15. Juli 2015 1 Likes

Süchtig nach Virtualität

In „Tomorrow & Tomorrow” entwirft Thomas Carl Sweterlitsch eine so intime wie verstörende Zukunftsvision

Lesezeit: 3 min.

John Dominic Blaxton, die Hauptfigur aus „Tomorrow & Tomorrow“ (im Shop), lebt in Washington. Ab und an zumindest, denn die meiste Zeit ist Dominic über seine Adware (eine Art Mini-Computer, die den Menschen direkt ins Gehirn implantiert wird und ihnen ständigen Internetzugang ermöglicht) in der virtuellen Replikation der Stadt Pittsburgh, genannt das „Archiv“, unterwegs. Thomas Carl Sweterlitsch: Tomorrow & TomorrowPittsburgh selbst wurde bei einem Attentat zehn Jahre zuvor dem Erdboden gleichgemacht, und damals verlor Dominic seine Frau Theresa. Doch dank ausgefeilter Technik und einer Droge namens Brown Sugar kann Dominic die schönsten Momente mit Theresa live und in Farbe wieder erleben. Und wieder. Und wieder. Und wieder. Nachdem er durch seine Drogen- und Internetsucht mehrmals straffällig geworden ist, verliert er seinen Job in einer virtuellen Detektei und wird zu einer Entziehungskur verdonnert. Kurz gesagt: John Dominic Blaxton ist am Ende. Doch dann gerät er an den Medien-Mogul Theodore Waverly, und mit ihm an einen brisanten Auftrag: Ein Hacker löscht systematisch die Daten von Waverlys Tochter Albion, die ebenfalls bei dem Attentat von Pittsburgh umkam, aus dem Archiv und ersetzt sie durch die einer anderen Person. Und Dominic soll den Hacker aufhalten, schließlich ist er der beste Internetdetektiv Washingtons – wenn er nicht gerade zugedröhnt ist. Kurzzeitig scheint Dominics Leben eine Wendung zum Besseren zu nehmen, er bekommt von Waverly einen gewaltigen Vorschuss, per Reboot wird er flugs von seiner Drogensucht geheilt, und er steht vor dem größten Auftrag seines Lebens – eine Herausforderung, die ihn möglicherweise etwas von Theresas Tod ablenken könnte. Allerdings merkt Dominic schnell, dass es hier um weitaus mehr geht als darum, eine Tote im Internet aufzuspüren. Es geht um Macht, und es geht um Mord – und ehe er es sich versieht schwebt Dominic in allerhöchster Gefahr …

Doch obwohl er sich mit den Mächtigsten der Mächtigen anlegt und obwohl man als Leser weiß, dass Dominic besser die Finger von dem Fall lassen sollte, wenn ihm sein Leben lieb ist, wünscht man sich, dass er weiterermittelt, dass er weiterbohrt, einfach deshalb, weil dieser Fall die allerletzte Chance für ihn ist, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Die letzte Chance, den Verlust Theresas zu verarbeiten. Man kann Dominic gut verstehen, denn wer würde den Menschen, den man geliebt und verloren hat – sei es nun durch Tod oder Trennung –, nicht immer wieder sehen wollen? Doch gerade dadurch nimmt sich Dominic die einzige Möglichkeit zu heilen, und auch sein Umfeld macht es im nicht gerade leicht.

Thomas Carl Sweterlitsch
Thomas Carl
Sweterlitsch

Thomas Carl Sweterlitsch schickt seinen Helden durch eine Welt, in der den Figuren mittels ihrer Adware eine Flut von Informationen direkt auf die Netzhaut projiziert wird. Stellen wir uns das nur mal vor: Wir gehen die Straße entlang und sehen den Facebook-Account jedes Passanten, der an uns vorübergeht, direkt auf unseren Augen. Und dazu noch den passenden Zalando-Link, weil unsere Adware registriert hat, dass uns die Schuhe des Passanten gefallen. Wer würde da nicht süchtig nach einem Ort, an dem man sich geborgen und sicher fühlt? Nach einem Ort, an dem man Ruhe und Frieden empfindet? Auch wenn wir wissen, dass dieser Ort nicht real ist. Und doch ist Sweterlitschs Welt, trotz des technischen Fortschritts, unglaublich archaisch: Es herrscht Polizeiwillkür und das Recht des Stärkeren. Und wenn die Präsidentin der USA - eine ehemalige, christlich-fundamentalistische Schönheitskönigin - zweimal im Jahr persönlich Landesverräter und potenzielle Terroristen hinrichtet, dann sind wir endgültig im Mittelalter angekommen.

„Tomorrow & Tomorrow“ hat mich fasziniert und begeistert – und ja, an manchen Stellen auch irritiert -, weil es so viele Facetten hat: Die Zukunft steht neben der Vergangenheit, die digitale Welt neben der analogen. „Tomorrow & Tomorrow“ ist ein Krimi in bester Noir-Tradition, es ist eine berührende Liebesgeschichte und eine geniale Zukunftsvision – und doch hatte ich beim Lesen nie das Gefühl, dass Thomas Carl Sweterlisch zu viel will. Die einzelnen Elemente – so gegensätzlich sie auch sein mögen - fügen sich zu einem runden Ganzen zusammen, und als ich das Buch zuklappte, tat ich es in dem Bewusstsein, einfach eine verdammt gute Geschichte gelesen zu haben.

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