5. September 2016 3 Likes

Weiter, immer weiter

Spätsommerliche Gedanken, die Gegenwart der Zukunft betreffend

Lesezeit: 4 min.

Kürzlich, es war während eines Abendspaziergangs durch die ferienstille Stadt, wurden wir beinahe von einer „Pokémon Go“-Jagdgesellschaft über den Haufen gerannt. Natürlich nicht mit Absicht. Es war einfach so, dass sie uns, die analogen Spaziergänger, nicht richtig wahrnahmen, dass die von ihren Smartphones wiedergegebene Realität stärker war als die eigentliche – oder sagen wir: die althergebrachte – Realität.

Das ließ mich über die Zukunft nachdenken.

Nicht über „Die Zukunft“ wohlgemerkt. Schließlich habe ich keine Ahnung, ob sich diese Art Virtual-Reality-Spielerei langfristig durchsetzen wird. (Als ich jung war, hatten wir Teenager eine Saison lang immer ein Jo-Jo dabei, mit dem wir zu allen möglichen und unmöglichen Zeiten „Gassi gehen“ oder „Wippe“ übten. Wann haben Sie zuletzt einen Jugendlichen mit Jo-Jo gesehen?) Sondern über die „Welt der Zukunft“. Die Zukunft, wie sie auf den Umschlägen der Science-Fiction-Magazine und -Taschenbücher bis weit in die siebziger Jahre hinein ohne Unterlass imaginiert wurde: als Verschmelzung unserer Lebenswelt, unseres Alltags, mit dem Technischen, Künstlichen, Virtuellen; als Befreiung des Menschen von den Zumutungen der Natur durch die Erzeugung einer zweiten, ausschließlich von und für Menschen gemachten Natur.

Nun, da sind wir also. Oberflächlich betrachtet – ich meine das nicht abwertend, sondern: mit den Augen eines Science-Fiction-Illustrators betrachtet – ist jene „Welt der Zukunft“ nun die Gegenwart. Menschen laufen durch urbane Räume auf der Suche nach von Computern erzeugten Fantasiefiguren. Kann es mehr Zukunft in einer Gegenwart geben? Haben sich unsere Science-Fiction-Fantasien endlich erfüllt? Oder überhaupt unsere Fantasien?

Oberflächlich, also illustrativ betrachtet, ist die „Welt der Zukunft“ nämlich seit jeher ein technikgetriebener, vorwärtsstampfender Fortschrittsmechanismus hin zur Erfüllung des Menschheitsglücks in einem die Naturgesetze perfekt manipulierenden Leben. „Weiter, immer weiter“, wie der berühmte Kapitän ruft. Hinweise, es könnte womöglich ethische, ökologische, anthropologische oder auch ganz pragmatische Grenzen für diesen Mechanismus geben, sind da nur lästige Hürden, die man locker überspringen kann, wenn man nur optimistisch genug ist, wenn man nur fest daran glaubt. Und so entspricht die aktuelle „Welt der Zukunft“ – sie wird von den Silicon-Valley-Strategen und ihren medialen Büchsenspannern gemalt – genau der traditionellen Science-Fiction-Strategie, die Art und Weise, wie Menschen ihr Leben auf dem Planeten organisieren, zum Leben an sich zu erklären. (Noch immer funktionieren fast alle SF-Filme so: Der techno-soziale Hintergrund ist der eigentliche Held der Handlung.)

Doch hier haben wir es mit einem grundlegenden Problem zu tun. Die Zukunft – diese irrlichtartige, zutiefst ambivalente und auf faszinierende Weise achronische Denkfigur – eignet sich gar nicht richtig zur illustrativen Betrachtung. Die Zukunft ist kein Ding, kein Designobjekt; die Zukunft ist schlicht eine Gegenwart, die bisher noch nicht als Gegenwart in Erscheinung getreten ist. Natürlich kann sich eine zukünftige Gegenwart von einer jeweiligen tatsächlichen Gegenwart unterscheiden, und je größer der Unterschied, desto mehr „Zukunft“ ist in dieser Zukunft enthalten. Ein Bauer des Jahres 1750 n. Chr. etwa stand einem Bauern des Jahres 1750 v. Chr. mental näher als seinem Sohn, einem Proletarier des Jahres 1780 n. Chr. im Vorfeld der Französischen Revolution. Dieser Prozess, dieser Aufbruch der Menschheit in die „Welt der Zukunft“, hat sich seit dem 18. Jahrhundert bekanntermaßen extrem beschleunigt, aber gleichzeitig – und das gilt für die sich gerade ereignende Gegenwart in besonderem Maße – ist diese Beschleunigung selbstreferenziell geworden. Weitgehend unreflektiert setzen wir „Beschleunigung“ mit „Zukunft“ gleich.

Der proletarische Sohn unseres Bauern aber würde sich in der Welt des 21. Jahrhunderts durchaus zurechtfinden. Wir kommunizieren zwar anders, bewegen uns schneller fort und spielen seltsame Spiele, doch die Gesellschaft funktioniert immer noch so, wie es in seiner Zeit ausgebrütet wurde. Und viel weiser und toleranter sind wir in all den Jahren auch nicht geworden – wir bringen uns immer noch aus den bizarrsten Gründen gegenseitig um. Veränderung, so rasant sie sich auch ereignen mag, ist nämlich keine Frage von „Innovationen“, keine zwangsläufige Folge irgendwelcher genialer Apparate; Veränderung findet in den Köpfen statt. Die bedeutendste Veränderung der Art und Weise, wie Menschen miteinander leben und übereinander denken – die Erfindung und Implementierung der Menschenrechte –, hatte, wie man in Hans Joas’ großartiger Studie „Die Sakralität der Person“ nachlesen kann, nichts genuin Technisches; und ich wage die Vorhersage, dass die nächste Veränderung dieser Größenordnung, eine Veränderung in der Struktur unseres moralischen Empfindens, auch nichts genuin Technisches haben wird.

Das heißt nicht, dass sich in den letzten Jahrhunderten gar nichts verändert hat oder dass sich jetzt, in diesem Moment, nichts verändert. Sondern dass wir, während wir auf unsere Smartphones und auf andere digitale Segnungen starren, die eigentlichen Veränderungen gar nicht richtig wahrnehmen: das Wetter, das immer mehr Kapriolen schlägt; die Politik, die immer mehr zum Autoritären tendiert; die Wirtschaft, die immer mehr Menschen ausschließt. Das alles könnte sich, wenn wir nicht aufpassen, zu einer großen, strukturellen Veränderung amalgamisieren. Einer fatalen Veränderung. Passen wir auf?

Womöglich nicht genug. Wir haben die „Welt der Zukunft“ zur Gegenwart gemacht, und nun laufen wir durch diese künstliche, virtuelle Welt auf der Jagd nach noch mehr Künstlichkeit und Virtualität. Weiter, immer weiter.

Immer weiter im Kreis herum.

 

Sascha Mamczaks Buch „Die Zukunft - Eine Einführung“ ist im Shop erhältlich. Alle Kolumnen von Sascha Mamczak finden Sie hier.

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