18. Juni 2015 4 Likes 1

Und grüßen Sie mir die Zukunft

In Gedenken an Wolfgang Jeschke – seine preisgekrönte Kurzgeschichte „Das Geschmeide“

Lesezeit: 40 min.

Wolfgang Jeschke (1936–2015) war prägender Lektor und Herausgeber von Science-Fiction und ein großartiger Science-Fiction-Autor. Sein Tod lässt seine Familie, seine Freunde, seine Kollegen und all seine Wegbegleiter traurig zurück. Um ein Gefühl dafür zu vermitteln, welch fantastische Welten Wolfgang Jeschke geschaffen hat, präsentieren wir seine 2004 erschienene und mit dem Kurd Lasswitz Preis ausgezeichnete Kurzgeschichte „Das Geschmeide“:

———

Wolfgang Jeschke

Das Geschmeide

Wolfgang Jeschke: Das GeschmeideDas Boot trieb steuerlos dahin und kreiselte inzwischen so stark, dass ich taumelte und gegen die Reling gedrückt wurde. Ich starrte einen Moment lang hinunter in die Dunkelheit. Unter uns achttausend Meter freier Fall. Dann sah ich im Licht der Hecklaterne die Felswand dicht vor uns. Wir schwangen so knapp vorbei, dass ich befürchtete, wir würden sie jeden Moment berühren.

»Man sollte sie erschießen!«, schrie der Captain zornig.

»Wir sind unbewaffnet«, schrie ich zurück.

Wieder huschte die Felswand vorbei, wieder ganz knapp. Die Wimpel flatterten und bauschten sich um uns. Der Fallwind riss uns immer rascher in die Tiefe. Das Heck sackte ab. Ich hielt mich an der Reling fest. Die Hecklaterne erlosch. Um mich war finstere Nacht. Über uns kreisten die Sterne – schwindelerregend und erschreckend hell.

»Nun tun Sie doch endlich etwas!«

»Was soll ich denn tun, Captain?«

»Halten Sie mir wenigstens die Kerle vom Leibe!«

Ich wandte mich ihnen zu. Sie hatten einen Halbkreis gebildet und umstanden uns drohend geduckt. Ich sah im unsicheren Licht die entblößten Augen. Verschwunden war die friedfertige Selbstversunkenheit. Augen wie aus Onyx starrten mich an – schwarz, hart, glatt und kalt. Raubvogelaugen – wachsam und mitleidlos.

Ich war so verblüfft vom Anblick dieser jähen Verwandlung, dass ich eine Sekunde zu lange zögerte. In dem Moment sprangen sie mich an.

Ich fuhr erschrocken hoch, aber Schmerz stach mir so grausam durch die Brust, dass mir die Luft wegblieb.

»Ganz ruhig«, sagte eine Frauenstimme an meinem Ohr. Ich wandte den Kopf und blickte mich um. Da war niemand. Es war immer noch Nacht. Ich sah ein Blinken farbiger Lichter. Das mussten medizinische Geräte sein. Ich war in Sicherheit. In der Ferne war Gewehrfeuer zu hören. Die Zeit des Chaos war also angebrochen. Ich schloss die Augen.

»Ganz ruhig«, sagte die Stimme. Es musste der MedComp am Kopfende meines Bettes sein, der über mich wachte. In beiden Armbeugen spürte ich Nadeln. Ich atmete ganz langsam und vorsichtig. Der dünne Plastikschlauch in meinem linken Nasenloch befächelte meine Schleimhäute mit kühlem Sauerstoff. Die Laken gaben mir ein Gefühl der Geborgenheit. Ich ließ den Schmerz zurück und trieb davon in den Schlaf.

 

Als ich wieder aufwachte, war es Tag. Trübes Licht fiel durch die Milchglasscheiben der Tür und die gekippte Jalousie. Aus dem schmalen Schlitz unter der Decke zischte klimatisierte Luft in den Raum wie durch zusammengebissene Zähne. Sie war wohltuend kühl und trocken. Ich hob das vom Schlaf erhitzte Linnen, um meine Haut zu erfrischen. Ich wollte mich aufrichten, aber augenblicklich festigte der Kokon, der meinen Oberkörper einhüllte, seinen Griff.

Auf dem Gang wurden Stimmen laut. Die Tür wurde geöffnet.

»Sie haben Besuch«, sagte die Schwester und über die Schulter: »Kommen Sie herein, Mademoiselle La Maire. Hier liegt er.«

Es war Anette Galopin, die Bürgermeisterin persönlich, wie ich an der Amtsspange auf der Brust ihrer hellblauen Burqa erkannte. Eine weitere Gestalt drängte hinter ihr herein: Henri Frébillon, eine dicke Zigarre paffend. Der rotblonde Backenbart, der seine fleischigen Backen umrahmte, stand ab wie gezupfte Baumwolle. Seine Bartpflege war ausschließlich seinem wild sprießenden Schnauzer gewidmet, dessen äußerste Enden in stattlichen Hörnern nach unten gezwirbelt waren, was seinem rosigen Gesicht einen gewichtig pathetischen und zugleich lustigen Ausdruck verlieh. Wenn er traurig dreinblickte, sah er eher einem Walross, wenn er lächelte, eher einem lüsternen, verschmitzten Keiler ähnlich.

Er nahm die Zigarre aus dem Mund. »Hallo, mein Freund«, sagte er und hob die Hand zum Gruß. Die Schwester benutze die Gelegenheit, um sich seiner Zigarre zu bemächtigen und sie resolut im Waschbecken zu löschen.

»He!«, protestierte er. »Das war eine echte Sanchos! Haben Sie eine Ahnung, wie viele Lichtjahre die gereist ist, um hierher zu gelangen?«

»Hier wird nicht geraucht«, erwiderte die Schwester unbeeindruckt und zog die Jalousie auf. »Nehmen Sie doch bitte Platz, Mademoiselle.« Sie fuhr den Kopfteil meiner Liege hoch, dann schob sie der Bürgermeisterin einen Sessel neben das Bett.

Frébillon sah sich vergeblich nach einer weiteren Sitzgelegenheit um und zuckte resignierend die Achseln, als die Schwester dem keine Beachtung schenkte und das Zimmer verließ. Er drehte den breitkrempigen Hut, über dessen Spitze er den Schleier gefaltet hatte, unschlüssig vor der Brust, dann legte er ihn zu meinen Füßen auf die Bettdecke.

»Wie geht es, Monsieur Palladier?«, fragte Mademoiselle Galopin mit ihrer dunklen Stimme und schlug ein Bein übers andere. Ein schlanker Fuß kam unter dem Saum ihres Gewands zum Vorschein, der in einem schmalen schwarzen, mit Silber beschlagenen Schuh steckte. Ich betrachtete ihn entzückt.

»Den Umständen entsprechend gut, Mademoiselle«, krächzte ich. »Und solange Henri keine Witze erzählt, was er ja in Ihrer Gegenwart nicht wagen wird, spüre ich meine Rippen … ah … kaum.«

Frébillon, der missmutig seine ruinierte Zigarre aus dem Waschbecken gefischt hatte und sie bekümmert betrachtete, blickte auf und brach in ein polterndes Lachen aus. Aber es klang nicht so unbeschwert wie sonst.

»Keine guten Nachrichten«, seufzte die Bürgermeisterin.

»Tut mir leid«, sagte ich. »Es ist so gut wie alles schiefgegangen.«

»Nicht alles«, sagte Henri huldvoll lächelnd. »Du lebst noch.«

Sie neigte den Kopf. »Und der Captain auch. Das ist das Wichtigste.«

Ich starrte hingerissen die schlanke Fessel an, die unter dem Saum ihrer Burqa hervorlugte. Für einen Moment übermannte mich die Vorstellung, sie könnte unter ihrem Körperschleier nackt sein, wie die Damen in der Rue des Hirondels am Quai, die, wenn ein Kunde in heftiger Not Einlass begehrte, ihm ihre Burqa öffneten und sie als mobile Liebeslaube benutzten.

»Ganz ruhig«, sagte das Gerät am Kopfende meines Bettes. Ich schloss die Augen und hielt den Atem an.

»Sie haben Schmerzen?«

»Nein, nein …«, versicherte ich hastig.

»Wir werden Sie nicht lange belästigen, Monsieur Palladier. Ich brauche nur ein paar Informationen aus erster Hand.«

»Hat Captain Wilberforth Ihnen nicht Bericht erstattet?«, fragte ich. »Ich bin ja nur als Dolmetscher dabei gewesen.«

»Das ist der Grund, weshalb ich es von Ihnen wissen möchte.«

»Wie geht es dem Captain überhaupt?«

»Er hat die Bruchlandung besser überstanden als du«, sagte Henri lachend. »Er hat eine gebrochene Nase, ist aber sonst wohlauf.«

»Du lachst?«, fragte ich. »Deine schöne Barke ist zu Bruch gegangen, und du scheinst darüber nicht sonderlich betrübt zu sein.«

Natürlich konnte Frébillon den Verlust einer Windbarke aus der Westentasche begleichen. Er war einer der reichsten Männer der Stadt. Er mischte im Proteinhandel für die Flotte ganz oben mit und war als Transportunternehmer im Salzhandel die Nummer Eins am Binnenmeer. Aber er war sparsam, und ich mochte wetten, dass er die Überreste seiner Zigarre, die er in der Jackentasche hatte verschwinden lassen, trocknen und schließlich zu Ende rauchen würde, und sei es heimlich auf der Toilette.

