30. Juni 2015 3 Likes

Ein Meister der Science-Fiction

Warum George R. R. Martin viel mehr ist als „nur“ der Schöpfer von „Game of Thrones“

Lesezeit: 25 min.

Der Name George R.R. Martin ist jedem, der mit einigermaßen offenen Augen durch die mediale Landschaft streift, ein Begriff. Klar, George R.R. Martin steht für „Game of Thrones“. Und das darf man wohl, ohne zu übertreiben, neben dem „Herrn der Ringe“ (und der Bibel) als die erfolgreichste Fantasy-Saga aller Zeiten bezeichnen. Und doch ist Martin nicht „nur“ der Autor von „Game of Thrones“: 1975, zwanzig Jahre bevor der erste Band von „Game of Thrones“ erschien, bekam er für „Abschied von Lya“ seinen ersten Hugo Award verliehen – den wichtigsten Science-Fiction-Preis überhaupt. Drei Jahre später wurde er für „Sandkönige“ mit dem Hugo, dem Locus und dem Nebula Award ausgezeichnet, und das war erst der Anfang der nicht endenwollenden Reihe von Auszeichnungen, die er für seine grandiosen Stories bekommen hat (alle seine Geschichten findet ihr in den Anthologie-Bänden „Traumlieder 1–3“, im Shop). Kurz gesagt: George R.R. Martin war und ist eine feste Größe der amerikanischen Science-Fiction-Szene. Er ist jemand, dem das Genre am Herzen liegt, wie auch sein Wortbeitrag zum Skandal um die diesjährigen Hugo Awards zeigt. Die Komplexität und Vielschichtigkeit seiner Figuren, ihre Lebensechtheit, die die Leser an „Game of Thrones“ so lieben, findet sich auch in George Martins Science-Fiction-Werken: Wir lachen mit Haviland Tuf, geniales Schlitzohr und interplanetarischer Händler, aus „Planetenwanderer“ (im Shop), und wir weinen mit dem tragischen Helden Trager aus „Der Fleischhausmann“ (in: „Traumlieder 2“, im Shop), um nur zwei kleine Beispiele zu nennen.

Woher George Martin seine Science-Fiction-Inspiration erhält, verrät er in seiner berühmten Rede, die er 2003 anlässlich der World-Science-Fiction-Convention, dem jährlichen Zusammentreffen aller SF-Begeisterten, in Toronto hielt und die ihr hier, leicht gekürzt, lesen könnt:

———

REDE ALS EHRENGAST

von George R.R. Martin

Sehr geehrte Damen und Herren,

vor dreißig Jahren richtete Toronto seinen zweiten Worldcon aus. Komischerweise war das auch mein zweiter Worldcon.

Der großartige, leider verstorbene Robert Bloch war Ehrengast auf jenem Torcon, genau wie auf dem ersten Toronto Worldcon im Jahre 1948. Bloch hielt seine Rede auf dem Hugo-Bankett, und die Ehrengäste, damals gab es nur zwei – Pro und Fan –, hielten ihre Ansprachen, bevor die Raketen ausgehändigt wurden. Ansprachen und Preisverleihung fanden zusammen statt und waren für jede Convention ein Höhepunkt, den es auf modernen Worldcons nicht mehr gibt. Andererseits mussten Bob Bloch und die Ehrengäste vor ihm auch mit klapperndem Geschirr und knurrenden Mägen vorliebnehmen, ganz zu schweigen von einem unruhigen Auditorium, das unbedingt erfahren wollte, wer nun die Hugos gewonnen hatte. Ich selbst habe genug Reden gehalten, um zu wissen, dass man sich zwischen Omelette Surprise und der Preisverleihung kurz und knackig präsentieren sollte. Und das tat Bob auch, wenn ich mich recht erinnere.

Aber diesmal halte ich mich nicht an diese Regel. Selbst mit dreißig Jahren Abstand ist der Autor von Psycho“ kaum zu übertreffen. Er war mit beißendem Humor, verblüffender Schlagfertigkeit und geradezu teuflischem Pointenwitz gesegnet. Er war eine Art Mischung aus Bob Hope, Alfred Hitchcock und Connie Willis, nur trug er immer eine Zigarettenspitze und kein Kleid mit Peter-Pan-Kragen. Abgesehen davon, wenn man eine lustige Rede halten will und keiner lacht … nun ja, es gibt nur wenige Dinge im Leben, die mehr schmerzen, etwa Wurzelbehandlungen, die Business Meetings der Science Fiction Writers of America, William Shatner zuhören zu müssen, wenn er „Rocket Man“ singt, aber dennoch …

Ich werde auch nicht über den momentanen Zustand der Science-Fiction sprechen. In Wahrheit weiß ich gar nicht viel über den Zustand unseres Genres. Keiner weiß viel darüber, außer vielleicht Charlie Brown, und der verrät keinem etwas. Das Feld ist einfach viel zu groß geworden. Gardner Dozois und David G. Hartwell können mit großem Sachverstand über den Stand der Kurzgeschichte sprechen, aber selbst sie können nicht alle Romane lesen, die veröffentlicht werden, und Romane sind seit Jahrzehnten das Herz der Science-Fiction und der Fantasy. Wenn Sie etwas über den Stand des Genres wissen wollen, besuchen Sie die Panels. Dort werden Sie helle Köpfe über Teilaspekte des Felds referieren hören, mit dem sie gerade beschäftigt sind. Hört man vielen dieser Leute zu, entsteht vielleicht ein vages Gesamtbild. Was den Zustand des Genres angeht, sind wir nur Blinde, die einen Elefanten beschreiben wollen.

