14. September 2015 1 Likes

Metallrausch

Die Tagebucheinträge des Biominers Jacob London kurz vor seinem Verschwinden 2029

Lesezeit: 7 min.

3. Mai. Nach mehrtägiger Konvoifahrt endlich im Zielgebiet angekommen. Die Frühlingsstürme haben nachgelassen, und die Taiga liegt da wie ein aufgerissenes Stück Fleisch. Mein Lastwagen blieb im aufgetauten Permafrost stecken. Wir ließen ihn stehen, es gibt ohnehin kaum noch Benzin. Am Horizont verlassene Städte, graue Gerippe vor den tief hängenden Wolken. Hier draußen befand sich eine Fabrik für Elektrogeräte – sie wurde schon vor Jahren geplündert, aber wir interessieren uns für die Überreste. Gemeinsam mit den anderen richte ich das Lager her. Sie sind ehemalige Bergleute und Ölarbeiter, auch ein paar Fließbandarbeiter aus aufgelassenen Smartphone-Werkstätten sind unter ihnen, Glücksritter allesamt. Wortlos und routiniert bereiten wir die Suchgeräte und Biotanks vor, während in der Ferne Wölfe heulen. Wir sind moderne Schatzsucher, folgen einer neuen Variante des Goldrauschs. Keine Nuggets, keine Juwelen oder Luxusgüter, nein. Uns geht es ums schiere Überleben der Zivilisation. Wir suchen Metalle.

4. Mai, frühmorgens. Die anderen schlafen noch, aber mich hat das nahe Wolfsknurren aufgeweckt. Habe draußen nachgesehen, doch die Biester waren schon wieder verschwunden – mit einem Teil der Essensabfälle. Zeit zum Schreiben, Gedankensammeln. Zum tausendsten Mal frage ich mich, wie wir uns nur in eine derartige Abhängigkeit begeben konnten. Ohne bestimmte Rohstoffe war unsere Welt gar nicht mehr denkbar. Leichtmetalle wie Aluminium ermöglichten uns den Bau von Autokarosserien. Yttrium und andere Seltene Erden ließen Mobiltelefone und Plasmabildschirme funktionieren. Die Abbaumengen stiegen wegen weltweiter Nachfrage von Jahr zu Jahr, vor allem als China und Indien immer mehr Konsumenten hervorbrachten. Und erst das Kupfer! Alle elektrischen Leitungen waren darauf angewiesen. Das wurde uns erst so richtig bewusst, als es zu anhaltenden Lieferengpässen kam und der Kupferpreis in die Höhe schoss – wie auch die Anzahl von Kupferdiebstählen. Regierungen und Wirtschaftsvertreter beruhigten uns: Es gibt genügend Metalle auf dem Planeten. Das Problem ist nur, sie abzubauen und verfügbar zu machen.

4. Mai, mittags. Haben das Gelände in Quadranten eingeteilt und gehen es mit Metalldetektoren ab. In einer Pause unterhalte ich mich mit Gerd, unserem Prospektor für Erze. Er war früher Forscher am Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf. Er spricht nicht gerne darüber, warum er das Institut verlassen hat. Aber er verrät mir, wo die Schwierigkeiten im Metallabbau liegen. So ist etwa der Großteil des Kupfers im Erzgestein fest mit Schwefel verbunden, etwa im Mineral Chalkopyrit. Solche Metallsulfide sind unter normalen Umweltbedingungen unlöslich, und die reinen Metalle lassen sich nur durch komplizierte chemische Verfahren gewinnen. Sein Institut hatte daher begonnen, mit Bakterien zu experimentieren, um Metalle aus Halden stillgelegter Bergwerke oder aus Elektroschrott zu recyceln. Die winzigen Viecher können nämlich Kupfer einfach durch ihren Stoffwechsel aus dem Erz lösen – sie fressen es und scheißen dann Reinmetalle aus. Man nannte das Biomining, sagt Gerd. Die Bakterien werden im Verbund eingesetzt und bilden einen Mikrofilm auf dem zu bearbeitenden Gestein. Dann beginnt die Biolaugung, also das allmähliche Herauslösen der Metalle. Im Gegensatz zu herkömmlichen Methoden sei der Prozess vergleichsweise umweltfreundlich, meinen die Wissenschaftler. Was sie nicht dazu sagen, ist, dass es auch viel billiger ist, als mit Maschinen und Treibstoffeinsatz in den mittlerweile unrentablen Minen zu … Muss aufhören, die Jungs scheinen ein Problem mit den Tanks zu haben!