»Die Flotte wird mir den Verlust ersetzen«, erklärte er mit listig funkelnden Augen. »Der Captain hat es mir versichert. Das sind Peanuts, sagte er, was immer Peanuts sein mögen. Darauf käme es nun auch nicht mehr an.«

»Ich hörte Schüsse heute Nacht«, sagte ich zur Bürgermeisterin gewandt.

»Es hat Unruhen gegeben«, erwiderte sie. »Aber außerhalb der Stadt. Wir haben Vorsichtsmaßnahmen ergriffen. Die Situation ist für uns alle natürlich absolut ungewohnt. Ich hoffe, dass wir nichts übersehen haben. Ich habe Anweisung gegeben, dass alle Eingeborenen die Stadt verlassen und die Tore auch tagsüber geschlossen bleiben müssen. Wir haben Funksprüche an die Fangschiffe in den Salzmarschen geschickt, damit sie auf der Hut sind und sich gegen eventuelle Luftangriffe wappnen. Viel mehr können wir im Moment nicht tun, oder? Was könnte auf uns zukommen?«

»Ich habe keine Ahnung, Mademoiselle.«

Der Fuß in dem silberbeschlagenen Schuh war unter dem Saum verschwunden, dafür lag nun eine Hand im Schoß – schlank, schmal, die karamellfarbene Haut mit feinen, fast unsichtbaren Tätowierungen in Form von kunstvoll verschlungenen Arabesken bedeckt. Die langen Nägel waren auberginefarben lackiert. Die Klimaanlage trug mir einen Hauch ihres Parfüms zu: ein herber aromatischer Duft wie von Zypressenzweigen an einem kühlen, regnerischen Morgen. Meine Nasenflügel blähten sich. Sah ich hinter dem feinen Gewebe ihres Gesichtsschleiers ihre großen dunklen Augen blitzen?

»Sie haben die Geschichte der Carteser studiert, Monsieur Palladier.« Hörte ich einen Hauch von Spott in ihrer Stimme?

»Man hätte mich wenigstens einweihen können«, sagte ich und konnte einen Anflug von Ärger nicht ganz unterdrücken, der mir in der Kehle aufstieg.

Sie hob die schmalen Schultern. »Wir wollten es nicht an die große Glocke hängen. Je weniger davon wussten …«

Oh, Sie halten mich also für die große Glocke, meine Liebe? hätte ich am liebsten gesagt. »Es wäre besser gewesen, wenn man mich informiert hätte. Das hätte uns um ein Haar das Leben kosten können. Ich wurde von der Aggressivität dieser sonst so friedfertigen Leute völlig überrumpelt.«

Die Hand flog auf und ließ sich auf meinem Knie nieder. Eine sanfte, begütigende Berührung. Mein Groll schwand dahin.

»Sie haben Recht, aber die Emissäre der Flotte bestanden darauf, Stillschweigen zu bewahren.«

»Wird man versuchen, die echten Steine wiederzubeschaffen, die in dem Geschmeide fehlen?«

»Das ist völlig aussichtslos«, sagte Henri. »Es ist alles versucht worden. Es wurden Millionen Äquvale als Belohnung ausgesetzt. Glaubst du allen Ernstes, dass sich ein Sammler je von einem solchen Leckerbissen trennen würde? Einem wiedergeborenen Gott, der vor achtzig- oder hunderttausend Jahren leibhaftig gelebt hat, überliefert in Form eines Diamanten? Nie im Leben! Nicht um alles in der Welt! Ich würde es auch nicht tun.«

»Monsieur Frébillon!«, sagte die Bürgermeisterin tadelnd.

Er hob die Hände. »Ich habe keinen der fehlenden Steine, Mademoiselle La Maire. Aber wenn ich ehrlich bin …« Er blies die Hörner seines Schnauzers in die Höhe und schüttelte den Kopf. »Nein. Ich würde mich ebenfalls nicht von so einer Kostbarkeit trennen. Sie ist unbezahlbar.«

»Ich verstehe die aggressive Reaktion der Mönche und der Pilger nicht«, sagte die Bürgermeisterin. »Zu diesem Zeitpunkt war die Keschra doch noch am Leben, wenn ich das richtig verstanden habe.«

»Ja. Aber sie war bereits sehr hinfällig. Ich stand ja keine drei Meter von ihr entfernt, als sie das Geschmeide entgegennahm. Ich spürte ihre Angst und ihr Entsetzen. Der Schock hat ihr die letzte Kraft geraubt. Die Welt entglitt ihr.«

»Wenn man ihr die Quelle ihrer Kraft, die Verbindung zu ihren Vorfahren, geraubt hat – wie sollte es anders sein?«, sagte Henri mit sorgenvoll gefurchter Stirn.

Er schlug mit der Faust in die Handfläche. »Das könnte das Ende der Kolonie bedeuten.«

»Wie lange wird die Raserei Ihrer Meinung nach dauern, Monsieur Palladier?«, fragte sie nüchtern.

»Ich weiß es nicht. Der letzte Ausbruch fand vor achthundert Jahren statt. Da lebten die Menschen erst ein halbes Jahrhundert auf diesem Planeten. Für sie kam das Ereignis völlig überraschend. Die Städte waren ungesichert. Einige Siedler kamen ums Leben. Die Aufzeichnungen sind lückenhaft und ziemlich verworren. Es scheint etwa zwei Jahre gedauert zu haben, bis die Wiedergeborene Göttin gefunden war und sich die Verhältnisse wieder normalisierten.«

»Diese chaotischen Zeiten treten also jedes Mal ein, wenn eine Keschra stirbt, und dauern an, bis ihre Wiedergeburt aufgefunden wurde.«

»Ja. Die Annahme stützt sich auf Überlieferungen der Einheimischen, soweit sie überhaupt zu deuten sind. In ihnen ist von der periodischen Wiederkehr von Zeiten der Unrast und des Unfriedens die Rede.«

»Und wie lange dauern die Zeiten des Friedens dazwischen?«

»Manchmal fünfhundert Jahre, manchmal tausend, manchmal zweitausend – je nachdem, wie lang eine Keschra lebt. Die Legenden der Cartesaner sind vage. Nur wenige sind schriftlich fixiert. Eine Datierung ist aussichtslos.«

»Aber die Zahl der Perioden ist eindeutig.«

»Absolut. Es gab dreiundachtzig Wiedergeburten.«

»Dreiundachtzig Diamanten umfasst das Geschmeide«, warf Henri ein.

»Genau.«

»Wenn man von fünfhundert bis zweitausend Jahren Lebenszeit ausgeht, dann bedeutet das …«

»… eine kulturelle Tradition von mindestens hunderttausend Jahren, Mademoiselle. Von ein paar Idioten an einem Tag zerstört – aus Habsucht und Geldgier.«

Wir schwiegen. Die Hand war längst in ihrem Gewand verschwunden und hatte ein Gefühl der Leere hinterlassen. Sie hatte mich berührt – wahrscheinlich unwillkürlich, allenfalls besänftigend, weil sie meinen Ärger gespürt hatte. Dennoch hatte der Druck ihrer Finger mir ein euphorisches Kribbeln im Hinterkopf verursacht.

»An einer Stelle schreiben Sie in Ihren Arbeiten«, sagte sie, »dass diese Zeiten des Chaos auch positive Wirkungen haben.«

»Zweifellos, denn bedenken Sie: Es werden dabei verkrustete Strukturen aufgebrochen. Es gibt Revolutionen. Institutionen werden hinweggefegt. Ganze Stämme setzen sich in Bewegung auf der Suche nach neuen Siedlungsgebieten, fruchtbaren Weide- oder ergiebigeren Fischgründen. Es kommt zu bewaffneten Konflikten. Der Genpool wird durcheinandergemischt.«

»Nun, mag sein. Ich sehe darin nur Kriege, Vergewaltigungen, Vertreibungen, Mord und Totschlag.« Sie blickte sich nach Henri um. Der nickte bedrückt und schaute drein wie ein trauriges Walross.

»Wir werden also einfach abwarten müssen, bis eine Abordnung aus dem Kloster herabkommt und nach der Wiedergeborenen Göttin sucht. Einer jungen Keschra.«

»Das kann leicht dreißig bis vierzig Tage dauern«, warf Henri ein. »Der Abstieg aus dem Hochgebirge ist gefährlich um diese Jahreszeit wegen der Schneeschmelze und der Lawinenabgänge.«

»Ist das Mädchen gefunden und hinauf ins Kloster gebracht, ist mit einer Entspannung der Lage zu rechnen. So lange müssen wir vorsichtig sein und die Tore geschlossen halten.«

»Ich glaube, Mademoiselle« sagte ich zögernd, »diesmal ist die Lage ernster als je zuvor.«

»Weshalb?«, wollte Henri wissen.

»Es könnte sein, dass es keine Wiedergeburt gibt.«

Die Bürgermeisterin wandte sich mir zu, sagte aber nichts.

»Das Geschmeide ist unvollständig. Die Verbindung zu den fernen Vorfahren könnte dadurch abgerissen sein.«

»Sind Sie da ganz sicher?«

»Nein, natürlich nicht. Wie könnte ich mir sicher sein, aber …« Ich stockte. Angst lähmte mir die Kehle.

