26. Dezember 2014 2 Likes

Erde und Mars

David Lodge: Ein ganzer Mann – Ein biografischer Roman

Lesezeit: 8 min.

Krieg und Frieden, Erde und Mars, Zukunft und Vergangenheit, 19. Jahrhundert, 20. Jahrhundert, Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg, Atombombe, freie Liebe, soziale Gerechtigkeit – das Gewitter der Schlagwörter, die das Leben von H. G. Wells umgeben, hallt über zwei Jahrhunderte hinweg. Ein Mann, ein Autor, eine Biografie, die gleichsam das Scharnier zwischen einer Moderne in ihrer euphorischen Jugend und einer ihrer Unschuld beraubten Moderne nach zwei Weltkriegen darstellt … Große Worte, zugegeben, aber wie viele Menschen gibt es, die so viel und so Weitreichendes in ihrem Leben und ihrer Zeit vereinen können?

Diesem Menschen H. G. Wells kann man sich auf mehrere Weisen nähern, und jedes der genannten Schlagwörter bietet genügend Projektionsfläche, um darauf das Leben und Wirken dieses Denkers und Lebemannes, Autors und Aktivisten vorbeiflimmern zu lassen. Der britische Romancier David Lodge hat sich offenbar Alan Bennetts Bonmot über den Schreibtisch gehängt, demzufolge Geschichte lediglich eine Abfolge von „one fucking thing after another” ist – und zwar wortwörtlich. Das Quellenmaterial dazu liegt, obwohl H. G. Wells in mehreren Biografien ausgiebig beleuchtet wurde, noch gar nicht so lange vor – hat Wells doch in einem geheimen Postskriptum zu seinem „Experiment in Autobiography” aus dem Jahr 1934 die Geschichte seiner Liebschaften oder auch „Passades”, wie er sie nannte, ausführlich beschrieben. Allerdings hatte er verfügt, dass diese erst nach einer hinreichenden Zeit von fünfzig Jahren veröffentlicht werden dürften. Lodge hat sich dieses Materials nun in Form eines biografischen Romans angenommen: „Ein ganzer Mann” – in dem Titel klingt genügend Kernigkeit und Virilität mit, um klarzumachen, worum es gehen soll.

Wer war also dieser Mann? Herbert George Wells wurde am 21. September 1866 in Bromley geboren, damals ein kleiner Vorort, heute ein Stadtbezirk von London. Sein Vater war Eisenwarenhändler und Cricketspieler, seine Mutter tief religiöse Hauswirtschafterin, die im Laufe von „Berties” Kindheit, wie Wells von seinem Vater gerufen wurde, mehr und mehr die Versorgung der Familie übernehmen musste, da das Geschäft nicht genügend für den Lebensunterhalt abwarf und der Vater schon früh krankheitsbedingt zu Hause blieb. Die Herkunft aus solch engen Verhältnissen sollte Wells zutiefst prägen; sein frühes Engagement für die Labour Party und sein Eintritt in die Fabian Society rührt jedenfalls daher, und an den dort geformten Ideen und Prinzipien sollte er ein Leben lang festhalten.

Noch während seiner Anstellung als Aushilfslehrer an einem Progymnasium begann er mit dem Schreiben und besuchte naturwissenschaftliche Vorlesungen bei Thomas Henry Huxley. 1887 kam er mit George Bernard Shaw in Kontakt, der ihn in die Fabian Society einführte, einer Gesellschaft zur Förderung sozialistischer und linksliberaler Ideen. Sie verfolgte ganz bewusst eine Politik der langfristigen Einflussnahme auf die intellektuelle und politische Oberschicht im Gegensatz zu den revolutionären Ansätzen der kommunistischen Arbeiterparteien. Dass Wells sich mit den Idealen der Fabier nicht nur identifizieren, sondern auch kritisch auseinandersetzen würde, sollte sich im Laufe der Jahre noch zeigen, auch in seinen Romanen. Einer der ersten großen Erfolge, die ihn weltberühmt machten, war „Die Zeitmaschine”, ein Roman, in dem eben nicht nur eine Gesellschaftsutopie entwickelt wird, sondern in dem Wells buchstäblich die Ungeheuer unter dem Boden dieser utopischen Zukunft hervorkrabbeln lässt: eine deutliche Kritik am Klassengedanken. Und schließlich lässt Wells auch noch die Überreste jeglicher menschlicher Gesellschaft vergehen:

„So reiste ich in großen Etappen von 1000 Jahren oder mehr und stoppte gelegentlich, angezogen vom Geheimnis des Schicksals der Erde, und sah mit seltsamer Faszination, wie die Sonne größer und stumpfer am westlichen Himmel wurde und das Leben auf der alten Erde verging … Die Dunkelheit nahm zu … Vom Rand des Meeres kam ein Kräuseln und Flüstern. Bis auf diese leblosen Geräusche war die Welt stumm. Stumm? Man kann diese Stille kaum beschreiben. Alle menschlichen Laute, das Blöken der Schafe, das Schreien der Vögel, das Summen der Insekten, das Durcheinander im Hintergrund unseres Lebens – all das war verschwunden … Der Himmel war völlig schwarz. Mich überkam Angst vor dieser großen Dunkelheit … Dann erschien der Rand der Sonne wie ein rotblühender Bogen am Himmel. Ich stieg von der Maschine ab, um mich zu erholen. Ich fühlte mich schwindlig und unfähig, die Rückreise anzutreten. Als ich in völliger Übelkeit und Verwirrung dastand, sah ich wieder das sich bewegende Ding an der Sandbank – es war kein Irrtum möglich, dass es ein bewegtes Ding war – gegen das rote Wasser des Meeres. Es war rund, vielleicht so groß wie ein Fußball, oder vielleicht größer, und Tentakel hingen daran herab; es hob sich schwarz von dem rollenden blutroten Wasser ab und hüpfte zuckend herum. Ich glaubte ohnmächtig zu werden, aber die schreckliche Furcht, hilflos in diesem fernen und schrecklichen Zwielicht zu liegen, gab mir Kraft, wieder den Sattel zu besteigen.”

„Die Zeitmaschine” markierte einen Wendepunkt in Wells’ Leben, denn der Erfolg bekräftigte ihn in dem Wunsch, sich ganz der Schriftstellerei zu widmen. Lodge lässt Wells das rückblendend in einer Art Verhör mit sich selbst rekapitulieren, als der gebrechliche Autor 1944 in seinem Haus in London sein Leben an sich vorüberziehen sieht: „Und wann dachtest du daran, als Schriftsteller bekannt zu werden? – Als Die Zeitmaschine erschien, ganz klar. Bis dahin war ich nur ein Journalist und schrieb Artikel, Skizzen und Erzählungen für den Markt. Den Lehrerberuf hatte ich aufgegeben. In den 1890ern erlebten Zeitungen und Zeitschriften einen Boom, und wenn man neue Ideen hatte, konnte man als freier Journalist ganz gut davon leben. 1894 gingen aber meine üblichen Einkommensquellen – die Redakteure und Zeitschriften, die meine Arbeit schätzten – plötzlich zurück, und ich war in Geldnöten. Es war eine schwierige Zeit … Das waren jedenfalls die Umstände, als ich eine Erzählung mit dem Titel ›Die Zeitargonauten‹ hervorholte – nicht gerade ein toller Titel, was? –, die ich früher entworfen hatte, und sie unter dem Titel Die Zeitmaschine ganz neu schrieb. William Henley bot mir 100 Pfund dafür. 100 Pfund! Das war ein Vermögen für uns. Und die Buchausgabe war ein Riesenerfolg. Ich erinnere mich, dass eine Zeitschrift, die Review of Reviews, schrieb: ›Mr. H. G. Wells ist ein Genie.‹ Mehr konnte man mit einem ersten Buch nicht verlangen.”

Bei diesem ersten Buch sollte es nicht bleiben. „Die Insel des Dr. Moreau” (1896), „Krieg der Welten” (1898) und viele andere folgten, und längst nicht alle waren Science-Fiction-Romane. Allen war jedoch nicht nur Wells’ großer Drang der Ideenvermittlung eigen, sondern auch ein Gespür oder zumindest die Suche nach einem möglichst breiten Literaturgeschmack, kurz: Wells war immer auch auf Unterhaltung aus. Beides trug dazu bei, dass seine Essays und Vorträge ihm weltweiten Ruhm als Denker der Zukunft einbrachten.

All das findet sich auch in David Lodges Roman, doch als Leser bekommen wir das in Form von Unterhaltungsschnipseln und Zeitungsausschnitten inmitten von Wells’ Eskapaden verabreicht. Das macht Lodge allerdings sehr geschickt. So bettet er beispielsweise Wells’ Idee, dass eine Art „Atombombe” in einem künftigen Krieg eingesetzt werden und zur Zerstörung Europas führen würde, in ein Gespräch mit Elisabeth von Arnim – mit der Wells damals, kurz vor der Veröffentlichung von „Die befreite Welt” 1914, liiert war – ein: „Er hatte ihr die Druckfahnen von Die befreite Welt mitgebracht und las ihr eines Abends daraus vor, aber sie mochte es nicht. ›Warum machst du die Welt so kaputt?‹, fragte sie. ›Damit die Menschheit sie nicht in Wirklichkeit kaputtmacht.‹ – ›Aber in deinen Beschreibungen liegt eine Art Freude an der Zerstörung, wie ein unartiger Junge, der eine Sandburg eintritt, für die jemand anders Stunden gebraucht hat. Wie konntest du Paris, das schöne Paris, auch nur in deiner Phantasie bombardieren? Schließlich gibt es diese Bomben in Wirklichkeit nicht einmal, also könnte es niemand tun.‹ – ›Eines Tages werden sie existieren.‹”