Stattdessen habe ich mich dafür entschieden, über das Thema zu sprechen, bei dem ich zweifellos die weltgrößte Kapazität bin: mich selbst.

Nun ja, vielleicht sind einige von Ihnen aus Versehen hier, suchten den Gaming Room oder das Panel über Buffy – Im Bann der Dämonen, aber ich gehe einfach mal davon aus, dass die meisten hier sind, weil sie meine Bücher und Geschichten gelesen haben. Ich will aber auch nicht über mein Werk reden. Nicht direkt jedenfalls.

Stattdessen möchte ich über den Ort sprechen, an dem alle meine Geschichten ihren Ausgang nahmen. Alles, was ich je geschrieben habe, von „Garizan the Mechanical Warrior“ bis zu „Game of Thrones“.

Ich möchte über Bayonne, New Jersey, sprechen.

Für alle diejenigen, die noch nie dort waren – und ich glaube, das trifft hier auf die meisten zu –, Bayonne ist eine Halbinsel, so nahe an New York City, dass man sie schon fast als Stadtteil bezeichnen kann. Wie Italien weist Bayonne die Form eines Stiefels auf, aber Bayonnes Stiefel sieht aus, als wäre er für jemanden mit einem Klumpfuß gemacht worden.

Ich wurde am 20. September 1948 im Bayonne Hospital geboren.

Beide Eltern waren ebenfalls in Bayonne geboren und dort aufgewachsen, genau wie drei meiner vier Großeltern. Obwohl so nahe an New York gelegen, war Bayonne beileibe keine Schlafstadt. Damals nicht und selbst heute nicht. Es war eine Stadt für sich … eine Welt für sich, um genau zu sein. In den Läden am Broadway konnte man praktisch alles kaufen, was man brauchte, und draußen auf dem Hook gab es jede Menge Jobs und auf der Navy Base noch viel mehr. Bayonne war ein Ort, an dem Generationen von Menschen geboren wurden, aufwuchsen, zur Schule gingen, Arbeit fanden, heirateten, Kinder bekamen, ihr eigenes Haus kauften oder in das ihrer Eltern einzogen, alt wurden und starben, alles innerhalb der drei Quadratmeilen der Stadt. Während des Zweiten Weltkriegs war Bayonne die größte Ölraffinerie des Landes gewesen, eine dicht besiedelte Industriestadt von etwa 70000 Einwohnern. Es war eine Arbeiterstadt, eng bebaut, urban, von ethnischen Bevölkerungsgruppen geprägt.

Ein Jahrhundert zuvor war die Stadt ganz anders gewesen. Im frühen 19. Jahrhundert war Bayonne eine Gemeinde von kleinen Bauern und Fischern, die für ihre Austern berühmt war.

Umgeben von alten Eichen und sanften Grashügeln, bot das LaTourette feines Essen, Fischfang, Segeln, Krocket und herrliche Ausblicke über das Wasser in die Wildnis von Staten Island.

Das war natürlich alles lange vor meiner Zeit … obwohl sich meine Mutter an das LaTourette erinnerte. Sie wurde 1918 geboren und wuchs in einem Haus an der Lord Avenue auf, zwischen 3rd Street und 4th Street. Bayonnes Tage als modernes Resort waren lange vorüber, als sie ein Mädchen war, aber das LaTourette stand immer noch am Wasser unten am Fuß der Lord Avenue und verfiel. Für meine Mutter und ihre Brüder und Schwestern war es das „Spukhaus“. Für sie galt es als Mutprobe, an die vernagelten Türen zu klopfen, und die Jungen warfen Steine an die abgedeckten Fenster dieser viktorianischen Monstrosität.

Seit den Fünfzigerjahren war die Stadt überwiegend arbeitergeprägt und fast ausschließlich katholisch. Wir hatten irische Katholiken, italienische Katholiken und polnische Katholiken. Jede Nationalität hatte ihre eigene Kirche, ihre eigenen Schulen und ihre eigenen Umzüge an ihren eigenen Gedenktagen für ihre eigenen Heiligen. Ich hatte gleich mit zweien dieser Lager zu tun, da mein Vater halb-italienisch und meine Mutter halb-irisch war.

Obwohl keiner meiner Elternteile religiös war, schickten sie uns jeden Sonntag zur Messe, auch wenn sie selbst nie gingen. Wir besuchten St. Andrew’s, die irisch-katholische Kirche auf der 4th Street.

Natürlich taten wir das. Meine Mutter war schließlich eine Brady.

Margaret war das jüngste von elf Kindern. Ihr Vater, Thomas Brady, war der Sohn von James Brady, der 1854 aus Oldcastle im County Meath, Irland, in die Vereinigten Staaten emigriert war und damit in die Fußstapfen seiner Brüder und Cousins trat. Viele dieser Bradys verschlug es nach Bayonne, wo sie andere Iren heirateten, Kinder bekamen, Geschäfte gründeten und meistens etwas aus ihrem Leben machten. Einer führte Bayonnes größten Kohle- und Eishandel. Ein anderer errichtete das erste Backsteingebäude der Stadt, Brady’s Hall, Kneipe und Tanzlokal für irische Arbeiter. Die Bradys fungierten als Gesundheitsrat des Countys, Sheriff und Bürgermeister von Bayonne, und waren bedeutende Mitglieder der Gemeinde von St. Andrew’s.