»Aber?« Sie hatte sich erhoben.

»Das Kloster … es machte einen sehr hinfälligen Eindruck.«

»Nun, es ist alt. Mehr als hunderttausend Jahre.«

»Wenn es dieses Kraftzentrum auf dieser Welt nicht mehr gäbe … Mademoiselle, das wäre das Ende von allem.«

»Merde!«, sagte Henri gequält.

»So schnell geben wir die Hoffnung nicht auf«, sagte sie, beugte sich über mich und ergriff meine Hände. Ihre Haut war glatt und kühl und ihre Berührung überraschend kraftvoll.

»Wenn es Ihnen besser geht, müssen Sie mir von Ihrem Besuch dort oben erzählen.«

Ich nickte, brachte kein Wort heraus.

»Adieu!«, rief Henri.

Als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, kamen mir die Tränen. Ich hätte nicht sagen können, weshalb. War es die Berührung ihrer Hände? War es meine Trauer um das Schicksal dieser Welt? War es Selbstmitleid?

»Ganz ruhig«, sagte der MedComp.

 

Die vier Pédaliers hingen müßig in ihren Käfigen außenbords und stabilisierten mit lässigen Tretbewegungen die Position der Barke, wenn sie durch die Böen, die vom Avalanche-Pass herabstürzten, abzudriften drohte. Die Luft war eisig. Ich hatte den Kragen meiner Jacke hochgeschlagen und den Schal zweimal um den Hals geschlungen, aber der Atem fuhr mir wie eine kalte Klinge durch die Kehle in die Lungen. Die Propeller schnurrten leise. Der Baldachin, den der Maître als Schutz gegen die grelle Sonne für uns aufgespannt hatte, flappte, und der Wind sang in den nackten Drahtverspannungen des Mastes, an denen das Segel herabgeglitten war.

Der Maître des Pédaliers saß auf seinem erhöhten Platz und regulierte von Zeit zu Zeit das Suspensorenfeld, um die vorgeschriebene Höhe über der Terrasse einzuhalten, die sich vor dem Kloster erstreckte.

»Wie lange soll denn das noch dauern?«, fragte der Gesandte der Flotte ungeduldig und drückte sich den Dreispitz in die Stirn, als wieder eine Bö vom Gipfel des Mont Matin über uns herfiel.

»Keine Ahnung«, sagte ich.

Ich sah, dass er jämmerlich fror, aber er hatte darauf bestanden, seine dürre Gestalt in eine Galauniform mit Umhang zu hüllen, statt einen Mantel oder eine warme Jacke anzuziehen, und er lehnte es ab, sich zu beklagen. Unser Atem kondensierte in der kalten Luft und wurde davongetragen.

»Dann fragen Sie ihn!«, sagte er mit einer Kopfbewegung zum Maître hin.

Sie haben mir keine Befehle zu erteilen, Sir! Ich bin kein Angehöriger der Flotte, sondern Zivilist. Ich bin Ihrer Mission als Dolmetscher zugeteilt. »Er weiß es auch nicht«, sagte ich stattdessen. »Er wartet auf ein Zeichen der Mönche, dass er landen darf.«

»Seit Stunden!«

Ich zuckte die Achseln und blickte zum Kloster hinüber. Es hing wie ein grotesker fauler Kürbis auf einem Felssims über einem Steilabfall. Die schwarze Felswand unterhalb seiner Rundung war von organischen Ausscheidungen wie mit einer dicken braunen Lasur überzogen, die mehrere hundert Meter hinabreichte und auf einem Sims weit unten einen hässlichen Wulst bildete.

»Sagen Sie, Pallavier …«

»Palladier, Sir.«

Er winkte ab und musterte mich von oben herab mit seinen blassgrauen, rotgeränderten Augen, die von dem scharfen Wind tränten. »… der Angriff damals wurde von der Passhöhe da oben herab vorgetragen, nicht wahr?«

»Angriff? Es war ein feiger Raubüberfall.«

Er warf mir einen flüchtigen, desinteressierten Blick zu und reckte den runzligen Hals über dem goldbestickten und mit Raumschiffsymbolen geschmückten Stehkragen seiner Uniformjacke, beschirmte die Augen und blickte zum Avalanche-Pass hinauf, dem tiefen Sattel zwischen dem Mont Matin und dem Mont Arsin.

»Sie arbeiteten sich also mit ihrer Windbarke gegen die Thermik vor. Eine respektable Leistung.«

»Nun, so kann man es auch sehen, Sir. Ich sehe es anders. Das Kloster konnte sie nicht riechen, weil sie sich im ersten Tageslicht gegen den Wind anschlichen. Es war völlig ahnungslos und traf keine Vorsichtsmaßnahmen. Sie machten an der Zisterne über dem Kloster fest und kippten ein Anästhetikum in das Wasser, mit dem es jeden Morgen getränkt wird. Danach hatten sie leichtes Spiel. Sie fanden die Pforte unverschlossen. Das Kloster war zu benommen, um sie zu schließen.«

»Militärisch ein genialer Coup.« Er nickte anerkennend. »Man sieht, es waren Männer von der Flotte.«

»Sie haben fünf Mönche getötet, die das Geschmeide der Göttinnen verteidigten.«

Er machte eine Bewegung, als schnippte er mein Argument samt den Toten vom Ärmel seiner Uniformjacke.

»Ich habe die Vernehmungsprotokolle gelesen«, erwiderte er knapp und presste die schmalen Lippen noch mehr zusammen. »Die Täter wurden öffentlich hingerichtet. Es wurde ein Exempel statuiert. Wir können es uns nicht leisten, Cartesius zu verlieren. Es ist die einzige Menschenwelt in fünfzig Lichtjahren Umkreis hier am inneren Rand des Orionarms vor der großen Leere, die uns vom Sagittariusarm trennt.«

»Das weiß ich, Sir. Ich bin zwar kein Astronom, sondern Linguist und Historiker. Aber diese Fakten werden uns bereits in der Schule beigebracht.«

Er nickte. »Außerdem wird hier Protein gewonnen, das die Flotte für die Verproviantierung braucht. Wir können auf Cartesius nicht verzichten.«

»Außerdem wohnen hier inzwischen fast zwei Millionen Menschen«, gab ich zu bedenken.

»Wir wären außerstande, sie zu evakuieren. Wir müssten sie ihrem Schicksal überlassen.« Seine Worte trieben in der kalten Luft davon wie flüchtige Gespinste.

»Deshalb haben Sie ja auch alles darangesetzt, um das Geschmeide wieder beizubringen.«

Er musterte mich prüfend und verzog den Mund. »Allerdings«, sagte er dann. »Das verdammte Ding hat die Flotte ein Vermögen gekostet. Wir hätten ein Schiff damit ausrüsten können. Eine unverzeihliche Dummheit, diesen wertvollen Kultgegenstand zu rauben.«

»Kultgegenstand, Sir? Es ist mehr als das. Es sind die Leiber von dreiundachtzig Göttinnen. In dem Geschmeide ist eine mehr als hunderttausend Jahre alte Tradition verkörpert.«

»Ich bin darüber informiert«, erwiderte er knapp. »Aber ich werde mich hüten, in Glaubensfragen eine Meinung zu äußern. Aus religiösen Angelegenheiten hält sich die Flotte grundsätzlich heraus. Das ist unsere Tradition. Nicht ganz so alt, aber – immerhin!«

Er nahm unauffällig ein paar Atemzüge aus seinem Sauerstoffpack. Wir waren in fast zwölfhundert Metern Höhe. Der Luftdruck betrug nur ein knappes Drittel dessen in Höhe des Binnenmeers.

Wir waren vor Sonnenaufgang von Arcachon aufgebrochen. Die Stadt war noch in dichten Nebel gehüllt. Draußen auf dem Binnenmeer war das Tuten und Blöken der Sirenen zu hören, als die Schiffe sich ihren Weg in den Hafen suchten.

Der Maître des Pédaliers hatte die Barke senkrecht aufsteigen lassen. Als sie sich aus dem Nebel erhob, war der Himmel bereits hell, und hoch über uns ragten im ersten Tageslicht die schlanken Spitzen des Mont Matin und des Mont Arsin, die beiden höchsten Erhebungen des Westlichen Kummet, wie zwei entblößte Fänge in den Himmel. Der Avalanche-Gletscher zwischen ihnen, vom rosigen Schimmer des Morgens überhaucht, sah aus wie eine Zunge. Die Gipfel der Vorberge erhoben sich in der Dämmerung aus dem Nebel wie grüne Inseln aus einem Meer aus geronnener Milch. Ein Konvoi von sechs schwerbeladenen Salzzillen kam den Steilabfall herab, ging in den Landeanflug und tauchte ein.

Das Segel war nass vom Tau, und Tropfen sprangen von den Drahtseilen, als der Maître es am Mast hochzog. Wir segelten die Felswand entlang, während der Maître Ausschau hielt nach der ersten Thermik, die uns den zehntausend Meter hohen Steilabfall zum Kloster hochtragen würde.

