12. September 2016 2 Likes

Transtemporales Kontinuitäts-Puzzle

William Gibsons neuer Roman „Peripherie“

Lesezeit: 3 min.

Die ersten 40 Seiten von „Peripherie“, William Gibsons neuestem, endlich auf Deutsch erschienenem Roman „The Peripheral“ aus dem Jahre 2014, sind ausgesprochen mühsam, wenn nicht sogar frustrierend. Der Godfather des Cyberpunk (im Shop), der das von technischem Fortschritt und sozialer Entwicklung geprägte Genre in den 80ern schier im Alleingang prägte und bis heute als Synonym und Referenz herangezogen wird, wirft seine Leser mal wieder skrupellos in die von ihm erdachte Zukunft – im Fall von „Peripherie“ sogar in zwei verschiedene Zukunftsszenarien, die durch ein Dreivierteljahrhundert sowie ein einschneidendes Ereignis voneinander getrennt sind. Wer die einleitende, für das Subgenre durchaus charakteristische Planlosigkeit in Sachen Kulisse und Sprache übersteht und sich auf das Puzzlespiel und die nach und nach einsetzende Akklimatisierung unterwegs einlässt, wird allerdings belohnt.

Denn natürlich erfährt man im weiteren Verlauf des Buches immer mehr, erschließt sich einem irgendwann so gut wie alles. Das vorangeschrittene 21. Jahrhundert, wo der Alltag verarmter amerikanischer Hinterwäldler von vielseitigen 3D-Druckern, Drogen und Videogames als Einnahmequelle, flexiblen Smartphones, Inflation, Homeland Security und hoch entwickelten Drohnen bestimmt wird, Tintenfischtarnanzüge unsichtbar machen und überdrehte Veteranen abenteuerliche Prothesen kriegen. Und das frühe 22. Jahrhundert, wo nach der als Jackpot bezeichneten Apokalypse – keinem großen Knall, sondern einem von der Menschheit selbst befeuerten‚ anthropogenen, systemischen und multifaktoriellem Prozess’ – nicht mehr viele, dafür umso reichere Menschen in einer fremdartigen Kunstrealität leben, die z. B. im neu gestalteten London zwischen Hightech-Avataren, Beutelwolf-Klonen und viktorianischem Cosplay pendeln. Eine mysteriöse Technik ermöglicht es den wohlhabenden Überlebenden des Morgen, mit dem armen, zum Untergang verdammten Trash im Gestern telekommunikativ Kontakt aufzunehmen und auf vielerlei Art und Weise zu interagieren. Dadurch entstehen neue Zeitlinien und veränderte Kontinuitäten …

Noch mehr über die Mechanik und den Plot zu verraten, würde viel Lesespaß nehmen. Der eigentliche Aufhänger der Story – ein Mord in der ferneren Zukunft, dem eine junge Frau aus der näheren Zukunft als Zeugin beiwohnt, wodurch sich auf beiden Seiten des Jackpots die Dinge in Bewegung setzen und es für mehrere Personen gefährlich wird – ist dabei gar nicht so wichtig für die Geschichte oder ihren Genuss. Wie in vielen Noir-Krimis, sind die Figuren, ihr Leben, ihr Umfeld und ihr Handeln wesentlich wichtiger als eine umwerfend geniale Auflösung am Schluss. Übrigens wurde Gibson zu diesem Roman über die ‚Drittweltisierung der Vergangenheit alternativer Kontinua’, wie er in der Danksagung selbst schreibt, durch die Kurzgeschichte „Mozart mit Spiegelbrille“ von Bruce Sterling (im Shop) und Lewis Shiner inspiriert, die im Original 1985 veröffentlicht wurde und auf Deutsch zunächst in er von Sterling selbst herausgegebenen Cyberpunk-Anthologie „Spiegelschatten“ und zuletzt in „Ikarus 2001 – Best of Science Fiction“ von Herausgeber- und Autoren-Legende Wolfgang Jeschke (im Shop) abgedruckt worden ist.

„Peripherie“ hat gleich am Anfang eine nicht unbeträchtliche Hürde, die überwunden werden muss. Danach ist der Roman ein cooler und ungewöhnlicher Remix von Zeitreisen, Avataren, Quanten und alternativen Zeitsträngen. Die kurzen Kapitel sind schön scharf geschrieben, die Protagonisten nicht weniger schnittig charakterisiert, ihre Welten faszinierend fremdartig und futuristisch. „Peripherie“ ist kein wahnsinnig revolutionäres Cyberpunk/Science-Fiction-Werk des einflussreichen Zukunftssehers und Zukunftsverstehers William Gibson – aber ein Roman, der sich entfaltet, unterwegs reift, mit jeder Seite besser wird und selbst erfahrene SF-Enthusiasten mit neu arrangierten Ideen und Elementen letztlich dann doch zu begeistern vermag.

William Gibson: Peripherie • Tropen, Stuttgart 2016 • 616 Seiten • Hardcover: 24,95 Euro

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.