8. April 2015 3 Likes

Die Vermessung eines Genres

Neu aufgelegt: Gotthard Günthers Kommentare zur amerikanischen Science-Fiction

Lesezeit: 3 min.

Überall, wo Menschen sich einer Sache verschreiben, die die meisten anderen Menschen nicht verstehen, bilden sich Legenden. Eine der schönsten Legenden aus jener Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als in Deutschland wieder amerikanische Science-Fiction verlegt wurde, geht so: 1952 erschienen im renommierten Karl Rauch Verlag unter dem Label „Rauchs Weltraum-Bücher“ vier Hardcover: „Ich, der Robot“ von Isaac Asimov (im Shop), „Der unglaubliche Planet“ von John W. Campbell jr., „Wing 4“ von Jack Williamson (im Shop) sowie die Kurzgeschichtensammlung „Überwindung von Raum und Zeit“. Schon die Auswahl der Titel mutete für damalige deutsche Verhältnisse ambitioniert an – man erinnerte sich hierzulande vielleicht noch an Hans Dominik, die kulturelle Verbindung zu Science-Fiction-Genies wie Kurd Laßwitz war durch zwölf Jahre Hitlerei aber erst einmal unterbrochen. Der Clou war jedoch, dass der Mann, der für diese Auswahl verantwortlich zeichnete, es sich nicht nehmen ließ, jedes einzelne Buch auch umfassend zu kommentieren. Dieser Mann war Gotthard Günther, einer der agilsten Denker, den die deutsche Philosophie hervorgebracht hat (kaum ein Philosophie-Lexikon führt ihn auf, aber kein Geringerer als Peter Sloterdijk zählt ihn zu den spannendsten Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts). Günther war 1937 emigriert und hatte in den vierziger Jahren Kontakte zur amerikanischen Science-Fiction-Szene geknüpft – anders als die akademischen Publikationen boten ihm die SF-Magazine nämlich die Möglichkeit, Essays zu so wilden Themen wie „Can Mechanical Brains Have Consciousness?“, „Aristotelian and Non Aristotelian Logic“ oder „The Soul of a Robot“ zu veröffentlichen. Im Gegenzug machte sich Günther in Deutschland für die amerikanischen Science-Fiction-Autoren stark, in deren Geschichten er nicht nur eine völlig neue Art von Literatur zu erkennen meinte, sondern eine neue Art des Denkens überhaupt: einen Bruch mit der „kulturellen Tradition der östlichen Hemisphäre“ und einen Vorboten einer „Ära planetarischer Zivilisationen“. Und so folgten seine Beiträge zu Rauchs Weltraum-Büchern auch nicht dem üblichen Nachwortschema, sondern saugten aus dem jeweiligen Zukunftsgarn so viel kognitiven Honig wie nur möglich, um diesem Garn dann so weit wie nur möglich zu enteilen: Günthers Texte – neben den Nachworten gab es bei Rauch noch ein Begleitheft mit dem Titel „Die Entdeckung Amerikas und die Sache der Weltraum-Literatur“ – sind Musterbeispiele dafür, wie ernst man die Ideen, mit denen die Science-Fiction spielt, nehmen kann. Zu ernst? Zu ernst jedenfalls für das damalige deutsche Publikum: Rauchs Weltraum-Büchern war kein Erfolg beschieden, sie wanderten schnell ins Antiquariat (wo sie bis heute begehrte Sammlerobjekte sind) und die Science-Fiction ins Taschenbuch (wo sie bis heute ihren Hauptwohnsitz hat), und seither fragt man sich, wie die Rezeption des Genres hierzulande wohl verlaufen wäre, wenn Günther mehr Sekundanten gefunden hätte, wenn Journalisten, Verleger, Autoren, Leser die Botschaft weitergetragen hätten … Zugegeben: Es ist ein bisschen viel Last, die da auf diese vier Bücher gelegt wird; die Auswahl der Titel folgte ja nicht zuletzt Günthers persönlichem Geschmack – was wäre nicht alles denkbar respektive übersetzbar gewesen? Sein Versuch allerdings, der Science-Fiction ihren originären Platz im Menschheitsdiskurs zuzuweisen, ist heute noch überaus lesenswert. Er war einer der Ersten, der die Linien dieses neuen literarischen Kontinents vermessen hat, und man braucht sich nur aktuelle Feuilletons zum Thema vor Augen zu halten, um zu erkennen, dass die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Genre in Deutschland schon einmal weiter war. Aber das weiß natürlich niemand – sonst wäre es ja keine Legende.

 

Gotthard Günther: Science Fiction als neue Metaphysik? · Mit einem Nachwort von Franz Rottensteiner · Verlag Dieter von Reeken, Lüneburg 2015 · 137 Seiten, € 12,50

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