Mittag war vorbei, und noch immer tat sich nichts. Lillepoint stand senkrecht. Sie brannte herab, aber es war ein kaltes, gleißendes Licht. Ohne den Baldachin, den der Maître über dem Deck aufgespannt hatte, wäre die Strahlung, die sich aus dem indigofarbenen Himmel ergoss, unerträglich gewesen. Es fiel schwer zu glauben, dass es dasselbe Gestirn war, das mild auf die Strände des Binnenmeers herabschien, ein diffuser Lichtfleck in einer dunstigen, feuchtigkeitsgesättigten Atmosphäre, die mit ihren viertausend Millibar mehr einer Flüssigkeit ähnelte als Luft.

Ein Fangschiff groß wie ein Flugzeugträger kam über den Pass herein auf dem Weg in die Docks von Brest oder La Rochelle. Wahrscheinlich beschädigt von den Zangenschlägen und Schwanzhieben der Krustentiere in den Flachmeeren und Salzmarschen jenseits des Kummets. Seine Suspensionsfelder flackerten in aktinischem Blau. Die Gletscherzunge des Avalanche wurde von dem Teilchensturm aus den Suspensoren gefegt wie von der Flamme eines Schweißbrenners. Das pulverisierte Eis wurde in Fontänen die Bergflanken hochgepeitscht. Die Luft war von einem Nebel aus Eiskristallen getrübt.

Ich knotete mir den Schal fester um den Hals und schlug den Kragen meiner Jacke hoch. Mir knurrte der Magen. Ich hatte am Morgen nichts gegessen. Der Gedanke an den Aufstieg mit einer Windbarke verursachte mir immer ein mulmiges Gefühl im Magen. Und diesmal war es ein Aufstieg in extreme Höhe gewesen. Ich hätte keinen Bissen hinuntergebracht.

Der Wind war abgeflaut. Nun war die Ausdünstung des Klosters deutlich wahrzunehmen. Es roch uralt. Das zähe, lederige Fleisch seiner hingelagerten Masse strömte einen süßlichen Geruch aus, eine Mischung aus pflanzlicher Fäulnis und moderigem Atem.

Pilger hatten sich eingefunden und lagerten um den geschlossenen Eingang. Dreißig Tage dauerte der Aufstieg vom Niveau des Binnenmeers hier herauf, durch enge Täler, von Geröllmassen überschwemmt, auf schaukelnden Seilbrücken über wilde, tief eingeschnittene Flüsse, Abgründe entlang auf Saumpfaden, oft nur ungesicherte fußbreite Simse in Felswänden. Eine mörderische Wallfahrt! Zahllose Schädelpyramiden und Beinhäuser säumten die Pilgerwege, gefüllt in vielen Jahrtausenden mit den Knochen jener, die an Erschöpfung und Unterkühlung gestorben oder Verletzungen durch einen Sturz oder Steinschlag erlegen waren.

Am Tor des Klosters entstand Unruhe. Die Pilger, die schon seit Stunden an der Pforte ausgeharrt hatten, wichen ehrerbietig zurück. Der Eingang weitete sich wie ein Anus, und Mönche in leuchtend hellgrünen Gewändern schritten heraus und nahmen Aufstellung auf dem Vorplatz am Rande der Landeterrasse. Zeichen wurden gegeben.

Der Maître des Pédaliers glitt von seinem Sitz an den Suspensorenkontrollen und eilte an die Reling. Er hatte sein hüftlanges schwarzes Haar auf dem Scheitel zu einem grotesken Knoten aufgetürmt, um seiner Göttin gegenüberzutreten. Er rief etwas hinunter, das ich nicht verstand, dann kehrte er an sein Pult zurück und gab Kommandos. Die Pédaliers richteten sich im Sattel auf und traten in die Pedale. Die Luftschrauben surrten; der Maître dämpfte das Suspensorfeld, und die Barke senkte sich hinab auf die Terrasse. Die langen grün-gold-roten Wimpel der Vereinigten Küstenstädte bauschten sich. Zwei der Pédaliers schwangen sich aus dem Sattel, schlüpften aus ihrem Käfig, sprangen hinab und sicherten die Barke mit Seilen. Mit einem leisen Knirschen setzte das Boot mit den Kufen auf, als das Suspensorfeld erlosch.

Die Mönche starrten uns schweigend entgegen – nicht neugierig, nicht freundlich, nicht ablehnend. Wir blickten in uralte Gesichter, in junge Gesichter, und sie blickten gleichgültig zurück. Mit ihren weißlich verschleierten Augen machten sie einen abwesenden, traumverlorenen Eindruck.

Wir betraten die Terrasse. Der Stein fühlte sich gefährlich glatt an, poliert in Zehntausenden von Jahren durch die nackten Füße der Pilger. Der Maître und seine Pédaliers warfen sich zu Boden und verharrten ausgestreckt mit verhülltem Gesicht.

Der Gesandte trug schnaufend den schweren gesicherten Stahlkoffer. Er verzichtete darauf, das Suspensorelement an der Unterseite einzuschalten, als wollte er symbolisch eine Last auf sich nehmen, eine Schuld abtragen. Ich bezweifelte, ob einer der Mönche diese symbolische Geste verstand. Kahlrasierte Novizen bückten sich und streuten ihm Blumen vor die Füße. Wo hatten sie diese Blüten her, fünftausend Meter oberhalb der Vegetationsgrenze? Hatten Pilger sie in den Tälern gepflückt und mit heraufgebracht? Nein, sie waren ganz frisch. Hatte das Kloster sie hervorgebracht für diese Gelegenheit? Der ehrenvolle Empfang entrang dem Gesandten ein Lächeln. Glaubte er etwa, die Geste gelte ihm? Sie galt den heimkehrenden Göttinnen.

Über glatte, ausgetretene Stufen stiegen wir zum Eingang des Klosters hinauf. Die der Sonne zugewandten Flanken waren grün von Chlorophyll, aber es war fleckig, wies graue, abgestorbene Areale auf. Weibliche Pilger rieben die abgehärmten Stellen mit Butter ein, die sie in Blättern eingewickelt als Weihegabe mitgebracht hatten. Dann und wann zuckte die Haut des gewaltigen Wesens unter ihren Händen, was von ihnen mit merkwürdig trillernden Schreien quittiert wurde. Die ärmlichen, weit und lose um den Körper geschlungenen roten und erdfarbenen Gewänder gaben den Blick frei auf dunkelbraune Haut, magere Arme, abgezehrte Leiber und winzige spitze Brüste.

Die Männer hielten sich im Hintergrund. Sie lagerten in einigem Abstand vom Kloster an einem kleinen Feuer, aßen und tranken vom Leib des Klosters und sangen ihre endlosen brummenden und schnarrenden Lieder, die sie durch merkwürdige Verdrehungen ihres Oberkörpers modulierten, den Thorax mit den Armen quetschten und Brust und Bauch mit den Fäusten bearbeiteten, wodurch Laute entstanden wie bei einem Dudelsack, was diesen Sängern den Spitznamen ›Petites Cornemuses‹ eingebracht hatte. Trotz der dünnen Luft waren diese Gesänge in den Bergen kilometerweit zu hören.

Im Innern des Klosters war der süße Fäulnisgeruch noch intensiver. Ich stülpte mir die Maske meines Sauerstoffgeräts über die Nase und tat ein paar tiefe Züge. Wir wurden in einen weiten Raum geführt, dessen Wände in einem milden perlfarbenen Licht phosphoreszierten, und bedeutete uns, auf hölzernen Auswüchsen des Bodens Platz zu nehmen.

Süßer Tee wurde gereicht, in dem winzige weiße Blütensterne schwammen. Sie verbreiteten einen angenehm herben, frischen Duft, der den Geruch des alten Klosterleibes überlagerte. Die Luft im Innern schien dichter zu sein. Schaffte es das Kloster, wie ein monströser Blasebalg den Innendruck für seine Bewohner zu regulieren? Doch die vermeintliche Erleichterung wurde sofort zunichte angesichts des Gedankens, dass man sich im Innern eines Organismus befand, dessen Peristaltik einen zermalmen konnte. Wenn das Flüstern erstarb, die Tassen abgesetzt waren, das Rascheln der Gewänder für einen Moment verstummte, hörte man die leisen röchelnden Atemzüge des gewaltigen Wesens, glaubte man die matt leuchtenden, faltigen Wände sich weiten und schrumpfen zu sehen, nahm man da und dort aus dem Augenwinkel ein Zucken wahr wie im Fell eines Tiers, das sich lästiger Insekten erwehrt.

In kleinen Holzschalen wurde Nahrung gereicht – oder waren es die Schädeldecken verstorbener Mönche? Faserige Streifen, die aussahen wie alte rissige Borke, aber sich zerkauen ließen wie knusprig ausgebratene Schweinekrusten. Der Geschmack ähnelte jedoch eher gerösteten, in Honig getauchten und mit Zimt bestreuten Cashewnüssen. Dazu wurde eine fettige weiße Soße angeboten, salzig und mit einem etwas bitteren Nachgeschmack. Ich erkannte ihn sofort wieder: Es war die legendäre Milch des Klosters, ein angeblich Wunder wirkendes Sekret innerer Drüsen, das von den Mönchen an die Pilger verteilt wurde, die es in kleinen Tonkrügen nach Hause brachten und als Medizin verkauften. Früher hatte das Kloster neben den Pilgern weit über tausend Mönche beköstigt, heute waren es keine hundert mehr, die hier lebten.

