19. September 2016

Invasion der Neonicotinoiden

Mit Tante Hilde und Willi unterwegs (Erster Teil)

Lesezeit: 4 min.

Vor vielen Jahren und weil sich meine Eltern einen Urlaub nicht leisten konnten, nahm mich meine Tante Hilde in den Ferien mit auf Reisen. Ferien hatte Tante Hilde auch im gesetzten Alter von fünfzig Jahre noch, weil sie als Putzfrau in einem Gymnasium arbeitete. Das Gymnasium stand in Wanne-Eickel und war merkwürdigerweise außen blau gekachelt, so dass es aussah wie ein umgestülptes Badezimmer. Es verfügte über eine kleine, aber feine Lehrerbibliothek, deren Bücher – Schicksal von Lehrerbüchereibüchern – nie benutzt wurden. So saß ich an manchem Nachmittag als einziger Gast dort und schmökerte in Kindlers Literaturlexikon oder anderen wuchtigen Werken, die ich mir im Leben nicht würde leisten können.

Was nun den Urlaub angeht: Meistens fuhren wir nach Bayern, und zwar im VW Käfer des Sohnes von Tante Hilde, der Willi hieß, und das mit Recht. Willi war Maurer und hatte eine kurze Karriere als Panzerfahrer bei der Bundeswehr hinter sich. Denn unmittelbar nachdem er den Panzerfahrerführerschein erworben hatte, ging es mit dem Spähpanzer Marke M41 Walker Bulldog ab auf den Truppenübungsplatz, und da wollte der Panzer nicht ganz so, wie Willi wollte, sondern ganz anders; man brachte den Panzer erst kurz, bevor er in ein Gebäude gekracht wäre, zum Stehen; und seitdem fuhr Willi statt Bulldog Käfer, und auch das nur mit äußerster Vorsicht.

Meistens ging es also nach Bayern, in den Bayerischen Wald oder ins Allgäu, nach Deggendorf und Rosenheim, nach Füssen, Oberstdorf und Kempten. Mit einem VW Käfer zog sich das; man musste auf dem Weg mindestens zweimal tanken; und damals kam, hielt man an der Tanksäule, noch ein diensteifriger Tankwart in Uniform herbeigeeilt, tankte voll und machte sich, indessen das Benzin floss, an der Frontscheibe zu schaffen.

Das war auch nötig, denn die Frontscheibe hatte sich in den zurückliegenden zwei bis drei Stunden in einen Tierfriedhof für Fliegen, Falter, Käfer, Mücken, Bienen, Wespen und allerlei andere Insekten verwandelt, denen, wie ich von meiner Perry-Rhodan-Lektüre wusste, nicht zu trauen war, weil sie (jedenfalls die größeren von ihnen) Individualverformer sein konnten: Körperfresser, Bug-Eyed-Aliens undercover. Aber die Eindringlinge aus dem Weltall hatten nicht mit Willis Windschutzscheibe gerechnet, und so musste sich manche insektoide Invasion from outer space dem Volkswagen geschlagen geben.

Tante Hilde zahlte für die Tankfüllung (vollgetankt) fünfzehn Mark (Benzin kostete fünfundfünfzig Pfennig pro Liter), und weiter gingʼs. Und kaum hatte der VW seine Höchstgeschwindigkeit von neunzig Kilometer die Stunde erreicht, klatschte auch schon die nächste fette Fliege ans Cockpit, die sonst wer weiß was Grauenvolles mit den Erdbewohnern im Sinn gehabt hätte.

Warum erzähle ich das?

Nun, vor ein paar Tagen sind wir aus dem Urlaub zurückgekommen. Wir waren in Meran, sind über den Brenner gefahren, dann an München, Nürnberg, Würzburg vorbei und die Sauerlandlinie hinunter. Einmal musste ich tanken (fünfundfünfzig Euro), und wäre Tante Hilde dabei gewesen, hätte sie ein Foto mit ihrem Kodak-Apparat gemacht: Ich allein mit dem Benzineinfüllstutzen in der Hand, kein professioneller Tankwart weit und breit. Wir fuhren gemächliche hundertdreißig, meine Lieblingsreisegeschwindigkeit, und hatten von Tür zu Tür am Ende gute tausendeinhundert Kilometer zurückgelegt.

Und kein einziges Insekt auf der Windschutzscheibe.

Wieso eigentlich nicht?

Dazu habe ich mehrere Theorien.

Theorie Nummer 1: Evolution. Die Insekten, die sich in den letzten Jahrzehnten kampflüstern heranbrausenden Autos entgegen geworfen haben, sind alle nicht ins fortpflanzungsfähige Alter gekommen. Die fürsorgliche Hand der Selektion hat nur solche Individuen in den Reproduktionstopf gelesen, die beim Anblick der verglasten Fahrmaschinen das Weite gesucht und sich in Sicherheit gebracht haben. (Eine Deutung, die den wissenschaftlichen Nebeneffekt hat, weitere gute Argumente für Darwins große Evolutionstheorie zu liefern.)

Theorie Nummer 2: Technik. Sämtliche Volkswagen sind heimlich mit einer Insektenabwehrsoftware ausgerüstet worden. Diese Software registriert den Anflug eines fliegenden Kerbtieres und versetzt den Motor dergestalt in Vibration, dass es für die Fahrzeuginsassen unbemerkt bleibt, im Insekt auf Kollisionskurs aber einen Umkehrimpuls auslöst. (Eine Theorie, die viel Schönes für sich hat, finde ich.)

Theorie Nummer 3: Optimierte Invasionsstrategie. Die Science-Fiction hatte doch recht: Insekten sind Invasoren (oder deren miniaturisierte Vorhut) und haben ihre Strategie zur Welteroberung in den letzten Jahren angepasst. Sie haben in den Automobilen eine Abwehrwaffe der Menschheit erkannt und schließlich gelernt, deren Erstschlag zu entgehen. Willis damaliges Malheur mit dem Panzer haben sie als Finte durchschaut und wissen, dass angebliche Panzerfahrer in Wirklichkeit zu VW-Kampfpiloten ausgebildet worden sind. Sogenannte „Tankstellen“ sind (oder waren) getarnte Unterzentralen des Anti-Invasionskommandos, die „Tankwarte“ sichteten die eliminierten Invasoren und führten sie heimlich gewissen Laboren zu. Warum alles dies heimlich geschah und geschieht? Natürlich um eine Massenpanik der Bevölkerung zu verhindern! (Ich halte diese Theorie offen gestanden für nicht sehr wahrscheinlich. Ich arbeite seit einer ganzen Weile an der Perry- Rhodan-Serie mit und verrate wohl nicht zuviel, wenn ich sage, dass die Rhodan-Romane viel weniger dokumentarisch sind, als ich in meiner Jugend dachte, und manches dort Erzählte frei erfunden ist.)

Theorie Nummer 4: Vergiftung. Der NABU, der Naturschutzbund Deutschland, meldete jüngst, dass die Anzahl der Fluginsekten in Teilen des Landes um alarmierende achtzig Prozent zurückgegangen sei. Der Rückgang betreffe Bienen, Schmetterlinge, Schwebfliegen und andere. Das Massensterben habe seine Ursache in der Vergiftung der Tiere durch Pflanzenschutzmittel, die in der Landwirtschaft eingesetzt werden, vor allem durch die so genannten Neonicotinoiden.

Ich fürchte, diese Theorie stimmt.

Ich lehne sie deswegen ab.
 

Hartmut Kasper ist promovierter Germanist, proliferanter Fantast und seines Zeichens profilierter Kolumnist. Alle Kolumnen von Hartmut Kasper finden Sie hier.

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