18. Mai 2015 3 Likes

Nahe und ferne Geräusche

Was wir von Katzen über die Topografie der Zukunft lernen können – Eine Kolumne von Sascha Mamczak

Lesezeit: 3 min.

Einmal war bei mir eine Katze zu Besuch. Freunde hatten eine dringende Reise zu machen und baten mich, das Tier für ein Wochenende bei mir aufzunehmen. Natürlich sagte ich ja – ich habe eine Schwäche für Katzen, ich könnte ihnen stundenlang beim Herumspringen, Putzen, Schnurren, Schlafen und Träumen zusehen (was, das nur am Rande, überhaupt eine empfehlenswerte Übung ist: Tieren beim Tier-Sein zusehen; Ihr Verhältnis zum preisreduzierten Supermarktschnitzel ist danach nicht mehr dasselbe). Und so sah ich der Katze ein Wochenende lang beim Herumspringen, Putzen, Schnurren, Schlafen und Träumen zu, vor allem aber beim Zurechtfinden in der für sie fremden Umgebung. Und dabei fiel mir etwas Interessantes auf: Die Katze reagierte äußerst sensibel auf Geräusche. Aber nicht auf Geräusche, die ich von mir gab, oder auf sonstige Geräusche aus meiner Wohnung, sondern auf weiter entfernte Geräusche: aus dem Treppenhaus, aus dem Garten, von der Straße. Tatsächlich hätte ich neben ihr Tuba spielen können, sie hätte mich nur gelangweilt angeschaut. Doch leise Schritte auf der Treppe vor der Tür oder der kaum vernehmliche Motor eines vorbeifahrenden Autos jagten ihr einen solchen Schrecken ein, dass sie sich unter dem Bett versteckte und erst nach längerem Zureden wieder hervorkam.

Bestimmt gibt es für dieses Verhalten eine wissenschaftliche Erklärung, aber da ich wissenschaftlichen Erklärungen in Bezug auf Tiere nur bedingt traue, denke ich es mir einfach so: Katzen, vielleicht auch andere Tiere, haben ein dezidiert topografisches Verhältnis zur Zeit. Das, was räumlich nah ist, ist nur leidlich bedeutend, denn es hat sich ja bereits ereignet. Das aber, was weit weg ist, ist das, was geschehen wird (und es könnte nichts Gutes sein). Tiere nehmen das Flüstern der Gegenwart als Zukunft wahr - sie ahnen, das jedenfalls weiß die Wissenschaft, dass die Erde bald beben wird oder sich ein Tsunami auftürmt. Das Verhältnis des Menschen zur Zeit dagegen ist ein ganz anderes: Das, was nah ist, füllt beinahe unser gesamtes Bild von der Zukunft aus; das, was weit weg ist, ist „irgendwann“, also eher nie, selbst wenn es bereits Gegenwart ist: anthropogene Hurrikane, die ganze Archipele verwüsten, genmodifizierte Getreidesorten, die die Böden in der Dritten Welt auslaugen, lizenzierbare Herzschrittmacher, die mit dem Internet verbunden sind – „the sound of distant thunder at a picnic“, wie W. H. Auden einmal über den Tod sagte. Wir sollten uns also auf unsere Fähigkeit, in die Zukunft zu blicken – die Zukunft zu konstruieren und zu konsumieren –, die uns von den Tieren unterscheidet, nicht allzu viel einbilden. Denn unser Zukunftsdenken ist eine gigantische Verdrängungsmaschine. Was wir als Zukunft wahrnehmen wollen, nennen wir „realistisch“, alles andere „Science-Fiction“.

Das muss für die Science-Fiction kein Nachteil sein. Ja, eigentlich sollten wir es als kulturelle Errungenschaft feiern, dass zumindest eine unserer Kunstformen versucht, die Topografie der Zukunft zu modellieren, die feinen seismischen Erschütterungen wahrzunehmen, die von großen Veränderungen künden, das Wasser zu registrieren, das zurückweicht, bevor es mit aller Macht zuschlägt. Dass es mit diesem Feiern nicht allzu weit her, hat natürlich mit Hollywood zu tun, wo man, siehe Star Wars oder Matrix, den Unterschied zwischen Science-Fiction und Fantasy nie verstanden hat (weshalb für diese Art von Unterhaltung einst auch der Terminus „Sci-Fi“ geprägt wurde). Aber es hat auch mit der leicht überanstrengten Selbstrechtfertigung eines Genres zu tun, das von „kommenden Dingen“ erzählen will, indem es die schrillen Sensationen der Gegenwart aufsummiert und Astronauten durch Wurmlöcher schickt oder Dinosaurier klont. Doch so funktioniert das nicht. Die Zukunft – das hat mir die Katze an diesem Wochenende beigebracht – ist nicht das lauter gestellte Dröhnen neben mir. Die Zukunft sind leise Schritte auf der Treppe vor der Tür. Die Zukunft ist der kaum vernehmliche Motor eines vorbeifahrenden Autos. Die Zukunft ist das ferne Grollen des Donners während unseres Picknicks.

Gute Science-Fiction lässt uns dieses Grollen spüren, und ich bin sicher, wenn Katzen lesen könnten, würden sie gute Science-Fiction lesen. Aber wer weiß, vielleicht ist das ja die Zukunft: Katzen, die lesen und schreiben und von kommenden Dingen erzählen.

Und Menschen, die sich unter dem Bett verstecken.

 

Sascha Mamczaks Buch „Die Zukunft – Eine Einführung“ ist im Shop erhältlich.

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