Manche Menschen vermuteten, dass diese Milch die friedenstiftende Essenz sei, weil sie möglicherweise eine Droge enthielt, die alle Zwietracht unter den Cartesern unterdrückte und sie im Geist einte. Doch man hatte in der Substanz nichts gefunden, das als Psychopharmaka hätte interpretiert werden können.

Ich warf dem Flottengesandten einen Blick zu. Er schien keine Bedenken zu haben und zermahlte mit Appetit die faserigen Streifen zwischen den Zähnen und nippte an der Milch. Also gab auch ich meine Zurückhaltung auf und stillte meinen Hunger.

Räucherpfannen wurden angezündet. Die Audienz der Keschra stand also unmittelbar bevor. Der süßliche Rauch benahm mir den Atem. Oder war es eine Droge, die zu wirken begann? Ich tastete nach meiner Sauerstoffmaske und drückte sie mir ins Gesicht.

Plötzlich war das Klingen von Zimbeln zu hören, und das Kloster erbebte vom Tuten mächtiger Hörner. Mitten in der leuchtenden Wand tat sich eine runde Öffnung auf. Die Mönche drängten sich mit einemmal dicht um uns und führten, nein schoben uns hindurch in einen hohen Raum, der das Allerheiligste zu sein schien. Auf einer Art Kanzel, einer faltigen Höhlung hoch in der Wand, war eine große, merkwürdig verkrümmte Gestalt zu erkennen, die auf uns herabstarrte. Ich blickte in das Gesicht des ältesten Wesens, das mir je im Leben begegnet war. Es ähnelte mit seinen langen Armen und seiner schwarzen Haut einem urtümlichen Geschöpf, das wenig gemeinsam hatte mit den Eingeborenen dieser Welt. Es war, als hätte man die Haut eines Cartesers über ein viel zu großes Skelett, einen überdimensionalen Rahmen gespannt und im gnadenlosen Sonnenlicht der Höhenregion getrocknet. Das Wesen schien tatsächlich, wie manche vermuteten, ein Alien zu sein, der Abkömmling einer sehr alten Spezies, der einst auf den Planeten gelangt war und einen Weg gefunden hatte, sich immer wieder in Gestalt einer Eingeborenen zu verkörpern. Ich wusste, dass diese Keschra als Tochter kleiner Leute in der Nähe von Saint-Nazaire am Ufer des Binnenmeers zur Welt gekommen war, und man sie, als man bei ihr die Zeichen der Wiedergeburt entdeckt hatte, als kleines Kind ins Kloster gebracht hatte. Aber der Geist der alten Rasse – und das Kloster – hatten ein anderes Lebewesen aus ihr geformt: eine Wiedergeborene Göttin.

Als hätte sie meine Gedanken gelesen, ruhte ihr Blick auf mir. Es war nicht der verschleierte Blick einer Eingeborenen, es waren fremdartige Augen – und es waren die Augen eines kranken, leidenden Wesens.

Der Flottengesandte hatte den Dreispitz abgenommen und hielt ihn gegen die ordensgeschmückte Brust gepresst. Er verneigte sich, hob den Stahlkoffer auf ein Podest unterhalb der Kanzel und öffnete ihn mit feierlichen Bewegungen. Darauf trat er ein paar Schritte zurück und verbeugte sich erneut. Das Geschmeide funkelte trotz des gedämpften diffusen Lichts auf dem blauen Samt.

»Im Namen der Menschen auf Eurer Welt und im Namen der Flotte bitte ich Eure Heiligkeit um Verzeihung für die frevelhafte Tat. Wir wissen, dass dieses Verbrechen nicht ungeschehen zu machen ist, aber wir haben keine Mühe und keine Kosten gescheut und das Menschenmögliche versucht, um Euch das Geschmeide Eurer Vorfahren zurückzuerstatten.«

Ich übersetzte seine Worte. Die Mönche tuschelten.

Mit erstaunlicher Geschwindigkeit ließ sich die Göttin aus der Höhe herab und berührte die Steine, zunächst mit ihren langen schwarzen Krallenfingern, dann mit der Zunge, fuhr damit über einen nach dem anderen, roch daran – und ließ das Geschmeide achtlos fallen, als hätte sie jedes Interesse daran verloren.

Unruhe machte sich breit unter den Mönchen, Keuchen, heftiges Atmen, Flüstern, Anzeichen des Unmuts. Ich hörte wiederholt das Wort »unheilig«. Hatte man beim Zusammenfügen der Steine Fehler gemacht? Ihre Reihenfolge im Geschmeide womöglich vertauscht? Oder handelte es sich gar um eine Fälschung? Das konnte fatale Folgen haben – nicht nur für die Menschen in den Städten des Binnenmeers, sondern für ganz Cartesius.

Ich warf dem Gesandten einen beunruhigten Blick zu. Sein kahler Schädel schimmerte blass im Halbdunkel, seine Stirn war schweißbedeckt und missmutig gerunzelt. Er wirkte enttäuscht und verletzt über die Reaktion, doch er hielt sich zurück.

Die Göttin war wieder in ihre faltige Höhlung in der Wand gestiegen und hatte das Gesicht mit den Händen bedeckt. Das Raunen und Murren der Mönche wurde lauter, drohender. Und mir war auch, als sei das Atmen des Klosters schärfer und heftiger geworden.

»Was ist?«, fragte der Gesandte. »Was sagen die Leute? So reden Sie doch! Was ist los?«

»Die Steine …«, sagte ich. »Es scheinen welche zu fehlen.«

»Das ist unmöglich. Es sind dreiundachtzig, und alle in genau der Anordnung, in der sie ursprünglich waren.«

Plötzlich waren wir eng von den Leibern der Mönche umringt. Sie drängten uns aus dem Raum, durch den Vorraum und durch das Hauptportal hinaus ins Freie.

Der Maître des Pédaliers blickte uns erschrocken entgegen. Seine Männer wichen ängstlich zurück, kletterten an Bord und schlüpften in ihre Käfige.

Wir stolperten über die Terrasse, von Mönchen gestoßen und bedrängt. Pilger hatten sich zu ihnen gesellt und schwangen drohend Stöcke. Ich spürte Fäuste im Rücken, den Schlag eines Stocks zwischen die Schulterblätter. Die Pilgerfrauen stießen ihre trillernden und kreischenden Laute aus.

Die Gleichgültigkeit war aus den Gesichtern verschwunden. Ablehnung schlug uns entgegen und … ja, Angst und Verzweiflung.

 

»Man heißt uns gehen«, rief ich dem Gesandten zu. Ich wagte es nicht, die Beschimpfungen und Schmähungen zu übersetzen, die man uns nachbrüllte.

»Das sehe ich selbst«, rief er zurück und drückte sich den Dreispitz auf den Kopf.

Die letzten Schritte rannten wir. Es war ein unwürdiger Abgang. Ich bemühte mich, dicht hinter dem Captain zu bleiben, damit ich ihn vor Fausthieben und Stockschlägen schützen konnte.

»Aufsteigen!«, befahl ich dem Maître. Er löste die Seile und hob beschwichtigend die Hände, als man auch ihn mit Stöcken bedrohte, zog das Fallreep an Bord, eilte an seine Kontrollen und riss die Barke hoch.

»Undankbares Pack!«, murmelte der Gesandte und saugte gierig an seiner Sauerstoffmaske. »Lächerlicher Mummenschanz um diese Keschra! Primitive Wilde!«

»Es ist eine sehr alte Kultur, und eine sehr alte Religion, Sir. Älter als jede menschliche Kultur. Sie bestand bereits, als auf der Erde noch die Neandertaler lebten.«

»Ich bin informiert«, erwiderte er verdrossen.

»Irgendetwas hat nicht gestimmt mit dem wiederhergestellten Geschmeide. Es wurde nicht akzeptiert.«

Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Vier der Diamanten mussten wir ersetzen. Sie waren nicht mehr aufzutreiben.«

Ich hielt den Atem an. »Das sind nicht irgendwelche Diamanten, Sir, die man ersetzen kann. Es sind die in Diamanten transformierten leiblichen Wiedergeburten der Göttin. Das sind ihre Vorfahren, die sie verbinden mit der ersten Keschra, die auf diese Welt kam.«

»Und Sie glauben diesen Mumpitz, Palladier?«

»Es geht nicht darum, was ich glaube. Es geht darum, was die Eingeborenen glauben.«

»Diamant ist Diamant. Ein Kristall aus Kohlenstoffatomen. Wie sollten individuelle Strukturen eines Organismus in ein Gitter aus Kohlenstoffatomen eingeprägt sein! Das ist doch Blödsinn, Mann!«

»Jedenfalls hat die Göttin sofort bemerkt, dass einige ihrer Vorfahren fehlten«, erwiderte ich.

Der Gesandte schnaubte geringschätzig. »Haben Sie eine Ahnung, was die Flotte ausgegeben hat, um diese verdammten Klunker wiederzubeschaffen? Und für die vier, die ersetzt und exakt wie die anderen geschliffen werden mussten?«

»Wir könnten diese Welt verlieren, Sir. Das könnte es die Flotte kosten. Und die Menschen, die hier auf Cartesius leben.«

Obwohl Lillepoint gerade erst hinter dem Avalanche-Pass untergegangen war, dunkelte es bereits. Der Mont Matin und der Mont Marsin ragten in die Glut des Abendhimmels auf wie zwei mächtige schwarze Hörner. Im Südosten sah man die ersten Sterne.

