10. April 2015 2 Likes

Erdnussbutterschnitten für die Evolution

Die brillanten Erzählungen von R. A. Lafferty werden endlich in einer Gesamtausgabe gewürdigt

Lesezeit: 4 min.

Er gehört zu den ungewöhnlichsten Figuren, die unter der Rubrik Science-Fiction publiziert wurden, und dürfte der deutschsprachigen Leserschaft unterdessen weitgehend abhandengekommen sein: Raymond Aloisius Lafferty, der im vergangene November hundert Jahre alt geworden wäre. Obwohl im wirklichen Leben konservativ und tief religiös, gehört er zu den großen Erneuerern des Genres, dessen Werk sich in keine Schublade stecken lässt. Nachdem seine Bücher in den USA komplett vergriffen und zu hochbezahlten Sammlerobjekten geworden sind, riskiert der mutige Kleinverlag Centipede Press eine voraussichtlich zehnbändige Werkausgabe seiner Erzählungen – und hat unerwartet Erfolg: Der erste Titel musste bereits nachgedruckt werden.

R. A. LaffertyR. A. Lafferty (1914–2002) betritt die literarische Szene in den frühen 1960er Jahren und damit zu einer Zeit, die von akuten kulturellen wie politischen Umbrüchen geprägt ist. Ob Musik, Kunst, Film oder Literatur, überall kommt es zu kontrovers diskutierten Neuerungen. In der Science-Fiction trägt eine der innovativen Richtungen das Etikett „New Wave“, eine Strömung, die stilistische wie inhaltliche Errungenschaften der literarischen Moderne in das Genre integriert. Die um das von Michael Moorcock herausgegebene britische Magazin New Worlds gruppierten Autoren wie Brian W. Aldiss, Samuel R. Delany, Thomas M. Disch und insbesondere J. G. Ballard experimentieren mit neuen Erzählformen, was sie bisweilen weit von den traditionellen SF-Themen entfernt. Auch R. A. Lafferty wurde dieser Szene zugeschlagen, was aber letztlich nur einer groben Einordnung dienen kann. Tatsächlich ist es bei ihm schwer, überhaupt eine Zugehörigkeit zu einem literarischen Bereich zu bestimmen, weil Laffertys Prosa komplett einzigartig dasteht – und dies keineswegs nur im Genre.

Tatsächlich besteht das typische Lafferty-Erlebnis darin, dass einen die Lektüre seiner Texte ebenso unterhält wie irritiert. Das mag am Tonfall dieses Autors liegen, der oft eine Atmosphäre ironischer Distanziertheit erschafft, noch mehr aber in der unkonventionellen thematischen Umsetzung. R. A. Lafferty: The Man Who Made ModelsBereits die frühe Erzählung „The Six Fingers of Time“ („Die sechs Finger der Zeit“, 1960) schildert eine Figur, die eines Morgens in einer stark verlangsamt wirkenden Welt erwacht und diese Situation dazu nutzt, um allerlei Schabernack zu treiben. Dabei übersieht sie die tödlichen Konsequenzen, die mit dem Abenteuer verbunden sind. „Ginny Wrapped in the Sun“ („Ginny in Sonne gewickelt“, 1967) schildert, wie sich zwei Wissenschaftler über ein Evolutionsphänomen unterhalten und zu spät bemerken, dass der Effekt bei der vierjährigen Ginny längst eingetreten ist – auch wenn dies zunächst nur bedeutet, dass dreitausendsiebenhundertachtzig Erdnussbutterschnitten zubereitet werden sollen. In „The Hole in the Corner“ („Das Loch in der Ecke“, 1967) geht es um einen Mann, der beim Heimkommen erleben muss, dass ein Monstrum mit seinem Aussehen bereits da ist und allerlei Unzucht mit seiner Frau treibt. Ein befragter Experte gibt ihm eine unschlagbare Begründung für das Phänomen, die aber nicht verhindert, dass zur Behebung „das Loch an der Ecke zugemacht“ werden muss. Wozu es dann aber nicht kommt – mit unerfreulichen Folgen …

