1. Februar 2016 2 Likes

Die Zukunft der Erinnerung

Werden wir alle eines Tages per Knopfdruck zu Idioten?

Lesezeit: 4 min.

Erinnerung ist teuer. Aus biologischer Sicht gesehen ist ein großes Gehirn ein recht kostspieliges Organ. Um nicht der evolutionären Selektion zum Opfer zu fallen, muss der Nutzen diese Kosten zumindest aufwiegen – im Falle des Homo sapiens liegt dieser Nutzen in einem flexiblen, anpassungs- und leistungsfähigen Verstand. Allerdings ist der Träger dieses Verstandes, das Organ in unseren Schädeln, relativ aufwändig, da das menschliche Bewusstsein zum Großteil von Erinnerungen abhängt; oder genauer gesagt: das Bewusstsein beruht auf dem Empfinden für das kontinuierliche Fortschreiten der Zeit, das ohne Erinnerungen nicht möglich wäre. Für uns Menschen stellen Erinnerungen den Ersatz für eine allumfassende Einsicht in die vierte Dimension dar. Selbstverständlich sind Erinnerungen sowohl selektiv als auch höchst unzuverlässig, und tatsächlich kreist die Literatur zum Thema, beginnend mit Freud und Proust, nicht ohne Grund um genau diese beiden Makel. Unsere Erinnerungen sind selektiv und unzuverlässig, aber andere haben wir nicht.

Mit anderen Worten: Erinnerungen sind Teil eines erbarmungslosen Nullsummenspiels, was den Energieaufwand betrifft. Man könnte beispielsweise die Theorie aufstellen, dass die Erinnerungsfähigkeit mit dem Alter (in dem wir alle vergesslicher und unkonzentrierter werden) deshalb nachlässt, weil nicht mehr so viel Energie für die Reproduktionsfähigkeit aufgewendet wird. Das weibliche Geschlecht etwa findet zerstreute Männer nur begrenzt attraktiv – man denke nur daran, welchen Ärger sich ein Ehegatte einhandelt, wenn er einen Hochzeits- oder Geburtstag vergisst.

Die Erinnerung ist eine der wenigen Gebiete, bei denen der technische Fortschritt der Menschheit direkt mit der sich in weitaus größeren Zeitspannen abspielenden Evolution kollidiert. Zum ersten Mal in der Geschichte des Lebens können wir auf eine Erinnerungsform zurückgreifen, die nichts kostet – oder, um genauer zu sein, mit jedem Jahr weniger kostet und dabei immer aufnahmefähiger und effizienter wird. Tatsächlich haben wir nicht nur Zugriff auf diese Erinnerungen, wir arbeiten auch unermüdlich daran, sie immer umfassender in unseren Alltag zu integrieren. Ich spreche natürlich von der digitalen Erinnerung. In meiner Brusttasche steckt ein handtellergroßer Apparat, der mir sofortigen Zugriff auf die Gesamtheit des online gespeicherten menschlichen Wissens gewährt. Alles, was die Menschheit je erfunden, gelernt oder ersonnen hat, kann von mir „erinnert“ werden, indem ich einfach nur mit den Fingern über eine Glasoberfläche streiche. Alles! Und jeder, den ich kenne, besitzt ein ähnliches Gerät, sodass das schon gar nichts Außergewöhnliches mehr ist.

Es ist gut möglich, dass das Mooresche Gesetz den wichtigsten Eingriff in die Umwelt darstellt, die die Parameter der menschlichen Evolution definiert; denn die Unaufhaltsamkeit dieses Gesetzes bringt uns dem Augenblick näher, in dem die Kosten einer totalen Erinnerung keine Rolle mehr spielen. Mit „total“ meine ich den Umstand, dass alles, was wir tun, erleben, sagen oder denken, digital und virtuell abgespeichert wird und jederzeit abgerufen werden kann. Gegenwärtig ist die digitale Erinnerung eine ausgelagerte Gehirnfunktion, vergleichbar einer externen Festplatte, die man an einen Laptop anschließt. Sie unterstützt und vergrößert das Erinnerungsvermögen und die Gedächtnisleistung. Welcher Londoner Taxifahrer macht sich noch die Mühe, alle Straßen auswendig zu lernen, wo es doch billige Navigationsgeräte gibt? Ein einfaches Navi verwandelt mich in Handumdrehen in einen Supertaxifahrer, der sich nicht nur in London, sondern auf der ganzen Welt zurechtfindet. Und das ist nur ein kleines Beispiel für ein viel gewaltigeres Phänomen.

Meiner Meinung nach wird die technologische Entwicklung folgendermaßen ablaufen: (a) Eine Person speichert gigabyteweise Daten (darunter Fotos, Nachrichten und andere Erinnerungsstücke) im Computer oder Smartphone ab; (b) Durch Fortschritte in der Gentechnik wird es möglich, die physikalischen Strukturen des Gehirns dahingehend zu verändern, große Datenmengen zu „speichern“ und jederzeit unverändert wieder abzurufen; (c) Der Cyborg der Zukunft verknüpft digitale und biologische Erinnerungen mithilfe technologischer Implantate.

Wie wird das menschliche Leben aussehen, sobald – und es ist eine Frage des sobald und nicht des falls – wir diese dritte Stufe erreichen? Die Science-Fiction beschäftigt sich nicht zuletzt aus dramaturgischen Gründen seit jeher mit einer eher düsteren und apokalyptischen Extrapolation dieser Entwicklung, anstatt sich einem auch nur verhaltenen Optimismus hinzugeben. Letzterer könnte ja bedeuten, dass uns diese Entwicklung zu besseren, weil vielseitigeren und verlässlicheren Menschen macht, die sich nicht zuletzt vergangener Fehler deutlich bewusst sind und dadurch umso besser aus ihnen lernen können. Aber betrachten wir die die düstere SF-Variante: Angenommen, diese effizientere und in jeder Hinsicht „billigere“ Version der Erinnerung wird dazu führen, dass die (für die Evolution dann unnötige) biologische Grundlage der Erinnerungsfähigkeit verkümmert. Unsere Gehirne schrumpfen, unser Langzeitgedächtnis wird zu einem überflüssigen Anhängsel wie die Mandeln oder der Blinddarm, und nur das Kurzzeitgedächtnis bleibt funktionstüchtig.

In einer solchen Zukunft wären die Menschen völlig von ihren künstlichen Erinnerungsspeichern abhängig, bis – zum Beispiel – ein neuartiges Computervirus alle zu Idioten macht. Denn auch wenn die organische Erinnerung lückenhaft und unzuverlässig ist, kann man sie nicht einfach mit neuen Daten überschreiben, wie es bei einem Computerspeicher der Fall ist. Ein zukünftiger Diktator bräuchte also keine Umerziehungslager oder George Orwells „Zimmer 101“ mehr, sondern könnte die kollektive Erinnerung einfach per Knopfdruck seinen Wünschen anpassen …
 

Adam Roberts ist eine der vielversprechendsten Stimmen in der neueren britischen Science-Fiction. Geboren 1965, studierte er Englische Literatur in Aberdeen und Cambridge und arbeitet derzeit als Dozent an der University of London. Alle Kolumnen von Adam Roberts finden Sie hier.

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