Der nächtliche Fallwind hatte bereits eingesetzt. Wir schwebten auf den Rand der Terrasse zu. Die Mönche und Dutzende von Pilgern verfolgten uns, riefen Drohungen, versuchten immer wieder, die Steuerleinen der Barke zu ergreifen, und schleuderten Steine, die aufs Deck polterten.

»Höher!«, befahl der Gesandte dem Maître, indem er hektisch die Hände hochschleuderte.

Der Wind war eisig. Er trieb uns immer rascher auf die Felskante der Terrasse zu. Die Steuerleinen schleiften über die glatte Steinfläche, dann fielen sie ins Leere. Unter uns lag nun der Steilabfall: freier Raum bis zu den Viertausendern der Vorberge.

Die Pédaliers arbeiteten aus Leibeskräften, um die Barke zu stabilisieren. Der Himmel über uns füllte sich mit Sternen, und die mächtige dunkle Gestalt des Klosters schien zu ihnen aufzusteigen. Wir sanken hinab in die Dunkelheit. Der Maître hatte eben die Laterne am Heck entzündet und zog eine zweite am Mast hoch, als über uns ein schauerliches Heulen ertönte. Die Pédaliers hielten in ihren Bewegungen inne. Der Maître hob den Kopf und lauschte.

»Was ist das?«, fragte der Gesandte.

Ich hob die Schultern. Das durchdringende Heulen über uns wurde lauter, wurde zum klagenden Schrei, der durch Echos vervielfacht wurde, bis er den Raum zwischen den Gipfeln über uns zu füllen schien. »Es … es könnte die Totenklage sein, von der die ersten Siedler berichten. Die Totenklage des Klosters.«

»Totenklage des Klosters?« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Sie meinen, dieser stinkende alte Kürbis …? Wessen Tod?«

»Ich fürchte, die Keschra hat die Aufregungen dieses Tages nicht überlebt.«

Der Captain warf mir einen angewiderten Blick zu. »Dieses schreckliche Ding sah vorher schon mehr tot als lebendig aus«, sagte er. »Das ist aber noch lange kein Grund, dass diese Kerle jetzt faul in ihren Sätteln hängen. Sagen Sie dem Maître, dass seine Leute das Boot stabilisieren sollen!«

»Ihre Göttin ist gestorben, Sir. Ihre Trauer …«

»Ich habe dafür sehr wenig Verständnis, Mann! Sehen Sie nicht? Wir stürzen ab!«

Der Maître fuhr herum. Er hatte den Knoten auf seinem Scheitel gelöst. Das hüftlange Haar umgab ihn wie ein wehender schwarzer Mantel.

»So tun Sie doch etwas!«, schrie der Captain. »Bringen sie den Kerl zur Raison!«

Aus den Augenwinkeln sah ich, wie die Pédaliers sich von den Sätteln schwangen, aus dem Gestänge ihrer Käfige schlüpften und an Bord kletterten. Die Cartesaner waren zwar nur knapp einen Meter groß, aber sie bewegten sich unglaublich flink. Die sonst so friedfertigen kleinen Wesen hatten sich in kleine gefährliche Waffen verwandelt. Sie stöhnten und knurrten, als wäre die Tollwut über sie gekommen.

Das Boot trieb steuerlos dahin und kreiselte inzwischen so stark, dass ich taumelte und gegen die Reling gedrückt wurde. Ich starrte einen Moment lang hinunter in die Dunkelheit. Unter uns achttausend Meter freier Fall. Dann sah ich im Licht der Hecklaterne die Felswand dicht vor uns. Wir schwangen so knapp vorbei, dass ich befürchtete, wir würden sie jeden Moment berühren.

»Man sollte sie erschießen!«, schrie der Captain zornig.

»Wir sind unbewaffnet«, schrie ich zurück.

Wieder huschte die Felswand vorbei, wieder ganz knapp. Die Wimpel flatterten und bauschten sich um uns. Der Fallwind riss uns immer rascher in die Tiefe. Das Heck sackte ab. Ich hielt mich an der Reling fest. Die Hecklaterne erlosch. Um mich war finstere Nacht. Über uns kreisten die Sterne – schwindelerregend und erschreckend hell.

»Nun tun Sie doch endlich etwas!«

»Was soll ich denn tun, Captain?«

»Halten Sie mir wenigstens die Kerle vom Leibe!«

Ich wandte mich ihnen zu. Sie hatten einen Halbkreis gebildet und umstanden uns drohend geduckt. In ihren Gesichtern war eine schreckliche Veränderung vor sich gegangen. Es war ›der Blick‹. In den Berichten der ersten Siedler wurde er erwähnt. Die Nickhaut, die das Auge der Cartesaner verschleierte und ihm diesen traumverlorenen Ausdruck verlieh, hatte sich plötzlich zurückgezogen und einen schrecklichen Blick enthüllt. Verschwunden war die friedfertige Selbstversunkenheit. Augen wie aus Onyx starrten mich an – schwarz, hart, glatt und kalt. Raubvogelaugen – wachsam und mitleidlos.

Ich war so verblüfft vom Anblick dieser jähen Verwandlung, dass ich eine Sekunde zu lang zögerte. In dem Moment sprangen sie mich an.

Etwas schlug mir schmerzhaft gegen die Brust – dann musste ich das Bewusstsein verloren haben.

 

»Nein, das haben Sie nicht, Monsieur Palladier«, sagte sie und goss den Rest der Schokolade in die kleinen durchsichtigen Porzellantassen auf dem Beistelltisch. »Oh, sie ist kalt geworden. Ich mache uns frische.« Sie stellte die Tassen und die Kanne auf das Tablett und erhob sich.

»Captain Wilberforth hat mir berichtet, dass Sie gekämpft haben wie ein Berserker. Dass Sie die Angreifer mit bloßen Händen abgewehrt und ihm den Rücken freigehalten haben, damit er die Barke ins Tal bringen konnte. Er hat zwar sein Leben lang nur Raumschiffe gesteuert, gestand er mir, aber das Prinzip war ihm vertraut.«

»Er hat eine Bruchlandung hingelegt, wie ich mich dunkel erinnere.«

»Nun, Monsieur Frébillons Barke ist ein Wrack, aber für alle Beteiligten ging es einigermaßen glimpflich ab.«

»Die Cartesaner – der Maître und seine vier Pédaliers?«

»Natürlich sofort über alle Berge, als sie unten waren.«

Sie trug das Tablett hinaus in die Küche.

Mein Blick fiel auf das überlebensgroße Porträt des Alexandre Galopin, der unter buschigen schwarzen Augenbrauen hervor streng und etwas zweifelnd auf mich herabblickte, aber grüßend die Hand hob, als die Sensoren meine Zuwendung registrierten. Der alte Galopin hatte die ersten Solarfarmen im Orbit errichtet, mit denen die Fangschiffe in den Flachmeeren und Salzmarschen mit Energie versorgt wurden. Er hatte viel für die Städte am Binnenmeer getan, und es war zum großen Teil seiner Popularität zu verdanken gewesen, dass man nach seinem tragischen Tod seine Tochter zur Bürgermeisterin von Arcachon gewählt hatte.

Es war nicht nur sein animiertes Porträt in dem breiten Goldrahmen, das diesen Raum beherrschte, er hatte ihn geprägt. Er war gegenwärtig in dem dunklen, mit Schildpatt ausgelegtem Holz der Wandverkleidung, in den aus roten und blauen polierten Panzern von Babyhummern gestalteten und beschnitzten Möbeln und begehbaren Schränken und in den mit irisierendem Schildpatt gefliesten Böden, deren Fugen mit Gold ausgegossen waren.

Der Nachmittag neigte sich. Ich beobachtete die Spinnen, die emsig die Netze an den Fenstern woben, um sie gegen den abendlichen Insektenflug zu sichern.

Sie kehrte aus der Küche zurück und goss frische heiße Schokolade ein. Ich war hingerissen von ihren geschmeidigen Bewegungen. Sie trug eine leichte weiße, fast durchsichtige Seidenburqa, unter der sich ihre große, schlanke Gestalt abzeichnete. Sie nahm neben mir Platz.

»Ich habe mir ihr Buch angehört und viel daraus gelernt. Ich danke Ihnen.«

»Ich danke Ihnen für Ihre Einladung, Mademoiselle La Maire. Es ist mir eine große Ehre.«

 

Ich nippte an der Schokolade. Sie rann mir wohltuend durch die noch immer wunde Brust.