James Brady, mein Urgroßvater, brachte es auch zu etwas. Nach einigen Jahren als Arbeiter gründete er 1872 ein Unternehmen für Baustoffe, das mit Kies, Beton, Gips und Holz handelte.

Seine Söhne übernahmen dann sein Geschäft, das als James Brady’s Sons bekannt wurde. Die Familie wurde reich. Als James 1907 starb, übernahmen mein Großvater Thomas und seine Brüder James Brady’s Sons, und die Firma entwickelte sich prächtig. Von der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg zählten sie zu Bayonnes prominentesten und erfolgreichsten Familien. Thomas heiratete in eine andere prominente Bayonner Familie ein, die Walls, die englische und französische Vorfahren hatten. Meine Großmutter Catherine hatte drei Schwestern, alle altersmäßig nah beieinander. Die vier Wall-Mädchen, so erzählte mir meine Mutter, seien auf Feiern und Treffen so unzertrennlich gewesen, dass sie zusammen nur „der Raum“ genannt wurden. Aber Thomas Brady nahm eine der Walls aus dem Raum, heiratete sie und baute ihr das Haus an der Lord Avenue nicht weit von Brady’s Dock. Zusammen hatten sie diese elf Kinder … das jüngste war meine Mutter, Margaret. James Brady’s Sons geriet während der Weltwirtschaftskrise ins Schlingern. Der plötzliche und unerwartete Tod meines Großvaters Thomas Brady im Jahr 1931 war auch der Todesstoß für die Firma. Seine Brüder versuchten weiterzumachen, aber sie waren eben keine Geschäftsmänner wie er. Nach der Familienüberlieferung soll auch Bürgermeister Frank Hague, der „Boss Tweed“ von Jersey City, eine unrühmliche Rolle beim Niedergang der Bradys gespielt haben.

Meine Mutter schilderte Hague immer als aufgeschwemmten korrupten Kerl, berüchtigt dafür, hinter Witwen und Waisen und deren Geld her gewesen zu sein. Mit stillschweigender Duldung eines überlebenden Bruders meiner Mutter, dem schwarzen Schaf der Familie, gelang es Hague irgendwie, sich Bargeld und Vermögenswerte von James Brady’s Sons unter den Nagel zu reißen, worauf meine Großmutter Catherine praktisch ohne einen Penny dastand. Als sie zu klagen versuchte, wurde jeder Anwalt, den sie einschaltete, plötzlich zum Richter befördert und ihr Fall abgewiesen. Die Firma wurde zerschlagen und stückweise verkauft, das Dock wurde von der Stadt übernommen. Sogar das Haus an der Lord Avenue musste verkauft werden.

Zu jener Zeit lebte nur noch meine Mutter, das jüngste von Thomas Bradys elf Kindern, zu Hause. Einige ihrer Geschwister waren während deren Kindheit gestorben; die anderen waren herangewachsen, weggezogen und hatten ihre eigenen Familien gegründet. Meine Mutter war in der Tat jünger als einige ihrer Nichten und Neffen. Als Reichtum und Haus futsch waren, zog sie mit ihrer Mutter in eine bescheidene Wohnung. Nach der Highschool nahm sie eine Stelle bei Westinghouse an und unterstützte meine Großmutter, bis Catherine 1941 starb. Etwa sechs Jahre später lernte Margaret meinen Vater kennen.

Er hieß Raymond Collins Martin … das „Raymond“ ist das erste der beiden Rs in meinem Namen. Meine Mutter nannte ihn Ray, alle anderen nannten ihn Smokey.

 Ich weiß fast nichts über die Kindheit meines Vaters. Äh, außer dass er mit Murmeln spielte. Da gab es eine alte runde Blechdose, Dreißigerjahre-Animal-Crackers-Stil, voller alter Murmeln, und drin befand sich ein vergilbter Zeitungsausschnitt über Raymond C. Martin, der die Murmelmeisterschaft im County gewonnen hatte. Er wollte mir dieses Spiel nie beibringen, nicht nachdem ich die alte Blechbüchse geöffnet hatte.

Mein Vater liebte Sport – Football, Baseball und ganz besonders Boxen, aber er sah immer nur zu, war nie selbst aktiv.

Mein Vater diente im Zweiten Weltkrieg … und, wenn man einem Mann Glauben schenken kann, war er auch ein Held. Er besaß einen Schuhkarton voll alter Fotografien aus seiner Armyzeit, kleine angebräunte Schwarz-Weiß-Fotos, die mit einer alten Kamera aufgenommen worden waren. Alles sah nach Nordafrika aus. Sand, Zelte, GIs mit nacktem Oberkörper … und mein Vater, der in die Kamera grinste und unfassbar jung aussah. Auf einem Foto sieht man ein Kamel im Hintergrund, auf fast allen anderen sieht man Smokey mit einer Camel, die in seinem Mundwinkel hängt … auf Luckys stieg er erst nach dem Krieg um.

Obwohl Smokey nie eine medizinische Ausbildung genossen hatte, machte ihn die Army zum Arzt, als sie ihn über den Atlantik verschifften. Er diente in Nordafrika, Sizilien, Italien und nahm auch hie und da am Kampfgeschehen teil. Er sprach nie über den Krieg, ich wusste aber, dass er für ein paar Schwerverwundete sein Leben riskiert hatte. Sein Captain nannte das „herausragende Tapferkeit“ und schlug ihn für die Tapferkeitsmedaille vor. Aber der Captain fiel, kurz nachdem er diesen Brief geschrieben hatte. So war es lediglich ein Purple Heart, mit dem Smokey aus dem Krieg zurückkehrte … mit diesem Orden, einem dicken, fetten Bündel Geldscheine und einem unverschämt großen Saphir.

