3. April 2015 2 Likes 1

Das Zeitalter der Gummiflitsche

Wird man später einmal verstehen, was uns überdauert? – Eine Kolumne von Hartmut Kasper

Lesezeit: 3 min.

Ob sie die Zeitschriften, die ich ihr auf die Ladentheke gelegt hatte, rollen solle, fragte mich kürzlich die neue Zeitschriftenfachverkäuferin in der Lottoannahmestelle meines Vertrauens.

Auf welche Narretei doch der Mensch in seinem Wahn verfällt, dachte ich verblüfft. Vermutete die Dame etwa, ich würde mich meines Zeitschriftenkaufes schämen? Es waren diesmal durchaus keine obszönen Blätter, die ich erwerben wollte: die neuen 11 Freunde, die neue OX (allerdings inklusive einer CD mit Tondichtungen von A Place to Bury Strangers, Radio Havanna und den Hamburg Ramönes) und die aktuelle Charlie Hebdo, die seit einiger Zeit gerne mal in unserem Lottogeschäft ausliegt.

So what?

All das sollte und wollte keineswegs gerollt werden.

Nun fiel mir (hellhörig geworden) in den nächsten Wochen auf, dass durchaus nicht nur ich, sondern viele Kunden das Angebot zur Zeitschriftenrollung erhielten ‒ und nicht wenige nahmen es an! Und zwar ohne Rücksicht darauf, ob sie Spektrum der Wissenschaft kauften, das Magazin konkret, die Fachzeitschrift Modelleisenbahner oder das Goldene Blatt (mit Schlagzeilen wie „Hurra, es ist soweit!“, „Hurra, Zwillinge!“ oder „Hurra, das 5. Baby!“). Man ließ rollen, was das Zeug hielt.

Für einen Moment überlegte ich: Was wäre, wenn sich diese Unsitte in andere Branchen ausbreitet? Wenn der Kunde demnächst auch beim Kauf eines Buches, eines Gummistiefelpaares, eines Tennisschlägers, eines neuen Fernsehgerätes gefragt würde: Soll ich es rollen?

Undenkbar.

Nach und nach kam ich allerdings dem Rollunwesen im Zeitschriftenhandel auf die Schliche. Es ging, wie ich herausfand, nur vordergründig darum, die Papierware verrollt zu bekommen. Tatsächlich erhielt der rollophile Kunde zur Zeitschrift seiner Wahl auch noch ein Gummiflitschchen, diskret um sein Magazin gerollt ‒ und das kostenlos: „Hurra!“ (wie das Goldene Blatt titeln würde).

Die Gummiflitsche ‒ regional auch das „Gummiband“ oder der „Gummiring“ geheißen ‒ existiert in der heutigen Form seit dem 17. März 1845, da der Erfinder Stephen Perry es als „rubber band“ erfunden und sich hat patentieren lassen (British Patent 13880/1845). Wer oder was ist dieses rubber band?

Ich habe recherchiert: Um Gummiflitschen herzustellen, wird der Gummi zunächst zu einer langen Röhre geformt, anschließend wird die Röhre der Breite nach in dünne Ringe geschnitten. Das Einsatzgebiet der Gummiflitsche ist ein vielfältiges, Wikipedia informiert: Gummibänder treiben als Gummimotor Propeller für Modellflugzeuge an; sie könnten als Notbehelf für Treibriemen in mechanischen Geräten der Unterhaltungselektronik (zum Beispiel in Videorekordern) eingesetzt werden; sie dienen in der Punk-Szene als Handschellen; sie können als Geschosse genutzt werden („Anwendung finden Gummibandgeschosse des Öfteren in Büros oder Schulen, wo sie unter Angestellten oder Schülern verschossen werden“); sie fungieren als Antrieb für andere Geschosse, nämlich als Primitivform einer Zwille; auch eine Fliegenklatschen-Pistole verwende ein Gummiband. Sie seien Hilfsmittel für Zauberer.

Gummibänder halten übrigens länger, wenn sie kühl gelagert werden. Sie lassen sich auch selbst herstellen, indem man die Innenschläuche von Fahrradreifen in Streifen schneidet; es heißt: „Derart gewonnene Gummibänder sind extrem elastisch und altern praktisch nicht.“

Heißt das, diese Flitsche, unverwüstlich, unvergänglich, geradezu unsterblich, könnte uns überleben? Ich weiß aus etlichen TV-Dokumentationen, dass die Produkte unserer Zivilisation, würden sie vom Menschen nicht gepflegt, ausgebessert, hin und wieder neu gestrichen werden, binnen weniger Jahrzehntausende verwittern würden: Flughafentower, Golden Gate Bridges, Freiheitsstatuen und Pyramiden, alles gone with the wind of change; die hochragenden Bankengehäuse in Frankfurt am Main, London und New York: dann Heimat für Uhus, Fledermäuse oder was die Evolution sonst in Zukunft aus dem Hut zu zaubern beliebt.

Werden, wenn ‒ Äonen nach dem Abschied der Menschheit aus der Nahrungskette ‒ endlich Aliens auf der Erde landen, diese Forscher aus fernen Galaxien vielleicht keine anderen Spuren mehr von unserer Zivilisation finden als ein paar Gummiflitschen? Und werden diese Gäste aus dem Sternenland feinsinnig genug sein, um diesem auf den ersten Blick unscheinbaren Produkt die Genialität seines Erfinders anzusehen, die Tauglichkeit des Gummis als Motor, Waffe, Wunderwerk?

Ich jedenfalls habe mich entschieden, demnächst ‒ wenn ich mal wieder eine Zeitschrift ins Haus holen möchte ‒ auf das Anerbieten der Verkäuferin, das Produkt zu rollen, zu sagen: „Hurra, selbstverständlich bitte gerne, wenn nur eines der dienstbaren Gummiflitschchen dazukommt …“

Hartmut Kasper ist promovierter Germanist, proliferanter Fantast und seines Zeichens profilierter Kolumnist.

Kommentare

Bild des Benutzers Horusauge

Gummiflitschchen, bei dem Wort musste ich lächeln. Ich hatte dazu eine andere Assoziation. ;)
Herr Kaspar, ich empfehle Ihnen Anna Mocikats Buch "MUC", ein ähnliches von Ihnen beschriebenes zukünftiges Szenario hat dort schon Eingang gefunden.

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