»Sie schreiben, die erste Keschra sei auf diese Welt gekommen und habe das Kloster mitgebracht.«

»Das berichten die Legenden. Sie soll es in der hohlen Hand getragen und beschlossen haben, sich in den Bergen niederzulassen. Schließlich ließ sie es zu einer Behausung heranwachsen. Als sich die ersten Anhänger um sie sammelten, wuchs es weiter, um allen Nahrung und Unterkunft zu bieten.«

»Woher kam sie?«

»Das weiß niemand. Und wie sie auf diese Welt gelangte, wird wohl immer ein Geheimnis bleiben.«

»Sie brachte den Cartesanern den Frieden.«

»Ja«, sagte ich, »denn die Bewohner dieses Planeten waren seit Jahrtausenden in blutige Kriege verwickelt. Sie bewirkte, dass die Aggression verschwand. Wie sie das vermochte … das ist das Problem, mit dem wir konfrontiert sind, Mademoiselle La Maire.«

»Sie beschloss, immer wieder in Gestalt einer Bewohnerin dieser Welt wiedergeboren zu werden, um den Frieden zu sichern.«

»So ist es.«

»Und dieses Geschmeide …« Sie hob die Hand. »Es bestand aus den Wiedergeborenen Göttinnen?«

»Ja, Mademoiselle La Maire. Aus den transformierten sterblichen Überreste ihrer Vorgängerinnen. Die erste Keschra hatte ihre Anhänger gelehrt, wie sie diese Transsubstantiation in Kristalle durchführen mussten. Dreiundachtzig in Silber gefasste Leiber. Über diese Kette hielt vermutlich jede Wiedergeborene Kontakt mit der Urmutter.«

»Über einen Zeitraum von hunderttausend Jahren?«

»Mindestens.«

»Wir haben diese Verbindung durchtrennt.«

»Das befürchte ich.«

»Ich wünschte, Sie hätten Unrecht, denn wir sind in einer ziemlich ausweglosen Situation. Wir können hier nicht in einem ständigen Belagerungszustand leben, und die Flotte hat keine Möglichkeit, die Menschen zu evakuieren. Wohin auch? Nur ein kleiner Teil könnte in den Orbitalkomplexen unterkommen. Die Zurückbleibenden wären dann umso mehr gefährdet. Trotzdem existieren, wie ich weiß, in einigen Städten bereits geheime Prioritätenlisten, welche Personen bei einer eventuellen Evakuierung unbedingt zu berücksichtigen sind.«

»Unglaublich.«

»Nein, durchaus menschlich, mein lieber Palladier. Typisch menschlich.«

»Die Idee, den Planeten zu verlassen, können wir uns aus dem Kopf schlagen.«

»Der Meinung bin ich auch, aber welche Alternative haben wir? Glauben Sie, dass wir durch Verhandlungen mit den Eingeborenen etwas erreichen könnten?«

Der alte Galopin hatte die Lippen gespitzt und blickte missmutig auf uns herab.

»Mit wem sollten wir verhandeln? Es herrscht Anarchie. Das totale Chaos. Es gibt keine Wortführer. Allenfalls ein paar Warlords oder Bandenhäuptlinge, auf deren Zusagen kein Verlass ist oder die morgen bereits entmachtet oder tot sein können. Die Cartesaner sind krank. Es ist wie ein Fieber, das in ihren Köpfen wütet. Sie sind nicht bei Sinnen.«

»Vorgestern erschienen ein paar Pilger am Westtor. Es waren auch Mönche unter ihnen. Sie machten einen recht friedfertigen Eindruck und bettelten um Nahrung. Sie berichteten, die inneren Quellen, aus denen das Kloster sie beköstigte, seien versiegt. Der Hunger habe sie zum Abstieg gezwungen. Der Gestank des Todes im Leib des Klosters sei von Tag zu Tag unerträglicher geworden, und man spüre keine Bewegung mehr in den Wänden. Nur die Frömmsten harrten noch aus und flößten ihm Wasser ein. Sie warteten auf den Abschluss der Transsubstantiation der verstorbenen Göttin, um dann den Diamanten ihres Leibes ins Tal zu bringen, der bei der Suche nach einer Wiedergeburt hilfreich sein soll.«

»Ob das Geschmeide noch im Kloster ist?«

»Das fragten sich auch zwei junge Männer aus Saint-Nazaire. Sie sind gestern mit einer Windbarke hinaufgesegelt. Sie fanden die Terrasse verlassen, das Kloster halb verwest. Ein Teil der Hülle klebt noch auf dem Sims, die Hautmasse des Leibes, berichteten sie, sei abgesackt, habe sich über viertausend Meter Steilabfall verteilt und stinke zum Himmel. Von dem Geschmeide fanden sie keine Spur. Vielleicht haben die Mönche es irgendwo versteckt.«

»Möglicherweise. Ich hatte eher den Eindruck, es sei ihnen wertlos geworden.« Ich zuckte die Achseln. Die Spinnen an den Fenstern hatten ihre tägliche Arbeit vollendet und waren verschwunden.

Die Bürgermeisterin lehnte sich in ihrem Sessel zurück. »Manchmal kommt es mir vor«, sagte sie seufzend, »als sei der ganze Planet in Verwesung übergegangen. Als atmete er plötzlich etwas Giftiges aus, als stiegen eklige Dämpfe aus der Caldera dieses alten erloschenen Vulkans auf. Als gase das Gestein etwas Bösartiges aus, das alles Organische verdirbt.« Sie legte sich die Hand auf die Brust. »Oft fällt mir das Atmen schwer. Selbst die Insekten sind aggressiver als sonst.« Sie wies auf die Spinnennetze in den Fenstern. »Dabei war es immer eine so schöne Welt. Ein Paradies, wie es im Umkreis von hundert Lichtjahren nicht zu finden ist.«

»Die ersten Menschen, die mit der Descartes hier landeten, glaubten tatsächlich das Paradies gefunden zu haben. Denken sie an die Sonette von Épervier, in denen er das Binnenmeer preist als eine Insel im bitteren Salzozean, der unter einer gnadenlosen Sonne verdunstet.«

»Ja, ein Paradies – solange die Keschra ihre segnende Hand darüberhielt. Nun ist diese Hand verdorrt.«

»Mademoiselle Galopin, wissen Sie, wovor ich am meisten Angst habe? Dass diese Raserei auch auf uns Menschen übergreifen könne. Als der Maître des pédaliers auf mich losging, glaubte ich das Bewusstsein zu verlieren. Aber das war nicht der Fall. Irgendetwas bemächtigte sich meiner.«

Sie legte mir die Hand auf den Arm. »Da bin ich gänzlich unbesorgt«, sagte sie. Für einen Moment sah ich ihre dunklen Augen unter dem Schleier blitzen. »Es überkam uns ja auch nie die große Friedfertigkeit, als die Keschra noch lebte.«

 

Ich starrte ihr Handgelenk an. Die feinen Tätowierungen, die ich für Arabesken gehalten hatte, waren – nun sah ich’s ganz deutlich – Sternbilder. Unwillkürlich hielt ich ihren Unterarm fest. Sie entzog ihn mir nicht.

»Das sind die Sterne des inneren Orionarms«, sagte ich verblüfft.

»Ja«, erwiderte sie. »Als ich in Nantes studierte, arbeitete dort ein Künstler, der sich auf das Tätowieren von Sternkarten spezialisiert hatte. Gefällt es Ihnen?«

»Es ist wunderschön.« Ich fuhr mit der Fingerkuppe darüber. »Sie hatten Ihre Gründe, nehme ich an …« Noch immer hatte sie mir ihren Arm nicht entzogen.

»Ja, meine Mutter war Flottenoffizierin, bevor sie meinen Vater heiratete. Als die Ehe auseinanderging, trat sie wieder in die Flotte ein. Als sie mir das eröffnete, hielt ich es für eine gute Idee, mir diese Tätowierungen machen zu lassen. ›So weiß ich immer, wo du bist‹, sagte ich zu ihr. ›Ich werde immer spüren, wo du dich gerade befindest.‹«

»Und Sie spüren es?«

»Ja.« Sie deutete auf eine Stelle zwischen Lillepoint und Alexanders Stern. »Sie ist genau hier. Sie fliegt auf der Cigale. Sie hat sich davongestohlen in die Zukunft«, sagte sie mit einem Seufzen. »Noch bevor das Schiff sein Ziel erreicht, werde ich älter sein als sie.«

Ich schloss die Augen und drückte einen zärtlichen Kuss auf die bezeichnete Stelle oberhalb ihrer Handwurzel. Meine Lippen berührten kühle samtige Haut, und ich atmete den herben aromatischen Duft von Zypressenzweigen an einem regnerischen Morgen.

Ich warf einen schuldbewussten Blick auf das Porträt des alten Galopin.

Er lächelte und nickte mir wohlwollend zu.

 

»Ich hörte, dass Sie sich mit der Bürgermeisterin verlobt haben, Palladier.«

»Sie haben richtig gehört, Captain.«

»Gratuliere. Ist sie tatsächlich so schön, wie man behauptet?«

»Das weiß ich nicht. Sie hat sich mir noch nicht ohne Schleier gezeigt.«

»Dann hoffe ich, dass es eine angenehme Überraschung ist, die Sie erwartet.«

»Überraschung, Sir?«

»Nun …«

»Ich kann Ihnen nicht ganz folgen. Ich liebe Mademoiselle Galopin.«

Der Captain war stehengeblieben. »Ihr seid schon ein lustiges Völkchen hier«, sagte er lachend. »Sie kaufen also …«

»Ich kaufe …?«

»Nun, Sie nehmen – oder soll ich sagen: akzeptieren? – die Katze im Sack.«

»Katze im Sack? Die Katze ist ein Tier, soviel ich weiß. Wie meinen Sie das, Mister Wilberforth, Sir?«

Er machte eine ärgerliche Handbewegung. »Es ist eine Redensart. Wir sollten das nicht vertiefen. Ich wollte Sie, um Himmels willen, nicht beleidigen.«

Ich hätte ihm am liebsten einen Faustschlag auf die frisch verheilte Nase versetzt.