Mein Vater war auch Glücksspieler. Er war ein guter Pokerspiel, noch besser beim Blackjack. Jede Woche spielte er Lotto, gewann auch öfter, aber nie wirklich viel. Im Herbst wettete er immer beim College Football. Und er erwies sich dabei als sehr treffsicher, bis ich ans College kam … dann setzte er aus falscher Loyalität auf meine Schule. Wäre eine tolle Sache gewesen, wenn ich an der Notre Dame studiert hätte, aber leider hatte ich die Northwestern gewählt.

Er hat sogar auf mich gewettet. In der siebten Klasse hatte ich Schach gelernt, und auf der Highschool war ich schon ziemlich gut. Eines Abends war ich zu Hause und las gerade den Ace-Paperback-Raubdruck von Die zwei Türme“, der soeben publiziert worden war. Seit Die Gefährten“ hatte ich ein halbes Jahr gewartet, und nun war ich mit Sam und Frodo auf dem Weg nach Cirith Ungol, als das Telefon klingelte. Mein Vater wollte, dass ich auf eine Partie Schach zu Bilmar’s kam. Ich versuchte ihm klarzumachen, dass ich gerade ein Buch las, aber mein Vater ignorierte das geflissentlich. Also machte ich mich auf den Weg zu Bilmar’s, wo ich Smokey im Hinterzimmer mit diesem kleinen glatzköpfigen Kerl ohne Beine antraf. Wir spielten eine Partie, und ich gewann, wonach ich mich schon wieder bei meinen Zwei Türmen“ wähnte, aber nein, der Kerl ohne Beine bestand auf einer Revanche. Die gewann ich auch, und zwar ziemlich locker. Er spielte besser als mein Vater, der die Regeln kannte, aber nicht viel mehr, aber er war nicht wirklich gut. Das genau dachte er aber und verlangte eine dritte Partie. Also spielten wir noch einmal. Mein Vater bestellte mir eine Cola nach der anderen, und ich schlug den kleinen Mann ohne Beine wieder und wieder und wieder, bis ich schließlich genug hatte.

Beim Hinausgehen steckte mir Smokey einen Zwanziger zu. Mein Taschengeld betrug damals einen Dollar die Woche, den ich meistens für Comics und Ace Doubles ausgab, daher war das wie die Sterntaler für mich. Erst viel später fand ich heraus, dass es bei jeder Partie um fünfzig Dollar gegangen war. Mein Vater hörte sich immer gern sagen, dass er mir Schach beigebracht hätte, aber das stimmt nicht. Er hat es einmal versucht, aber dabei ebenso schnell die Geduld verloren wie bei der Sache mit dem Fahrrad. Nein, es war mein Cousin Ritchie, der mir Schach beigebracht hat.

Smokey brachte mir noch nicht mal das Würfeln bei … Würfeln war seine Domäne, das Spiel, das er im Krieg zwischen Kamelen und Kanonen gespielt hatte.

Er würfelte gut genug, um diesen unverschämt dicken Saphir und die zehntausend Dollar zu gewinnen, die er aus Europa mitgebracht hatte. 1946 waren zehn Riesen ein kleines Vermögen.

Mit diesem Geld hätte mein Vater ein ansehnliches Haus erstehen können. Er hätte einen Wagen der Luxusklasse kaufen können. Er hätte fünf Autos kaufen können. Er hätte ein Haus und ein Auto kaufen können. Er hätte ein Unternehmen gründen können. Er hätte am Aktienmarkt investieren können, worauf sich die zehntausend Dollar bis heute in Abermillionen verwandelt hätten … nun … er gab sie aus. Frauen, Bier, Nachtclubs, die Rennbahn. Er hatte viel Spaß. Damals reichten zehntausend Bucks eine lange, lange Zeit.

Smokey besaß nie einen Wagen. Er fuhr nie. Er sagte immer, dass fahren und trinken sich nicht vertragen … und da er das Trinken unter Garantie nicht aufgeben würde, fuhr er Taxi. Wenn Mutter uns Kinder irgendwohin mitnahm, fuhren wir immer mit dem Bus. Wenn mein Vater dabei war, quetschten wir uns alle in ein Taxi.

Als Margaret Brady Smokey Martin kennenlernte und dann heiratete, hatte er die ganzen zehntausend Dollar schon verjubelt. Alles, was ihm noch von seiner Zeit in der Army geblieben war, war dieser unverschämt dicke Saphir, der schließlich Mutters Finger zierte.

So sehr Mutter diesen Saphir auch liebte, bestimmt hätte sie ein Haus noch viel mehr geliebt. In den Jahren kurz nach dem Zweiten Weltkrieg waren Häuser knapp. Viele zurückkehrende GIs konnten keine Wohnung finden. Schließlich baute ein Mann namens William Levitt Levittown und erfand so den Vorort, was das Problem löste, aber in Bayonne gibt es keinen Platz für einen Vorort, außer man will auf dem Grund der Newark Bay wohnen. Als meine Eltern heirateten, hatten sie also keine andere Wahl, als bei Rays Mutter und Großmutter in das große Haus an der Kreuzung 31st Street und Broadway einzuziehen, wo er aufgewachsen war.

