30. April 2015 5 Likes 1

Der lange Abschied

Zwischen Gibson und Chandler: „Tomorrow & Tomorrow“ von Thomas Carl Sweterlitsch

Lesezeit: 3 min.

In seinem Debütroman „Tomorrow & Tomorrow“ (im Shop) erzählt der Amerikaner Thomas Carl Sweterlitsch von einer nahen Zukunft, in der mit Netzhautkameras gekoppelte Implantate im Kopf eines jeden Menschen als Schnittstelle zwischen realer und digitaler Welt fungieren. Die Adware-Technologie sorgt auf Schritt und Tritt für eine Flut aus Werbung, Infos und Kommunikationsmöglichkeiten, die allesamt auf reale Ereignisse, Stimmungen und Reize reagieren.

In dieser Welt wurde Pittsburgh außerdem bei einem Terroranschlag komplett vernichtet.

Der tagebuchschreibende Protagonist John Dominic Blaxton ist einer der Hinterbliebenen des Anschlags. Zehn Jahre nach dem Tod seiner geliebten Frau Theresa und ihres ungeborenen Kindes kämpft der ehemalige Dichter, Lyrik-Experte und digitale Verleger in spe mit Depressionen und Drogen. Außerdem arbeitet der labile Witwer als Versicherungsdetektiv im Datenarchiv, einer virtuellen Simulation aus Aufnahmen aus der Zeit vor dem verheerenden Anschlag, in der Pittsburgh online weiterhin begehbar und erfahrbar ist. Bis der akribische Dominic im Archiv der Spur des falschen toten Mädchens nachgeht und in der digitalen Scheinwelt eine grausame Mordserie in der Realität aufdeckt – und sich mit jemandem anlegt, der bereit ist, Dominic alles zu nehmen. Auch die digitalen Erinnerungen an seine Frau …

Dieser Roman-Erstling, der als Hybrid aus dem Cyberpunk-Schaffen von William Gibson und der Hardboiled-Detektivschule von Dashiell Hammett und Raymond Chandler daherkommt, ist ein gelungener, passender Auftakt für die Buchreihe zu dieser Website, wo Science Fiction und die Zukunft nicht nur im Namen groß geschrieben werden. Sicher, Sweterlitsch folgt der Tradition der Hardboiled-Krimi-Aspekte seiner Story sogar so pflichtschuldig, dass der Fall selbbst immer etwas arg konstruiert wirkt und manchmal deutlich hinter Setting, Atmosphäre, Charakteren, Dialogen und Ideen zurückstecken muss. Doch das gehört unterm Strich irgendwie zum Schnüffler-Subgenre dazu. Dafür glänzt der Amerikaner, der seinen Master in Literaturwissenschaft und Kulturtheorie gemacht und lange in einer Bibliothek für Menschen mit Behinderung gearbeitet hat, durch seine gute Figurenzeichnung – und natürlich durch seine Vision unserer Zukunft.

Für den Reihenauftakt musste es eine solch geerdete Zukunftsvision sein. Keine Weltraumgeschichte, sondern eine griffige Extrapolation der irdischen Gegenwart. Und wie Sweterlitsch das Konzept von Augmented und Virtual Reality zu einer plausiblen, in dieser Hinsicht gnadenlosen Cyberpunk-Realität verschmelzen lässt, das ist schon richtig stark. Seine überzeugende Fortführung der heutigen technologischen, gesellschaftlichen und medialen Trends ist das Rückgrat eines Romans, in dem Morde in den Medien noch ruchloser ausgeschlachtet werden, eine permanente Reizüberflutung aus Werbung und Sex zum Alltag gehört und Sweterlitsch anhand des Morgens über die riskanten Tendenzen von Heute reden kann. Darüber, wie man sich in Scheinwelten verlieren kann, und darüber, wie Verlust einem Menschen zusetzt und schadet und ihn verändert, völlig egal, wie intensiv die Erinnerungen nachzuklingen vermögen.

Es hätte zum Start der Edition vermutlich Autoren mit mehr Namens-Prominenz und demzufolge Impact gegeben – oder schlichtweg Werke, die im englischsprachigen Original ein größeres Echo hervorgerufen haben. Doch wenn man so möchte, verdeutlicht dieses erste Band der diezukunft.de-Edition, dass zum aufgeschlossenen, richtigen Umgang mit der Zukunft und der Zukunftsliteratur eben auch gehört, einer neuen Stimme Gehör zu verschaffen, um die Themen und Strömungen unserer Zeit auf geschickte Weise in einer vielleicht nicht ganz perfekten, aber allemal vereinnahmenden Science-Fiction-Krimi-Geschichte zu erörtern. 

Und genau das tut Thomas Carl Sweterlitsch in seinem überraschenden, unterhaltsamen Cyberpunk-Hardboiled-Thriller.

Thomas Carl Sweterlitsch Tomorrow & Tomorrow • Heyne, München 2015 • 480 Seiten • € 11,99 (im Shop)

Kommentare

Bild des Benutzers HansF.

Warum taucht NUR auf dem deutschen Titel der Vorname Carl auf?
Auf Nachfrage beim Autor konnte er auch nicht sagen warum das so ist.
Er war auch erstaunt.
Woher kommt also der Zusatz Carl?

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