Lafferty arbeitete zunächst als Elektrotechniker, war unverheiratet und begann das Schreiben erst, als er Mitte vierzig war, um – wie er sagte – eine Lücke zu füllen, „caused by my cutting back on drinking and fooling around“. Tatsächlich soll er zumindest auf Science-Fiction-Conventions niemals nüchtern gewesen sein. Bis zu seinem Schlaganfall 1984 veröffentlichte er nicht nur zahlreiche Romane und Sachbücher, sondern auch über zweihundert Kurzgeschichten, von denen gut ein Viertel auf Deutsch vorliegt, ein Großteil davon in der Sammlung „Neunhundert Großmütter“ (Fischer Orbit), die 1993 bei Heyne unter dem Titel „So frustrieren wir Karl den Großen“ neu aufgelegt wurde. Danach wurde es hierzulande still um Lafferty; als jüngste Veröffentlichung erschien 1997 die unheimliche und zugleich skurrile Geschichte „Das magere Volk in der Leptophlebo Street“ in dem von Wolfgang Jeschke herausgegebenen Band „Die säumige Zeitmaschine“. Der wichtige Erzählungsband „Lafferty in Orbit“ war vor einigen Jahren in Übersetzung angekündigt, ist aber leider nie erschienen.

Abhilfe schafft nun die beim bibliophilen Kleinverlag Centipede Press erscheinende Werkausgabe. Ihre Ausstattung – Leinen, Lesebändchen, Fadenheftung – ist tadellos, und für die von Herausgeber John Pelan getroffene Auswahl gilt dies nicht minder: R. A. Lafferty: The Man With The AuraJeder Band hat den Anspruch, stets den „ganzen“ Lafferty abzubilden, weshalb auf eine chronologische Anordnung der Texte verzichtet wurde. Hochkarätige Vorworte von Zeitzeugen und Weggefährten (unter anderem Harlan Ellison) runden die Ausgabe ab, von denen jeweils dreihundert nummerierte und von allen Beteiligten signierte Exemplare direkt beim Verlag beziehbar sind.

Natürlich ist die Lektüre von Lafferty im Original ein Unterfangen, das nur wenige ohne lexikalischen Beistand bewältigen können. Es lohnt sich aber aus zwei Gründen. Zum einen, weil hier einer der herausragenden Autoren des 20. Jahrhunderts – ja, das darf man gern mal so schreiben! – in einer mustergültigen Edition vorgelegt wird, und zum anderen, weil die bisherigen Übersetzungen ihrem Gegenstand oft nicht gerecht wurden: Kürzungen und Auslassungen waren an der Tagesordnung. Es lohnt sich also, das Original in Griffweite zu haben. Damit bleibt die jährlich mit einem Band weitergeführte Ausgabe auch dann nützlich, falls es jemals zu einer Komplettübersetzung kommen sollte.

Dass so etwas auch ökonomisch funktionieren kann, hat unlängst der kleine Septime Verlag mit einer bisher in fünf Bänden vorgelegten Werkausgabe der „Sämtlichen Erzählungen“ von James Tiptree jr. bewiesen. Jetzt fehlt nur noch jemand, der bei ambitionierten Vorhaben wie diesen nicht abseits stehen will – und die Kurzgeschichten von R. A. Lafferty endlich vollständig in deutscher Sprache vorlegt. In wessen Werk findet man sonst zwei Erfinder, die ihren müllbeseitigenden „Nullifikator“ als „Schweinebauch Liebling“ („Hog-Belly Honey“) bezeichnen, weil er einfach alles „wegmacht“? Eben.

 

R.A. Lafferty: The Man Who Made Models (The Collected Short Fiction, Volume One) • Hrsg. von John Pelan • Centipede Press 2013 • 346 Seiten • $ 45

R.A. Lafferty: The Man with the Aura (The Collected Short Fiction, Volume Two) • Hrsg. von John Pelan • Centipede Press 2014 • 319 Seiten • $ 45

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