Dort begann auch ich aufzuwachsen. Das Haus gehörte meiner Urgroßmutter, Oma Jones, eine sture alte Matriarchin deutscher Herkunft. Wir lebten dort, bis ich vier war, und kamen fünf Jahre lang, nachdem wir weggezogen waren, jeden Sonntag auf Besuch zurück. Die meisten meiner Erinnerungen an das Haus stammen von diesen Besuchen. Um diese Zeit war Oma Jones schon ans Bett gefesselt, aber das machte sie kein bisschen weniger Furcht einflößend.

Jeden Sonntag, kaum dass wir da waren, wurden meine Schwester und ich in Oma Jones’ Schlafzimmer geschickt, wo wir ihr berichten mussten, was wir in der vergangenen Woche gelernt hatten – und Gnade uns Gott, falls wir ein Fach ausließen. Kein Lehrer, den ich je in der Schule hatte, war auch nur halb so furchterregend wie Oma Jones in ihrem großen Bett mit den vier Pfosten.

Ihr Haus war riesig … oder zumindest wirkte es auf mich als Kind riesig. Dinge sind größer, wenn man klein ist. Drei Stockwerke plus Speicher und Keller.

Es gab ein Esszimmer für besondere Anlässe, eine riesige Küche mit einem schwarzen gusseisernen Herd , eine Veranda hinterm Haus und einen großen eingezäunten Garten, in dem ich spielte.

In diesem Garten schuf ich meinen ersten Helden. Ich nehme an, ich war ungefähr drei. Die meisten Cowboys hatten einen Revolver, aber manche hatten zwei, und das war cooler. Irgendwie kam ich auf den Gedanken, dass drei noch viel besser wären als zwei, vier wären besser als drei und so weiter. Statt mich darin zu üben, Roy Rogers, Hopalong Cassidy oder Red Ryder zu spielen, sagte ich meiner Mutter, dass ich der berühmte Desperado Lotsa Guns sei, der Pistolen in seinen Stiefeln, in seinem Cowboyhut, in seinem Gürtel und einfach überall stecken hatte. Zugegeben, der Großteil meiner Waffen sah verdächtig nach Stöcken aus … aber hey, ohne meine lebhafte Fantasie würde ich heute nicht hier stehen.

Ich werde oft gefragt, wann ich zum ersten Mal mit dem Schreiben begonnen hätte. Ich schreibe, seit ich weiß, wie man schreibt, seit ich gelernt habe, Buchstaben und Wörter zu formen … aber noch davor dachte ich mir Geschichten aus und erzählte sie Leuten. Zeuge davon ist Lotsa Guns.

Manchmal glaube ich, dass Schreiben eine Art von Wahnsinn ist. In jedem Fall sind beides eng verwandte Cousins. Wir träumen von Ländern und Epochen, die es nie gab, und wir verbringen die Hälfte unserer Zeit damit, uns Gespräche auszudenken, die nie stattgefunden haben, zwischen Menschen, die nicht existieren.

Auch wenn wir eine Wohninsel in einem Meer von Geschäften, Schaufenstern und Kneipen waren, weigerte sich Oma Jones, das Grundstück zu verkaufen. Sie war eine eigensinnige Frau, die es gewohnt war, dass alles nach ihrem Willen ging, und niemand würde sie zu einem Umzug bewegen. Sie war eine Gasman gewesen, bis sie George Jones heiratete, einen Hauptkommissar bei der Polizei von Bayonne.

Er war der George, nach dem ich benannt wurde. Ihr Sohn hieß auch George … aber im Haus auf dem Broadway hieß der tote Vater immer Hauptkommissar Jones, der lebende Sohn Georgie Jones.

Darüber hinaus gab es noch eine Tochter, meine Oma Grace, die einen italienischen Immigranten namens Louis Martin geheiratet hatte. Zuerst bekam sie meine Tante Gladys und dann meinen Vater. Zu dem Zeitpunkt, als ich geboren wurde, hatte Gladys geheiratet, war fortgezogen und hatte ihre eigene Familie gegründet, aber mein Vater, seine Mutter Grace, sein Onkel Georgie, deren Mutter Oma Jones und Oma Jones jüngere Schwester Tante Barbry blieben alle im Haus auf dem Broadway.

Nicht aber mein Großvater. Louis Martin starb erst, als ich schon auf dem College war, aber für unsere Familie war er schon damals so gut wie tot. Meine einzige Erinnerung an Opa Louis ist die, wie er mich bei einem seiner sporadischen Besuche im Haus auf dem Broadway in die Luft wirft und wieder auffängt. Er lachte, und ich hatte fürchterliche Angst, wenn ich mich recht erinnere. Louis wurde in Italien geboren, wanderte aber in jungen Jahren mit seinem Vater nach Amerika aus. Wahrscheinlich war er damals, als er mich in die Luft warf, nicht viel älter als ich heute. Als sie ihre Heimat verließen, lautete der Nachname der Familie Massacola, aber sie änderten ihn hier in Martin.

Allen Berichten zufolge war Louis intelligent, attraktiv, ein charmanter Mann, aber in unserer Familienüberlieferung war er ein Halunke. Nachdem meine Großmutter Grace zwei Kinder zur Welt gebracht hatte, verließ er sie und brannte mit einer jüngeren Frau durch. Weit kam er jedoch nicht. Menschen aus Bayonne verlassen Bayonne nur selten, also zogen Louis und seine neue Frau nur zwanzig Häuserblocks weiter. Angeblich lebten sie in der Nähe des Boulevards, irgendwo hinter der 50th Street. Meine Großmutter Grace war eine gute Katholikin, also erlaubte sie Louis nie, sich von ihr scheiden zu lassen, was ihn nicht davon abhielt, noch weitere Kinder mit seiner neuen Frau zu zeugen.