»Ihr habt hier aus der Not der Insektenplage die Tugend raffinierter Verschleierung gemacht«, fuhr er fort. »Jedenfalls ist damit für Überraschung gesorgt, wenn es ans Auspacken geht.«

Es war der Tag vor seiner Abreise. Er hatte zu einem Umtrunk ins Flottenhaus eingeladen, und als die offizielle Verabschiedung vorüber war, hatte Henri, in einer Hand ein Glas Champagner, in der anderen eine Sanchez, uns zu einem Spaziergang zum Laserturm am Ende der Landzunge eingeladen, war dann aber doch nicht mitgekommen, weil er schon etwas unsicher auf den Beinen war. Also traten wir allein hinaus auf den mit Silberbarren gepflasterten Marktplatz und machten uns auf den Weg die Küste entlang.

Der Captain trug einen der breitkrempigen einheimischen Hüte, von deren Rand ein Schleier bis über die Schultern fiel, um Gesicht und Hals vor blutsaugenden Fluginsekten zu schützen.

Das Meer rauschte gegen die Felsen unter uns. Die leichte Brise schob uns vor sich her; auf dem Rückweg würden wir kräftig gegen sie anschreiten müssen.

»Wann werden Sie beginnen, Ihre Galaxis zu erforschen, wenn ich fragen darf?«

»Galaxis?«

»Ich habe doch Augen im Kopf. Und eine Sternkarte erkenne ich auf den ersten Blick. Ihre Verlobte trägt über der Handwurzel eine Tätowierung der lokalen Sterngruppe hier am Rand. Ich nehme an, dass sich die Karte des Orionarms nach oben fortsetzt. Vielleicht enthüllt sich Ihnen die ganze Galaxis, Palladier. Wie beneidenswert.«

 

»Mir stehen gewiss interessante Forschungsreisen bevor. Aber wenn Sie gestatten, würde ich vorschlagen, das Thema zu verlassen.«

Er hob die Hände. »Einverstanden. Ich wollte Sie schon immer einmal bitten, mir etwas über die Frühgeschichte dieser Welt zu erzählen. Frébillon sagte mir, dass Sie ein Experte darin sind. Wir sind nie dazu gekommen. Aber Sie sagten mir, als wir zu diesem stinkenden Kloster hinaufflogen, das Kummet sei buchstäblich ein Geschenk des Himmels.«

»Ja, so ist es. Cartesius wurde vor etwa einhundertfünfzig Millionen Jahren von einem größeren Planetoiden getroffen.«

»Aus dem Orbit sieht es aus wie eine böse Schusswunde aus.«

»Der Aufprall erfolgte jedoch auf der gegenüberliegenden Seite. Der Himmelskörper durchschlug die Kruste und drang tief in den Mantel ein. Das Kraftmoment der Kollision setzte sich quer durch den Planeten fort und bewirkte, dass der heiße Kern in diese Richtung verschoben wurde. Das hatte zur Folge, dass sich hier ein gewaltiger Vulkan auftürmte, der bis über die Atmosphäre hinausragte. Er brach schließlich unter seinem eigenen Gewicht zusammen. Seine Caldera ist das Binnenmeer. Das Kummet ist der Kraterrand – oder das, was von ihm übrig ist.

Der heftige Vulkanismus hatte zur Folge, dass der gesamte Planet von einem Ozean bedeckt und in eine dichte Atmosphäre gehüllt wurde. Der größte Teil des Wassers ist unter der heißen Strahlung Lillepoints inzwischen verdunstet, bietet aber immer noch ausreichend Lebensraum für niedere Tiere: Würmer, Quallen, Triboliten, Schnecken, Kraken, Hummer, von denen einige Arten sich durch Riesenwuchs auszeichnen …«

»Protein für die Flotte.«

»So ist es. Höheres Leben konnte sich nur im Schutz des Kummets am Binnenmeer entwickeln.«

»Das Ding ist übrigens aus Lichtwochen Entfernung zu erkennen.«

»Und als Hort des Lebens zu identifizieren. Deshalb bremste die Descartes ab. Die ersten Siedler nannten es Collier de cheval, weil es aus dem Raum tatsächlich wie ein Pferdekummet aussieht. Und sie fanden reiche Bodenschätze in seinem Innern, die aus dem Kern herausgequollen waren: Platin, Gold, Silber, Titan, seltene Erze.«

»Eine reiche Welt, Palladier.«

»Jetzt droht sie uns zu entgleiten.«

Er winkte ab. »Sie müssen sie festhalten.«

Tauchervögel kreisten mit schrillen Schreien über den Wogen und stürzten sich auf der Jagd nach Fischen ins Wasser.

»Die Männer von der Flotte, die es anzettelten …«

»Haben dafür bezahlt«, unterbrach er mich ungeduldig.

»Und Sie brauchen sich bald nicht mehr um solche Dinge zu kümmern. Sie sind dabei, durch Raum und Zeit zu entschwinden.«

Er nickte. »Ich werde die nächsten Wochen damit zubringen, mich in Gesellschaft von zweihundert Tonnen Protein auf nahezu Lichtgeschwindigkeit beschleunigen zu lassen, um dann an die Hawking anzudocken, die das Lillepoint-System in Richtung Sagittariusarm durchfliegt.«

Wir waren stehengeblieben und blickten zurück auf die Stadt; die vergoldeten Turmhauben und Dachreiter leuchteten in der blassen Nachmittagssonne, und die mit Schildpatt gedeckten Dächer und Kuppeln schienen von innen heraus perlfarben zu glühen.

»Sagittarius Edge wurde von Menschen besiedelt, hörte ich.«

»O nein. Wo denken Sie hin! Die erste Expedition hat noch nicht einmal die Hälfte der Entfernung zurückgelegt. Aber wenn ich dort eintreffe, werden die Kolonien bereits auf eine zehntausendjährige Geschichte zurückblicken.«

Er zupfte ein Insekt von seinem Schleier, schleuderte es zu Boden und zertrat es.

»Die gleiche Zeit wird dann auch hier ins Land gegangen sein, nehme ich an.«

»Die gleiche Zeit. So ist es.«

»Aber Sie werden nur ein paar Jahre gealtert sein.«

»Vier oder fünf Jahre, schätze ich. Ja.«

»Was sollte Sie also das Schicksal dieser Welt und ihrer Bewohner kümmern?«

»Nun …«

Mir fiel ein, was Annette über ihre Mutter gesagt hatte. »Ich hatte schon immer das Gefühl, dass ihr Leute von der Flotte euch schamlos durch Raum und Zeit davonstehlt und in der Zukunft verschwindet.«

Er hob die Schultern. »Wir können an den Gesetzen des Universums leider nichts ändern, mein lieber Palladier.«

Wir wandten uns zum Weitergehen, aber plötzlich blieb er stehen. Eine Gruppe Eingeborener, Männer und Frauen, kam den Strand entlang auf uns zu.

»Sollten wir nicht besser umkehren?«, fragte er.

»Wenn Sie wollen.«

Wir machten uns auf den Rückweg, aber die Luftströmung war stärker geworden, und wir hatten beide Mühe, gegen sie anzuschreiten. Die Cartesaner hatten uns in wenigen Minuten eingeholt.

Der Captain warf einen besorgten Blick über die Schulter. »Sie scheinen nicht bewaffnet zu sein«, sagte er.

Sie zogen leichtfüßig an uns vorbei. Der traumverlorene Blick ihrer verschleierten Augen streifte uns. Sie schienen uns kaum wahrzunehmen, scherzten und lachten. Sie waren in ihre heitere Welt zurückgekehrt, an der wir Menschen nicht teilhatten.

»Was ist geschehen?«, fragte Wilberforth.

»Ein Wunder«, erwiderte ich. »Aber was sollte Sie das noch interessieren?«

»Es interessiert mich sehr.«

»Ich wollte Ihnen eigentlich nichts davon erzählen vor Ihrer Abreise. Ich habe es selbst erst heute Morgen erfahren. In einem Fischerdorf an der Mündung des Rambon haben die Mönche ein kleines Mädchen gefunden, das die Zeichen der Wiedergeburt aufweist. Es trägt einen Spielkameraden mit sich herum, von dem es sich nicht trennt, den es Tag und Nacht in der Hand hält. Niemand weiß, wo es dieses kleine Wesen gefunden hat oder wo es herkommt. Es sieht aus wie eine winzige grüne Feige – und es atmet.«

Wir setzten unseren Weg fort.

»Noch ein Geschenk des Himmels«, sagte Captain Wilberforth nach langem Schweigen.

»Grüßen Sie Ihre zukünftige Gattin, Palladier«, sagte er, als wir uns auf dem Marktplatz verabschiedeten. »Ich wünsche Ihnen viel Glück bei Ihren Entdeckungsreisen.«

»Danke, Sir. Das wünsche ich Ihnen auch«, erwiderte ich. »Und grüßen Sie mir die Zukunft!«

 

Kommentare

Bild des Benutzers Shrike

Und grüßen Sie mir die Zukunft Wolfgang Jeschke.

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