All das liefert Lodge im wahrsten Sinne des Wortes en passade, nur um danach wieder zu Wells’ erotischen Verausgabungen mit seiner nächsten Geliebten, der Journalistin Rebecca West, überzugehen (sie nannten einander „Panther” und „Jaguar” im Bett, er war ganz entzückt von der Üppigkeit ihres Schamhaars, und dergleichen mehr). Nun haben Science Fiction und Sex eine lange Geschichte miteinander. „Ein ganzer Mann” greift damit also nicht nur auf ein, sondern zwei weltliterarische Sujets zurück, die sich in der Person von H. G. Wells, dem großen Mitschöpfer des Genres und dem Verkünder der freien Liebe, auf einzigartige Weise überschneiden. Dass David Lodge daraus über lange Passagen hinweg aber ein Buch über einen Mann macht, der Sex nun einmal sehr, sehr gern mag, der mit einer typisch britischen Mischung aus Höflichkeit und Dickköpfigkeit versucht, diese Vorliebe gegen die gesellschaftlichen Gepflogenheiten seiner Zeit durchzusetzen und der nebenbei zum Lebensunterhalt auch ein paar Raketenromane geschrieben hat, wird allerdings leider weder der Kraft beider Sujets noch der Biografie und Bedeutung von H. G. Wells gerecht.

Angefangen mit den zaghaften Fantasien institutionalisierter Geschlechterliberalität der frühen Utopisten über konkrete literarische Gegenentwürfe zu gesellschaftlichen Konventionen in den modernen Ideenromanen bis hin zur völligen Auflösung sämtlicher biologischer und sozialer Gewissheiten in der postmodernen Science Fiction zieht sich ein roter Faden der Auseinandersetzung mit dem, was man „Liebe” nennt, durch das Genre. Nicht weiter verwunderlich, wenn man sich die noch viel ältere und üppigere Auseinandersetzung der Weltliteratur damit anschaut – wobei ich auch die steinzeitlichen Höhlenmalereien, die Venus von Milo, die dionysischen Phallusprozessionen und die Hochzeitsriten semitischer Nomaden zur Literatur im weitesten Sinne zähle. Bei Lodge gerinnt das zu einer Lebensschilderung, die sich um die Suche nach neuen erotischen Abenteuern dreht, um die Aufrechterhaltung eines bürgerlichen Heims mit Wells’ Ehefrau „Jane” (eigentlich Amy Catherine Robbins), die allerdings nicht nur um seine Liebschaften wusste, sondern sich mit ihrem Mann bewusst auf dieses Arrangement eingelassen hat. David Lodge lässt seinen Protagonisten daran zurückdenken, wie das zustande kam: „Also einigten wir uns. Wir würden verheiratet bleiben, Jane würde meine geliebte Ehefrau bleiben, die liebevolle Mutter meiner Kinder, die effiziente Herrin des Haushalts, die liebenswürdige Gastgeberin meiner Freunde, die unverzichtbare Managerin meiner geschäftlichen Angelegenheiten, und ich würde gelegentlich diskrete Affären mit anderen Frauen haben, passades, wie die Franzosen sagen – vorübergehende Launen. Es war eine sehr zivilisierte Lösung.”

In dieser Passage leuchtet vieles auf, was David Lodge immerhin aus H. G. Wells’ Biografie freizulegen vermag. Ohne sich allzu lange mit seinen Ideen aufzuhalten, zeigt Lodge den Mann hinter dem Denker – und der hat neben all seinen liberalen Vorstellungen und seinen bisweilen sehr schmerzhaften Bemühungen um die gesellschaftliche Anerkennung dieser Ideen ein sehr deutliches Interesse an einem einigermaßen funktionierenden bürgerlichen Alltagsleben. Ein Mann, der andererseits zeitlebens versucht hat, alle Aspekte seines Daseins von seinem Denken und dem Anspruch seiner Ideen bestimmen zu lassen – und literarischen Weltruhm geerntet hat.

„Unsere Wahrnehmung der Welt sähe wesentlich anders aus, wenn H. G. Wells nicht gewesen wäre.” Auch wenn George Orwell diesen Satz in einer ansonsten eher ungünstigen Rezension verpackt hat, so bleibt er doch nicht weniger wahr. Und wenn wir nun dank David Lodge genauer wissen, wie dieser Mann, der unsere Weltsicht dermaßen geformt hat, gelebt, geliebt und gefühlt hat, dann ist das ein guter Grund, diesen biografischen Roman zu lesen und ihn dann ins Klassikerregal neben die „Zeitmaschine” zu stellen.

David Lodge: Ein ganzer Mann • Haffmans & Tolkemitt, Berlin 2012 • 667 Seiten • € 26,–

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