Es gab keinen Kontakt zwischen den beiden Martin-Familien, oder zwischen meinem Vater und meinem Großvater. Tatsächlich geriet Smokey sogar in Wut, wenn ich den Namen seines Vaters auch nur erwähnte.

Meine Großmutter Grace war eine liebe, freundliche und sanfte Frau, aber Urgroßmutter Jones war aus härterem Holz geschnitzt. Die Witwe des Kommissars regierte das Haus am Broadway mit eiserner Hand, im Kleinen wie im Großen. Zum Beispiel an Weihnachten. Meine Schwestern und ich öffneten unsere Geschenke nie am Weihnachtsmorgen. Stattdessen wurden wir an Heiligabend um Mitternacht geweckt; dann gab es Milch, Kekse und Geschenke. Dies war ein deutscher Brauch, den die Gasmans aus ihrer Heimat mitgebracht hatten. Oma Jones zwang diesen erfolgreich ihren Kindern, Enkeln und Urenkeln auf. Den Protesten von drei Generationen nicht-deutscher Ehepartner wurde dabei kein Gehör geschenkt.

Andere Beispiele ihrer Herrschaft waren weniger gütig. Ihr Sohn, Georgie Jones, hatte in der Schule als Junge Schwierigkeiten. Heute würden wir das vielleicht als Lernschwäche bezeichnen, damals wurde gesagt, er sei „nervös“. Oma Jones nahm ihn von der Schule und behielt ihn einfach zu Hause.

Wenn Lehrer und Beamte deswegen auftauchten, verjagte sie diese. Georgie machte deshalb auch nie einen richtigen Schulabschluss, was ihn dazu verdammte, sein ganzes Leben auf niedere Tätigkeiten angewiesen zu sein.

So ging es zu in dem Haus, in dem mein Vater aufwuchs, dem Haus, aus dem sein eigener Vater geflohen war. Smokey floh auch, aber auf seine Art. Sein Tagwerk verrichtete er als Zivilangestellter auf der Navy Base. Nach der Arbeit kam er nach Hause, aß zu Abend und ging dann über die Straße zu Whitey und Lefty’s und trank, bis es Zeit war, ins Bett zu gehen.

 Währenddessen blieb meine Mutter Tag und Nacht daheim – mit ihrer Schwiegermutter, ihrer Schwiegergroßmutter, ihrer Schwiegertante und Georgie Jones. Nimmt es da Wunder, dass sie von einem eigenen Heim träumte?

1953 bekam sie endlich ihre Chance. In diesem Jahr verließen wir das Haus am Broadway und zogen in ein Neubauprojekt unten auf der 1st Street, direkt am Kill Van Kull. Es waren Wohnungen für die weniger Betuchten.

Sie alle werden wissen, wie es in diesen Neubauten aussieht, da bin ich mir sicher. Sie haben alle die Nachrichten über Chicagos Cabrini-Green gelesen, Sie haben in HBOs Serie The Wire gesehen, wie es in den Wohntürmen von Baltimore zugeht. Grausige gigantische Hochhäuser aus Beton und Glas und Stahl, umgeben von Asphalt, verseucht durch Ratten, Junkies und Jugendbanden, die Wände mit Graffiti beschmiert, die Hauseingänge dunkel und nach Urin stinkend, die Aufzüge außer Betrieb. Schon häufig wurden diese Wohnprojekte als „Lagerhallen für die Armen“ herabgewürdigt. Das Leben im Wohnprojekt ist billig, und jeder Tag ist ein Kampf ums Überleben. Und ich lebte dort vierzehn Jahre.

Natürlich war mein Wohnprojekt ganz anders.

Um gleich eines klarzumachen, es war ganz neu, so neu, dass die Hausverwaltung noch gärtnerte und Bäumchen pflanzte, als wir einzogen.

Unsere neue Adresse lautete 35 East First Street. Wir wohnten im besten aller neun Gebäude, die LaTourette Gardens bildeten.

 Vor allem gab es hier auch noch andere Kinder. Eine Menge anderer Kinder. Daran musste sich ein Kind, dessen bester Freund das magische Auge der Sunshine Laundry gewesen war, erst mal gewöhnen. Vier Jahre der Einsamkeit auf dem Hinterhof hatten mich sehr schüchtern werden lassen, aber schließlich machte ich mir doch ein paar Freunde. Gregory La Bruno, Skipper Baker, Billy Martin, der genauso hieß wie ich, aber nicht verwandt war, und nein, um den Manager der Yankees handelte es sich auch nicht. Mark Shapiro aus der Wohnung über uns, der als Mark Shera zum Fernsehstar avancierte. Bobby Strydio, der harte Bursche von gegenüber, der mein bester Freund und Beschützer wurde.

Diese Kinder aus dem Wohnprojekt waren mein erstes Publikum. Schon oft habe ich erzählt, wie ich Monstergeschichten aufschrieb und sie den anderen Wohnprojekt-Kindern für ein paar Cent oder einen Nickel verkaufte, komplett mit einem dramatischen Lesevortrag.

Aber das kam erst ein paar Jahre später.

