17. Oktober 2016 2 Likes

„Der Wächter“

Arthur C. Clarkes berühmte Kurzgeschichte, die als „2001 – Odyssee im Weltraum“ verfilmt wurde, für kurze Zeit kostenlos auf diezukunft.de

Lesezeit: 18 min.

Im Dezember 1948 veranstaltete die BBC einen Schreibwettbewerb, an dem auch der 31-jährige Mathematik- und Physikstudent Arthur C. Clarke teilnahm. Er schickte eine SF-Kurzgeschichte mit dem Titel „Der Wächter“ ein, in der Wissenschaftler ein Alien-Artefakt auf dem Mond entdecken. Die BBC lehnte die Geschichte ab, und Clarke veröffentlichte sie 1951 im Magazin Ten Story Fantasy. „Der Wächter“ erfuhr insgesamt nur wenig Aufmerksamkeit – bis 1964, sechzehn Jahre nach seinem Entstehen. Stanley Kubrick, der mit Doktor Seltsam und Wege zum Ruhm in Hollywood bereits Erfolge gefeiert hatte, wollte einen Science-Fiction-Film machen und suchte Kontakt zu einem der berühmtesten SF-Autoren seiner Zeit, Arthur C. Clarke. Man traf sich in New York, und Clarke schlug vor, den „Wächter“ zum Ausgangspunkt des Filmes zu machen, der schließlich den Titel 2001 – Odyssee im Weltraum tragen sollte. Clarke wandte später immer wieder ein, dass „Der Wächter“ ja nur bedingt Eingang in Kubricks Film sowie die Romanfassung (im Shop) gefunden hätte. Die glitzernde Pyramide sei ganz anders als der schwarze Monolith in 2001. Aber entscheiden Sie selbst:

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Arthur C. Clarke

Der Wächter

 

Wenn Sie das nächste Mal den Vollmond hoch im Süden sehen, dann achten Sie genau auf seinen rechten Rand und lassen Sie den Blick über die Krümmung der Scheibe nach oben schweifen. Etwa bei der Zwei-Uhr-Marke werden Sie ein kleines, dunkles Oval entdecken: Es ist für jeden Menschen mit normaler Sehkraft ganz leicht zu finden. Dies ist die große Wallebene, eine der schönsten auf dem Mond, die unter dem Namen Mare Crisium – Meer der Krisen – bekannt ist. Sie hat dreihundert Meilen im Durchmesser, ist fast völlig von einem Ring von prachtvollen Bergen eingeschlossen und niemals erforscht worden, bis wir sie im Spätsommer des Jahres 1996 betraten.

Es war eine groß angelegte Expedition. Wir hatten zwei schwere Frachter, die uns die Vorräte und die Ausrüstung vom fünfhundert Meilen entfernten Mondstützpunkt im Mare Serenitatis hergeflogen hatten. Außerdem gab es drei kleine Raketen für Kurzstreckenflüge über Regionen, die wir mit unseren Landfahrzeugen nicht überqueren konnten. Glücklicherweise ist das Mare Crisium größtenteils ziemlich flach. Es gibt dort keine großen Spalten, wie sie anderswo eine so häufige Gefahr darstellen, und auch nur sehr wenige nennenswerte Krater oder Berge. Aller Voraussicht nach konnten uns unsere starken Caterpillar-Schlepper problemlos an jeden gewünschten Ort bringen.

Ich hatte als Geologe – oder Selenologe, wenn Sie ganz pedantisch sein wollen – die Leitung der Gruppe, die den südlichen Bereich des Mare erkunden sollte. Wir hatten innerhalb einer Woche hundert Meilen durchquert und dabei die Gebirgsausläufer entlang der Küste des Beckens umrundet, das einst, vor einigen tausend Millionen Jahren, ein Mondmeer gewesen war. Als auf der Erde das Leben begann, lag es hier schon in den letzten Zügen. Das Wasser zog sich über die Flanken dieser gewaltigen Klippen zurück, zurück in das leere Herz des Mondes. Über dem Gebiet, das wir gerade durchquerten, war der gezeitenlose Ozean einst eine halbe Meile tief gewesen, jetzt war die einzige Spur von Feuchtigkeit der Raureif, den man gelegentlich in Höhlen finden konnte, in die das sengende Sonnenlicht niemals eindrang.

