1. Oktober 2016

Keine Heldenreise in die Kanalisation

„Croatoan“ ist eine der persönlichsten, besten und finstersten Kurzgeschichten von Harlan Ellison

Lesezeit: 3 min.

Es ist eine dieser urbanen Legenden, die man sich über New York erzählt: dass ruchlose Scheißkerle (in einem Text zu einer Story des ungezügelten Geschichten-Großmeisters Harlan Ellison darf man so ein Wort zum Glück verwenden!) junge Alligatoren, die als Haustiere angeschafft wurden, einfach im Klo runterspülen, wenn ihnen die Reptilien zu viel werden – und dass diese Alligatoren in der Kanalisation überleben, wachsen und gelegentlich einen Obdachlosen oder Angestellten der Stadtwerke fressen. In Harlan Ellisons Kurzgeschichte „Croatoan“ (im Shop) begegnet der gewissenlose Anwalt Gabe in der Kanalisation allerdings noch weit unerfreulicheren Dingen und Wahrheiten.

Harlan Ellison: CroatoanAlles beginnt damit, dass Gabe wieder einmal eine seiner Freundinnen geschwängert hat. Kein Problem für den ausschweifenden Lebemann, der einfach zwei Damen zu einem Hausbesuch ruft, die ihm in dieser Angelegenheit schon des Öfteren aus der Patsche geholfen haben. Doch Carol, seine aktuelle Gespielin, wird nach der Abtreibung hysterisch und schickt Gabe los, ihr Kleines zurückzuholen, das in einem Plastikbeutel in der Toilette verschwunden ist. Also begibt sich Gabe zum nächsten Kanaldeckel, den er mit einem Brecheisen aufstemmt und der zu seinem Einstieg in die Welt des Weggeworfenen, Entsorgten und Runtergespülten wird. Im Tunnel-Labyrinth unter der Erde begegnet Gabe Pennern, Ratten, den eben angesprochenen Alligatoren und einigem mehr …

„Croatoan“ erschien erstmals im Mai 1975 auf den Seiten des Magazine of Fantasy and Science Fiction, wurde in diversen anderen Publikationen, Anthologien und Ellison-Storysammlungen nachgedruckt und 1978 von Tom Sutton, Alfredo Alcala und Steve Oliff für Ausgabe fünf des Comic-Magazins Heavy Metal adaptiert. Auf Deutsch fand sich die Story zunächst 1976 in „Die besten SF-Stories aus The Magazine of Fantasy and Science Fiction Bd. 43: Das Geschenk des Fakirs“ und 2014 natürlich im umfangreichen Ellison-Schrein „Ich muss schreien und habe keinen Mund“ (im Shop). „Croatoan“ gewann den Locus Award und war ’76 unter den Finalisten für den Hugo Award. Der Titel bezieht sich auf eine weitere amerikanische Legende, genauer gesagt das rätselhafte Schicksal einer im 16. Jahrhundert gegründeten englischen Kolonie an der Ostküste North Carolinas. Alles weitere erklärt Mr. Ellison in seiner harten, intensiven, atmosphärischen Story.

Harlan Ellison
Harlan Ellison

Die Frage, auf welcher Seite der Abtreibungs/Gleichberechtigungs-Debatte Harlan Ellison mit Gabes ungewöhnlicher „Heldenreise“ (welcher Held?) durchs Abwassersystem Position bezog, ist letztlich irrelevant – tatsächlich schrieb der 1934 geborene Kurzgeschichten-Gott „Croatoan“ nämlich 1974, kurz nachdem eine Affäre des kinderlosen Ellison schwanger geworden war und abtreiben ließ. Das rüttelte Ellison so heftig durch, dass er über seine diesbezügliche Verantwortung nachdachte, diese im Grunde tierisch persönliche Story verfasste und sich sogar einer Vasektomie unterzog, wie er einmal in einer Einleitung schrieb.

Stephen King (im Shop) ist indes der wohl prominenteste Fan von „Croatoan“. Er griff sie und den mit dem Namen verbundenen Siedler-Mythos mehrfach in seinem eigenen Schaffen auf, u.a. in „Das Monstrum – Tommyknockers“ und im Drehbuch zum Film Der Sturm des Jahrhunderts. In seinem Sachbuch „Danse Macabre“ beschrieb King Ellisons Story zudem als zornige, wütende Geschichte, die auf großartige Weise eine ungeahnte Unterwelt beschwört. Wie wahr! Andere Kritiker ordnen die keine 20 Seiten lange Erzählung in jenen Ellison’schen Schaffensbereich ein, in dem es um die Suche nach einer Vaterfigur geht. Am Ende muss man die Geschichte aber gar nicht überinterpretieren und kann sie auch schlichtweg als finstere, messerscharfe Weird-Fiction-Story goutieren.

„Croatoan“ war vor vielen Jahren die erste Shortstory von Harlan Ellison, die ich gelesen habe, und sie hat mich zu gleichen Teilen beeindruckt wie eingeschüchtert (zugegeben, ich hab mir „Das Geschenk des Fakirs“ ursprünglich wegen Fritz Leibers „Versäum nicht den Zeppelin!“ im gut sortierten Antiquariat des alten Hermke hier in Würzburg gekauft – aber immerhin hatte ich den Namen Harlan Ellison schon mal gehört, war neugierig und las dann noch die Ellison-Geschichte und … woah!). Für diese Besprechung habe ich „Croatoan“ jetzt zum vierten oder fünften Mal in meinem Leben gelesen, und die Geschichte hat rein gar nichts von ihrer Schärfe oder ihrem Impact verloren. Eigentlich ist es ja unmöglich, von der besten Harlan-Ellison-Story zu sprechen. Wenn ich mich jedoch entscheiden und festlegen müsste …

Harlan Ellison: Croatoan · Aus dem Amerikanischen von Birgit Reß-Bohusch · Heyne E-Book · € 1,99 (im Shop)

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