Lotsa Guns hatte nicht viele gute Spiele gekannt, aber die Kinder kannten welche. Wir spielten Fangen, Räuber und Gendarm und Verstecken. Wir spielten Ochs am Berg und Simon Says. Wir spielten Stockball auf der Straße. Der Laternenpfahl war die erste Base, der Baum die zweite, und der Studebaker dort drüben die dritte.

Ein Spiel, das sie mir zeigten, brachte mich fast um. Das war „Burg-König“. Ich bin sicher, Sie kennen es alle. Es ist ganz einfach: Ein Kind stellt sich auf einen Hügel und verteidigt ihn gegen die anderen Kinder. Sie versuchen dich herunterzuziehen und deinen Platz einzunehmen, und du versuchst sie wegzuschubsen, bevor sie oben sind.

Bei uns im Wohnprojekt gab es jedoch keine Hügel, deshalb mussten geparkte Autos als Ersatz herhalten. Wir kletterten über die Motorhaube und die Windschutzscheibe auf das Wagendach und schubsten einander auf den Asphalt hinunter. Wenn du sechs oder sieben Jahre alt bist, geht es vom Dach eines 1947er Plymouth ganz schön weit hinunter. Egal, meine Mutter hatte mir jedenfalls ein halbes Dutzend Mal verboten, auf Autodächer zu klettern, aber alle Kinder taten es, und ich gehorchte ihr nicht. Da trat mein Vater auf den Plan. Ich kletterte danach nie wieder auf ein Auto, und auf meinen Hintern setzte ich mich eine Zeit lang auch nicht.

Soweit ich mich erinnern kann, war es das einzige Mal, dass mich Smokey schlug. Meistens ignorierte er mich nur. Er war jeden Tag da, in all den Jahren meines Heranwachsens, aber er sagte nie viel. Üblicherweise kam er von den Docks nach Hause, aß sein Abendessen, sah ein bisschen fern und machte sich dann auf zur Bar an der Ecke. Dort blieb er, bis sie zumachten, dann kam er nach Hause und ging ins Bett. Am nächsten Tag wachte er auf, und alles ging wieder von vorne los.

Wir wohnten gerade ein, zwei Jahre im Projekt, da verlor Smokey seinen Job. Er war Zivilangestellter bei der Navy Base gewesen, aber in der Rezession während der Ära Eisenhower wurden Einsparungen vorgenommen, und er wurde entlassen. Etwa ein Jahr Arbeitslosigkeit folgte, dann trat er der Gewerkschaft der Hafenarbeiter bei.

Den Rest seines Lebens arbeitete er als Schauermann. In den ersten Jahren war er bei Sonnenaufgang auf den Beinen, um sich an den Docks zu zeigen. „Zeigen“ musste man sich, wenn man nicht das nötige Alter hatte oder keiner Gang angehörte – jeden Tag vor Ort sein und hoffen, dass genug Schiffe eingelaufen waren, um ein paar Stunden Arbeit zu bekommen. Häufig war er schon wieder um zehn zu Hause. Als ich dann in der Highschool war, hatte er sich einer Gang angeschlossen, arbeitete regelmäßig und verdiente gutes Geld. Aber die ersten Jahre waren wirklich hart.

Für uns alle. Wir waren arm, kein Zweifel. Das wurde mir schmerzlich bewusst, als ich in die Schule kam.

St. Andrew’s war die Grundschule – wir nannten sie Grade Schools –, die dem Wohnprojekt am nächsten lag – aber Bayonne war so katholisch, dass die Konfessionsschulen die doppelte oder gar dreifache Klassenstärke der öffentlichen Schulen aufwiesen. Meine Mutter schickte mich deshalb mit dem Hintergedanken, ich würde dort in einer kleineren Klasse mehr lernen, auf die Mary-Jane-Donohoe-Schule. Ihre Argumentation kam bei dem für uns zuständigen Priester überhaupt nicht gut an, und er drohte, sie würde in der Hölle schmoren, wenn ich nicht augenblicklich zur St. Andrew’s umgemeldet würde. Als Smokey das hörte, drohte er, den Priester hinauszuprügeln, sollte er je wieder unsere Wohnung betreten.

 Die Abenddämmerung ist meine liebste Tages- und der Herbst meine liebste Jahreszeit. Zu meinen Lieblingsgedichten zählen Shelleys „Ozymandias“ und Lord Byrons „So We’ll Go No More A-Roving“. Ich verwendete eines davon in einer Die Schöne und das Biest“-Folge und das andere in meinem Roman Fiebertraum“. Der ursprüngliche Titel meines ersten Romans lautete After the Festival“, und er spielte auf einem Einzelgängerplaneten, der einen kurzen, hellen Augenblick in der Sonne erlebt hatte und nun wieder in die ewige Nacht driftete. In der Fantasyserie, an der ich momentan arbeite, träumt eine Königin im Exil davon, den Thron wieder zu besteigen, den ihr Vater aufgeben musste, und eine Adelsfamilie wird in alle Winde zerstreut, nachdem ihr angestammtes Heim geplündert und sie von dort vertrieben wurde.

Ich frage mich, wo ich das alles her habe … all dieses … nun, „unheimliche Zeug“, wie es mein Vater nannte. Horror, Science-Fiction, Fantasy war für Smokey alles „unheimliches Zeug“. Er selbst liebte Western, alles mit John Wayne drin, und er verstand nie die Sendungen, die ich mochte. 1975 starb er an Leberzirrhose. Im selben Jahr gewann ich meinen ersten Hugo. Soweit ich weiß, hat er nie ein Wort von dem gelesen, was ich schrieb.