Wir hatten unsere Reise ganz früh in der lang andauernden Morgendämmerung des Mondes begonnen und hatten nach Erdzeit immer noch fast eine Woche vor uns, bis die Nacht einbrechen würde. Ein halbes Dutzend Mal am Tag verließen wir unser Fahrzeug und gingen in den Raumanzügen hinaus, um nach interessanten Mineralien zu suchen und Wegweiser für künftige Reisende aufzustellen. Es war Routine, ohne besondere Vorkommnisse. An der Monderkundung ist nichts Riskantes, sie ist nicht einmal besonders aufregend. Wir konnten in den Druckkabinen unserer Schlepper einen Monat lang behaglich leben, und wenn wir in Schwierigkeiten gerieten, brauchten wir nur über Funk Hilfe herbeizurufen und konnten dann in Ruhe abwarten, bis eines von den Raumschiffen kam, um uns zu retten.

Ich sagte eben, an der Monderkundung sei nichts Aufregendes, aber das stimmt natürlich nicht. Man bekam nie genug von diesen unglaublichen Bergen, die so viel schroffer sind als die sanften Hügel der Erde. Wenn wir ein Kap oder ein Vorgebirge umrundeten, wussten wir nie, was für neue Herrlichkeiten uns dahinter erwarteten. Der ganze südliche Bogen des Mare Crisium ist ein gewaltiges Delta, dort mündeten einst etwa zwanzig Flüsse in den Ozean, gespeist vielleicht von den wolkenbruchartigen Regenfällen, die während des kurzen, vulkanischen Zeitalters, als der Mond noch jung war, über die Berge gepeitscht sein müssen. Jedes dieser uralten Täler stellte eine Einladung, eine Herausforderung an uns dar, in das unerforschte Hochland dahinter vorzudringen. Aber wir hatten noch hundert Meilen zurückzulegen und konnten nur sehnsüchtig zu den Höhen hinaufblicken, die andere erklimmen mussten.

Wir hielten uns an Bord des Schleppers an die Erdzeit, Punkt 22.00 Uhr ging der letzte Funkspruch an den Stützpunkt, dann schalteten wir ab. Draußen glühten die Felsen immer noch unter der fast im Zenit stehenden Sonne, aber für uns war es Nacht, bis wir acht Stunden später wieder erwachten. Dann machte einer von uns das Frühstück, das Summen der Elektrorasierer hob an, und jemand schaltete das Radio ein, mit dem wir über Kurzwelle Sendungen von der Erde empfingen. Wenn der Geruch nach gebratenen Würstchen allmählich die Kabine erfüllte, fiel es manchmal tatsächlich schwer zu glauben, dass wir nicht zu Hause auf unserer Welt waren – abgesehen von dem Gefühl, weniger zu wiegen, und von der unnatürlichen Langsamkeit, mit der Gegenstände zu Boden fielen, war alles so normal und anheimelnd.

Ich war an jenem Tag an der Reihe, in der Ecke der Hauptkabine, die uns als Kombüse diente, das Frühstück zu bereiten. Auch nach all den Jahren ist mir dieser Augenblick noch sehr lebhaft in Erinnerung, denn das Radio hatte gerade eine meiner Lieblingsmelodien gespielt, die alte, walisische Weise »David of the White Rock«. Unser Fahrer war schon im Raumanzug draußen und inspizierte die Ketten unseres Raupenschleppers. Louis Garnett, mein Assistent, war vorne im Leitstand und holte ein paar Eintragungen im Logbuch nach.

Während ich wie irgendeine irdische Hausfrau neben der Bratpfanne stand und darauf wartete, dass die Würstchen bräunten, ließ ich meinen Blick müßig über die Kraterwälle schweifen, die sich im Süden über den ganzen Horizont und noch weiter nach Osten und Westen erstreckten, bis sie hinter der Krümmung des Mondes verschwanden. Sie schienen nur ein oder zwei Meilen vom Schlepper entfernt zu sein, aber ich wusste, dass der nächste Berg in Wirklichkeit zwanzig Meilen entfernt war. Auf dem Mond geht durch die Entfernung natürlich keine Einzelheit verloren – den fast nicht wahrnehmbaren Dunstschleier, der die Konturen aller weit entfernten Dinge auf der Erde weicher macht und manchmal sogar verzerrt, gibt es hier nicht.

Diese Berge waren zehntausend Fuß hoch, und sie ragten so steil aus der Ebene auf, als hätte sie irgendeine unterirdische Eruption vor unendlich langer Zeit durch die geschmolzene Kruste himmelwärts gestemmt. Selbst bei den nächstgelegenen war der Fuß durch die starke Krümmung der Ebene den Blicken entzogen, denn der Mond ist eine sehr kleine Welt, und von dort, wo ich stand, war der Horizont nur zwei Meilen entfernt.

