1. März 2016 4 Likes

Atmende Kulissen

Jenseits von Westeros: George R. R. Martins großartige Erzählung „Sandkönige“

Lesezeit: 3 min.

George R. R. Martin (oder einfach, wir sind ja unter uns, GRRM), der derzeit erfolgreichste Genre-Autor auf dem Planeten Erde, der Mann, der Genre-Ikonen wie Heinlein, Tolkien oder Lovecraft nicht nur exzessiv gelesen, sondern geradezu absorbiert hat, dieser Autor interessiert sich eigentlich gar nicht für Genres. Oder anders gesagt: Er hält sie überflüssig. All die Monster und Friedhöfe, die Schwertkämpfer und Schicksalsberge, die Raumgleiter und Zeitsprünge – das seien, so GRRM, nur austauschbare Kulissen, Symbole, Metaphern. Letztlich gehe es doch immer einzig und allein um das berühmte Faulkner’sche „human heart in conflict with itself“.

Es ist durchaus interessant, so etwas von einem Autor zu hören, dessen Weltruhm auf tausenden Seiten von, nun ja, Kulissenschieberei gründet. Aber noch interessanter ist, dass ihm dieser Ruhm eigentlich dafür gebühren sollte, dass er im Laufe seiner langen Schriftstellerkarriere die Genre-Kulissen nicht nur einfach so ausgetauscht, sondern sie miteinander verschraubt hat. GRRM, nun leider auf ewig an den Eisernen Thron gefesselt, ist der vermutlich vielseitigste Phantastik-Schreiber unserer Zeit.

Nehmen wir etwa seine Erzählung „Sandkönige“. Geschrieben Ende der Siebzigerjahre, sowohl mit dem Hugo als auch dem Nebula Award ausgezeichnet, seither in Dutzenden von Anthologien erschienen, zählt sie zu seinen bekanntesten. Und trotzdem: Als ich sie vor einigen Wochen wieder einmal las, wurde mir schlagartig bewusst, dass es eine Science-Fiction-Geschichte ist. All die Jahre hatte sie mir als purer Horror im Kopf herumgespukt: die Geschichte eines Mannes, der in einem geheimnisvollen Laden eine ihm unbekannte Tierart, besagte Sandkönige, erwirbt, diese in sadistischen Kämpfen gegeneinander antreten lässt und ihnen schließlich (Achtung Spoiler!) völlig gerechtfertigt selbst zum Opfer fällt. Eine fiese, kleine morality tale, wie so viele Horrorstorys, schnörkel- und atemlos Richtung Pointe erzählt: Der selbsternannte Gott erschafft die Monster, die ihn fressen.

Nur dass wir uns dabei nicht in einem nebligen Londoner Hinterhof oder irgendwo in Maine befinden, sondern auf einem anderen Planeten. Und dass die Menschen, die dort herumlaufen, nicht alle Menschen sind. Und die Sandkönige nur eine von vielen exotischen Spezies … Warum hatte ich das alles vergessen, obwohl es für die Geschichte doch so wichtig ist?

Die Antwort, scheint mir, sagt einiges, wenn nicht alles über die Qualitäten dieses Autors, bevor er sich nach Westeros aufgemacht hat: Weil miteinander verschraubte Kulissen bei GRRM mehr sind als nur Kulissen; weil sie ihr ganz eigenes Geheimnis hervorbringen, ihre ganz eigene Phantastik. So wie im berühmtesten aller Science-Fiction/Horror-Amalgame, Ridley Scotts Alien, beginnen diese Kulissen zu leben, zu atmen, sich auf eine ganz bestimmte Weise zu verhalten. Die Horror-Elemente in „Sandkönige“ sind klassisch und überwältigend, die Science-Fiction-Elemente dagegen sind klassisch und fein eingewoben – in der Erinnerung wirkten sie vernachlässigbar. Aber das ist ein Irrtum: Die SF-Hybris, die sich in „Sandkönige“ in den Kulissen verbirgt, ist der eigentliche Horror. Wir mögen einmal ferne Planeten besiedeln; uns selbst können wir nicht entkommen.

So etwas kann uns nur eine Genre-Geschichte sagen (oder eben eine, die auf höchst elegante Weise die Genres verbindet), und GRRM weiß das natürlich. Er behauptet nur etwas anderes – was man gut verstehen kann, denn hier ist ein Autor, der, ohne es zu wollen, Sandkönige in die Welt entlassen hat und nun verdammt gut aufpassen muss, dass sie ihn nicht fressen.
 

George R. R. Martin: Sandkönige (Sandkings) Erzählung Aus dem Englischen von Hannelore Hofmann Enthalten in dem Sammelband „Traumlieder II“ ∙ Heyne E-Book: € 11,99 (im Shop)

Den Roman des Monats März 2016 finden Sie hier.

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