4. Mai, abends. Noch mal gut gegangen. Einer der Biotanks hatte ein Leck, und es war schon die Hälfte der Bakterienlauge ausgelaufen, bis wir es endlich schließen konnten. Die Tanks sind riesig und extrem unhandlich, müssen aber dennoch mit äußerster Vorsicht bewegt werden. In kalten Gegenden wie hier wird das Material porös, und kleine Stöße reichen manchmal schon, um Haarrisse oder Löcher entstehen zu lassen. Wir haben fast fünfzig Liter Flüssigkeit verloren, sie lief in einen kleinen Tümpel – wahrscheinlich war es der Löschwasserteich der ehemaligen Fabrik. Kein großes Problem, wir haben noch ausreichend Material mit und können mit Gerds Hilfe neue Lauge erzeugen.

5. Mai. Hab heute das lange Streichholz gezogen und darf im Warmen bleiben, um Gerd im improvisierten Labor zu assistieren. Während wir – ohne besondere Schutzvorrichtungen – neue Bakterienstämme in Petrischalen ansetzen, berichtet er von einem weiteren Verfahren, das man am HZDR entwickelt hatte: die Biosorption. Sie basierte auf speziellen Oberflächenstrukturen von Bakterien und wurde für neuartige Filtermaterialien verwendet. Die Oberfläche besteht (soweit ich es verstand) aus Hüllproteinen, die regelmäßige Nanostrukturen bilden und Metall-Ionen binden. In der Natur schützen sich die kleinen Kerle damit vor Schadstoffen. Gerd und seine Kollegen nutzten das Prinzip, um Giftstoffe wie Arsen und Uran aus Abwässern zu filtern. Sie wollten in ihrem Idealismus die Umweltverschmutzung rückgängig machen, während sich ihre Konkurrenten auf gewinnbringendere Beute verlagerten: Seltene Erden. Deren Bakterienstämme sind darauf trainiert, diese wertvollen Metalle aus der Schlacke von Müllheizkraftwerken und anderen Industrieanlagen zu extrahieren. Sie heften sich an zerkleinerte Schlacke und lösen die gewünschten Metallverbindungen heraus. Die Stoffe werden anschließend chemisch ausgefällt oder elektrisch an Grafit-Elektroden abgeschieden. Allein in Deutschland wurden schon bald Seltene Erden im Wert von mehreren Millionen Euro pro Jahr wiedergewonnen. Europaweit kam es zu industriellen Recycling-Ansätzen: der Chemiekonzern Solvay in La Rochelle gründete etwa eine Wiederaufbereitungsanlage für Seltene Erden aus Energiesparlampen und Leuchtstoffröhren. In Japan gewann Honda diese Stoffe aus alten Nickelmetallhydrid-Akkus, Toshiba holte sie aus den Magneten von Klimaanlagen. Was frühere Appelle an den gesunden Menschenverstand nicht schafften, gelang dem wirtschaftlichen Preisanstieg in Folge immer schwieriger auszubeutender Rohstoffe: Wir wurden eine Recycling-Gesellschaft … Okay, es wird Zeit fürs Mittagessen. Mal sehen ob es heute toten Hund zur Dosensuppe gibt.

5. Mai, nachmittags. Zwei Kollegen liegen mit akuten Magenbeschwerden im Krankenzelt. An der Suppe liegt es nicht, beteuert der Koch. Der Arzt (heute mal nicht betrunken) gibt ihm Recht: Die beiden haben Wasser von draußen getrunken, ohne es ausreichend lange abzukochen. Tatsächlich füllen wir alle unsere Trinkwasservorräte immer wieder mit Wasser aus Bächen und Seen auf, an denen wir vorbei kommen. Man kippt einen Schuss Wodka dazu, um es zu desinfizieren. Alle, die nach einem kurzen Check für gesund befunden werden, gehen wieder raus an die Arbeit, ich ebenfalls. Schließlich muss ja jemand den Schleim mit den ausgefällten Mineralien vom Boden abkratzen.

6. Mai, morgens. Jetzt sind noch drei krank geworden, und die ersten beiden zeigen heftige Symptome von Anämie und Eisenmangel. Wir werden nochmal untersucht, diesmal genauer, auch Blutproben werden genommen. An Arbeit ist heute sowieso nicht zu denken, denn draußen fällt eine Mischung aus Regen, Hagel und gefrorener Asche vom Himmel.