Ich hob den Blick zu den Gipfeln, die kein Mensch je erstiegen hatte, zu den Gipfeln, die noch vor dem Entstehen irdischen Lebens Zeuge gewesen waren, wie die zurückweichenden Ozeane in ihr Grab sanken und damit alle Hoffnungen, alle Aussichten dieser Welt schon am Morgen ihres Lebens zunichtemachten. Das Sonnenlicht schien so grell auf diese Wälle, dass es den Augen weh tat, doch nur ein kleines Stück darüber leuchteten ruhig die Sterne an einem Himmel, der schwärzer war als in einer Winternacht auf der Erde.

Ich wollte mich gerade abwenden, als mir hoch oben auf dem Kamm eines großen Vorgebirges, das dreißig Meilen weiter westlich ins Meer hinausragte, ein metallisches Blinken ins Auge stach. Es war ein Lichtpunkt ohne jede Ausdehnung, als habe eine dieser scharfen Bergspitzen einen Stern vom Himmel gekratzt; ich konnte mir vorstellen, dass irgendeine glatte Felsoberfläche das Sonnenlicht einfing und es direkt in meine Augen heliographierte. So etwas war nicht ungewöhnlich. Wenn der Mond im zweiten Viertel steht, können Beobachter auf der Erde auf den großen Ketten im Oceanus Procellarum manchmal einen blauweißen Schimmer sehen, weil das Sonnenlicht von ihren Hängen zurückgeworfen wird und noch einmal von einer Welt zur anderen springt. Aber ich wollte gerne wissen, welche Gesteinsart da oben so hell funkelte, deshalb stieg ich in die Beobachtungskanzel und richtete unser Vier-Zoll-Teleskop nach Westen.

Ich sah gerade so viel, dass meine Neugier noch mehr gereizt wurde. Die Berggipfel waren klar und scharf zu erkennen und schienen nicht mehr als eine halbe Meile entfernt zu sein, aber was immer dort das Sonnenlicht einfing, war für das Auflösungsvermögen des Teleskops zu klein. Es schien jedoch eine schwer definierbare Symmetrie zu besitzen, und der Gipfel, auf dem es stand, war merkwürdig flach. Ich starrte dieses glitzernde Rätsel lange Zeit an und versuchte angestrengt, mit den Augen die Entfernung zu durchdringen, bis mir schließlich der Brandgeruch aus der Kombüse sagte, dass unsere Frühstückswürstchen umsonst eine Viertelmillion Meilen zurückgelegt hatten.

Den ganzen Vormittag über stritten wir uns auf dem Weg durch das Mare Crisium herum, während sich die Berge im Westen immer höher in den Himmel schoben. Sogar wenn wir in den Raumanzügen draußen waren und Probeschürfungen durchführten, ging die Diskussion über Funk weiter. Es sei absolut sicher, behaupteten meine Kollegen, dass es auf dem Mond niemals intelligentes Leben in irgendwelcher Form gegeben habe. Die einzigen Lebewesen, die hier jemals existiert hätten, seien ein paar primitive Pflanzen und ihre kaum weniger degenerierten Vorfahren gewesen. Ich weiß das ebenso gut wie jeder andere, aber manchmal darf man sich als Wissenschaftler nicht scheuen, sich zum Narren zu machen.

»Hört zu!«, sagte ich schließlich. »Ich gehe da hinauf, wenn auch nur um meines Seelenfriedens willen. Dieser Berg ist keine zwölftausend Fuß hoch – das entspricht bei Erdschwerkraft nur zweitausend Fuß –, und ich kann die Tour in höchstenfalls zwanzig Stunden schaffen. Ich wollte ohnehin schon immer einmal in diese Berge hinauf, und jetzt habe ich einen ausgezeichneten Vorwand dafür.«

»Falls du dir nicht den Hals brichst«, sagte Garnett, »wirst du zum Gespött der ganzen Expedition, wenn wir zum Stützpunkt zurückkommen. Von jetzt an heißt der Berg wahrscheinlich Wilsons fixe Idee.«

»Ich breche mir nicht den Hals«, sagte ich entschieden. »Wer hat denn schließlich als erster Mensch den Pico und den Helikon bestiegen?«

»Aber warst du damals nicht noch etwas jünger?«, fragte Louis sanft.

»Das«, sagte ich würdevoll, »spricht erst recht dafür, es zu versuchen.«

Wir gingen an diesem Abend früh zu Bett, nachdem wir den Schlepper bis auf eine halbe Meile an das Vorgebirge herangefahren hatten. Garnett wollte am nächsten Morgen mitkommen; er war ein guter Bergsteiger und hatte mich schon oft auf solchen Unternehmungen begleitet. Unser Fahrer blieb nur zu gern zurück, um auf die Maschine aufzupassen.