Der erste Rat, den man in jedem Schreibkurs bekommt, lautet: „Schreib über das, was du kennst.“ Am Anfang meiner Karriere hasste ich diesen Rat. Über das schreiben, was ich kannte?

Ich wollte über Drachen und Burgen, über Raumschiffe und Aliens und ferne Planeten schreiben. Nun, ich habe nie einen Drachen gesehen. Im Wohnprojekt waren nicht einmal Hunde und Katzen erlaubt. Ich musste mich mit Sittichen, Guppys und einem Haufen kleiner Schildkröten aus dem Gemischtwarenladen zufriedengeben. Dem Flug in einem Raumschiff war ich auf einer Taxirückbank am nächsten gekommen. Ich war auch noch nie mit einem Flugzeug geflogen, bevor ich an der Northwestern zu studieren begann. Und was die fernen Planeten angeht, Teufel auch, New York war für uns ein fremder Planet. Zum Zentrum von Manhattan war es eine Dreiviertelstunde mit dem Bus, aber wir waren höchstens einmal im Jahr in der Stadt, um Santa Claus bei Macy’s zu sehen und in einem Billigrestaurant zu essen. Jeden Sommer fuhren wir ein-, zweimal mit dem Ausflugsschiff nach Rockaway Beach. Ansonsten haben wir Bayonne nie verlassen.

Aber ich konnte in meinem Zimmer sitzen und aus dem Fenster sehen. Tag und Nacht zogen die Frachter vorbei auf ihrer Fahrt von und nach Port Newark, und an ihren Hecks flatterten die Flaggen von Frankreich und Norwegen und Liberia und der Hälfte aller anderen Staaten dieser Welt. Ich besaß ein großes Flaggenbuch, in dem ich die Länder der Schiffe immer nachschlug, die den Kill Van Kull entlangfuhren. Und wenn es dunkel wurde, schienen die Lichter über das Wasser des Kill Van Kull herüber. Es war nur Staten Island, aber für mich war es Shanghai und Paris, Timbuktu und Kalamazoo, Marsport und Trantor, und all die anderen Orte, an denen ich nie gewesen war und die ich wohl nie sehen würde. Manchmal ging ich hinaus, legte mich ins Gras und starrte an den Dächern vorbei hinauf zu den fernen Sternen. Ich kannte die Namen von ein paar, Rigel und Sirius und Polaris, Deneb, Altair und Wega. Aber ich war ganz sicher noch nie dort gewesen. Ich war überhaupt noch nirgends gewesen.

Schreib über das, was du kennst? Ich kannte nur Bayonne. Diesen Rat musste ich ignorieren, sonst hätte ich überhaupt nichts schreiben können. Viele Jahre später, zur der Zeit, als Wild Cards“ erschien, würde ich Bayonne und 35 East First Street einbringen, um eine Figur namens Thomas Tudbury zu entwickeln, auch bekannt als die Große und Mächtige Schildkröte. Ja, würde ich dann verschämt zugeben, wenn ich gefragt wurde: „Ich bin Tom Tudbury, nur ohne seine verdammten Superkräfte.“

Und das stimmt, und es stimmt auch nicht.

Ich bin Tommy … aber ich bin auch alle anderen. Ich bin Robb in „Abschied von Lya“, genau wie Dirk in Die Flamme erlischt“ … aber in diesem Roman bin ich auch Arkin Ruark und Jaan Antony. Ich bin Abner Marsh, so wie sein stolzer Schaufelraddampfer Fiebertraum“ das Ausflugsschiff nach Far Rockaway ist, nur dass seine Passagiere Blut trinken anstatt Kool-Aid. Mein Erstsemester-Ich ist Sandy Blair, mein Schachclub-Ich ist Peter Norten, ich bin Kenny Dorchester, während ich abzunehmen versuche. Holt in „Die Steinstadt“, er ist der Junge, der im Gras liegt und zu den fernen Sternen emporstarrt. Trager ähnelt mir in einer dunklen Nacht der Seele, als er aus drei Wunden namens Josie, Laurel und Rita Gift blutet. Jon Snow hat viel von mir, und Sam Tarly. Und die Frauen auch, Lyanna und Shaara, und die Mädchen, Arya und Adara … Daenerys Stormborn, die nach dem Haus mit der roten Tür sucht. Und Tyrion Lannister? O ja, ich bin der Zwerg zuhauf, der geile kleine Bastard.

Schreib über das, was du kennst, heißt es.

Nun, das ist alles, was unsere Zunft tut. Lasst euch bloß nichts anderes erzählen.

William Faulkner sagte, dass nur das menschliche Herz im Widerstreit mit sich selbst den Stoff für gute Prosa abgibt, weil es sich nur darüber zu schreiben lohnt, weil nur das den Schmerz und den Schweiß wert ist.

Und auch Robert Bloch sprach vom Herzen. Er sagte, er hätte das Herz eines kleinen Jungen … in einem Einmachglas auf seinem Schreibtisch.

Ich habe auch das Herz eines kleinen Jungen … aber meines ist noch hier, komme, was da will. Ich habe keine Kinder, aber ich habe hundert Kinder … und ich war selbst ein Kind, gestern noch … und ich erinnere mich.

Vielen Dank!

 

Die vollständige Rede finden Sie in George Martins Anthologie-Band „Traumlieder 3“ (im Shop).

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