6. Mai, abends. Der Vorarbeiter informierte uns auf seine gewohnt einfühlsame Art, dass einer der Erkrankten unter Krämpfen gestorben ist und wir alle ebenfalls ein kleines Problem hätten. Laut ärztlichem Ergebnis befinden sich in unserem Blut nämlich mindestens fünf verschiedene Stämme künstlich veränderter Bakterien. Wir haben Tag für Tag mit dem Wasser sozusagen auch unsere Arbeitstiere getrunken. Das wäre an sich für den Körper in Ordnung, meint der Arzt, normalerweise werden Bakterien von Magensäure und Immunsystem unschädlich gemacht oder mit dem Kot ausgeschieden. Diese hier aber sind in mehreren Generationszyklen zu hartnäckigen Überlebenskünstlern evolviert – und sie arbeiten, wie man es ihnen beigebracht hat. Das heißt: Sie heften sich an die in unserem Körper, in Blutbahn und Organwänden befindlichen Metalle und fällen sie aus. Der Arzt braucht uns nicht zu sagen, dass wir neben Wasser und Kohlenstoff auch aus einem Haufen Metallen bestehen, doch er zählt sie freundlicherweise auf: Natrium (0,25%), Kalium (0,30%), Calcium (1,60%), Magnesium (0,04%) sowie Aluminium, Eisen, Kupfer, Mangan, Zink, Zinn, Nickel – und natürlich all die eingeatmeten oder über Nahrung aufgenommenen Schwermetalle, mit denen wir die Umwelt verpestet haben, also Blei, Cadmium, Quecksilber und wer weiß was sonst noch alles. Damit räumen die Bakterien jetzt auf, aber es ist leider keine Wellness-Entschlackungskur, sondern eine langsame, unaufhaltsame Transformation, an deren Ende wir zwar reine Metalle kacken werden, aber keinen funktionierenden Blutkreislauf mehr haben. Der Vorarbeiter gibt uns den Rest des Tages frei.

8. Mai. Bin aus dem Lager abgehauen. Gerd und zwei andere kamen mit. Wir haben einen LKW gekapert und einen Teil der verbliebenen Lebensmittel eingepackt. Die meisten Dortgebliebenen sind ohnehin bereits tot, die anderen kauern leichenblass im Krankenzelt, der Arzt ebenfalls. Die Erde ist aufgeweicht und erschwert das Vorwärtskommen. Der am Horizont liegende Streifen der Stadt nähert sich so quälend langsam wie in einem Alptraum.

9. Mai. Der Wagen ist im Morast versunken. Gerd konnte nicht weiter und halluzinierte im Fieber. Irgendwann sprach er davon, dass es am Mond gewaltige Vorkommen von Mineralien gäbe, die Seltene Erden enthalten. „Sie werden uns dort rauf schicken“, flüsterte er und sah mich mit seinen jetzt seltsam hellen Augen an. „Ihr werdet sogar auf Asteroiden nach Metallen graben, wart nur ab.“ Wir mussten ihn zurücklassen. Falls wir irgendwo ein Krankenhaus finden, kehren wir mit Sanitätern zurück. Rauer Wind kommt auf, wir werden die Zelte mit Steinen sichern müssen.

10. Mai, abends. Es beginnt jetzt auch in mir, obwohl ich nur abgekochtes Wasser getrunken und viel eisenhaltiges Zeug gegessen habe. Manchmal juckt es unter der Haut, und ich kann sehen, wie sich die blauen Adern verfärben, immer blasser werden, während sich kreisrunde Flecken am Körper bilden. Mikrobenfilm, Ansammlungen verarbeiteter Metalle. Wir müssen morgen möglichst früh losgehen, damit wir es noch rechtzeitig in die Stadt schaffen. Draußen heult wieder ein Wolf, aber er ist weit genug weg.

10. Mai, nachts. Einer meiner Begleiter ist gestorben. Seine letzten Worte waren: „Verkauft mich.“ Damit meinte er den Metallwert seines Körpers, denke ich.

11. Mai, mittags? Dauerregen. Boden weicht unter meinen Schritten zurück. Habe Orientierung verloren, sehe Stadt nicht mehr. Bin in Schiffswrack geflüchtet, das hier mitten am Land liegt. Was es wohl am Rohstoffmarkt brächte? Kann nicht mehr aufstehen. Mein Körper öffnet sich, fließt aus, wird Teil des Regens, des Grundwassers. Metall, überall nur Metall …

Uwe Neuhold ist Autor und bildender Künstler, der sich insbesondere mit naturwissenschaftlichen Themen befasst. Alle Kolumnen von Uwe Neuhold finden Sie hier.

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