welten – in seine Vision von Morgen und Übermorgen –, deren Textur und Feeling absolut glaubhaft und faszinierend sind. Das liest sich stimmig und hat einen gewaltigen Reiz und Effekt, kann jedoch selbst einen Genre-Titanen wie Gibson vor Herausforderungen stellen, wie er aktuell in einem Interview mit MotherJones gestand: „Eine der schwersten Aufgaben beim Schreiben dieses Buches war es, das Level der Telefonie zu beschreiben, das die Menschen des 22. Jahrhunderts als selbstverständlich erachten. Ich wollte, dass der Leser staunt. Aber ich wollte nicht, dass die Figuren es wahrnehmen, weshalb sie nie offen beschreiben können, wie sie einen Anruf entgegennehmen.“

Darüber hinaus spielt Gibson in seinem melancholischen Cyberpunk-Krimi geschickt mit Kontrasten und Entwicklungen und konzentriert sich im Grunde auf einen mächtigen, zugleich mächtig philosophischen Gedanken: Jede Zukunft hat eine Vergangenheit – jede Entscheidung aus dem Gestern und dem Heute beeinflusst das Morgen. Und die Menschen von früher waren nicht automatisch Primaten oder Idioten, obwohl man sie angesichts der technologischen Überlegenheit der eigenen Zeit gerne so wahrnimmt. Eine gefährliche Fehlannahme, wie Gibson im selben Interview unterstreicht: „Eine der Sachen, die ich an der Western-Serie Deadwood wirklich mochte, war der Sinn dafür, wie tödlich clever die Leute im 19. Jahrhundert anscheinend waren. Würden diese Typen heute in Downtown Los Angeles aus einer Zeitmaschine steigen, wären sie keine hilflosen Bauerntölpel. Sie wären äußerst gefährliche Charaktere.“

Hier gibt es da gesamte Audio-Interview mit Mr. Gibson, der erstaunlicherweise später als alle anderen aktiv ins Web-Zeitalter trat, heute über seine einstige Naivität hinsichtlich des Wunsches nach einem freien Internet lächelt und im Podcast natürlich auch über seinen neuen Roman spricht.

„The Peripheral“ ist als Hardcover, E-Book und Hörbuch auf Englisch erhältlich und bekommt hoffentlich in nicht allzu ferner Zukunft eine deutsche Ausgabe.

William Gibson: The Peripheral • Putnam Adult, New York City 2014  • 496 Seiten • $ 27,95 • Sprache: Englisch

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