Auf den ersten Blick schienen die Klippen vollkommen unüberwindlich, aber wenn einem die Höhe nichts ausmacht, ist das Klettern auf einer Welt, wo das Gewicht nur ein Sechstel seines normalen Wertes beträgt, kein Problem. Die wirkliche Gefahr beim Bergsteigen auf dem Mond liegt in der Selbstüberschätzung. Einen Sturz aus sechshundert Fuß auf dem Mond überlebt man natürlich ebenso wenig wie einen aus hundert Fuß auf der Erde.

Zum ersten Mal machten wir auf einem breiten Felssims etwa viertausend Fuß über der Ebene halt. Das Klettern war nicht besonders schwierig gewesen, aber meine Arme und Beine waren von der ungewohnten Anstrengung ganz steif, und ich war froh, mich ausruhen zu können. Wir konnten den Schlepper immer noch als winziges Metallinsekt weit unten am Fuß der Klippe erkennen und gaben dem Fahrer unsere Position durch, ehe wir uns an den nächsten Anstieg machten.

Im Innern unserer Anzüge war es angenehm frisch, denn die Kühlaggregate kämpften gegen die starke Sonneneinstrahlung und leiteten die durch die Bewegung entstehende Körperwärme ab. Wir redeten nicht viel, außer, um uns gegenseitig Hinweise beim Klettern zu geben oder den besten Aufstiegsweg zu erörtern. Ich weiß nicht, was Garnett dachte, wahrscheinlich hielt er dieses Unternehmen für das verrückteste und sinnloseste, an dem er jemals teilgenommen hatte. Eigentlich konnte ich ihm kaum unrecht geben, aber der Spaß am Klettern, das Bewusstsein, dass hier noch nie ein Mensch gewesen war und die Freude über den immer weiteren Ausblick auf die Landschaft entschädigte mich hinreichend.

Ich glaube nicht, dass ich besonders aufgeregt war, als wir die Felswand vor uns sahen, die ich zum ersten Mal aus dreißig Meilen Entfernung durch das Teleskop betrachtet hatte. Sie würde etwa fünfzig Fuß über unseren Köpfen abflachen, und dort auf dem Plateau würde das Ding stehen, das mich über diese öden Geröllhalden hierhergelockt hatte. Es war fast mit Sicherheit nicht mehr als ein Felsen, der vor ewigen Zeiten von einem herabstürzenden Meteor zerschmettert worden war und dessen Bruchflächen sich in dieser durch nichts gestörten, unwandelbaren Stille makellos glatt erhalten hatten.

Die Felswand bot keinerlei Tritte, wir mussten also einen Greifhaken verwenden. Meinen müden Armen schienen neue Kräfte zuzufließen, als ich den dreizinkigen Metallanker über dem Kopf schwang und ihn zu den Sternen hinaufsegeln ließ. Beim ersten Mal löste er sich und fiel langsam wieder herab, als wir am Seil zogen. Beim dritten Versuch fassten die Zinken, und wir konnten sie auch mit vereinten Kräften nicht von der Stelle bewegen.

Garnett sah mich gespannt an. Ich merkte, dass er als Erster gehen wollte, aber ich lächelte ihm durch die Scheibe meines Helms zu und schüttelte den Kopf. Langsam, ohne Hast, stieg ich in die letzte Wand ein.

Sogar mit meinem Raumanzug wog ich hier nur vierzig Pfund, deshalb zog ich mich Hand über Hand hinauf ohne die Füße zu Hilfe zu nehmen. An der Kante hielt ich an und winkte meinem Gefährten zu, dann schob ich mich über den Rand, richtete mich auf und starrte geradeaus.

Sie müssen wissen, ich war bis zu diesem Augenblick ziemlich fest davon überzeugt gewesen, dass es hier nichts Ungewöhnliches oder Fremdartiges zu entdecken gab. Ziemlich fest – aber nicht ganz; ein nagender Zweifel hatte mich immer weitergetrieben. Nun, mit dem Zweifel war es jetzt vorbei, aber die nagende Ungewissheit hatte noch kaum angefangen.

Ich stand auf einem Plateau von vielleicht hundert Fuß im Durchmesser. Einst war es glatt gewesen – zu glatt, um auf natürliche Weise entstanden zu sein –, aber Meteoriteneinschläge hatten im Laufe von Äonen unzählige Kratzer und Risse hinterlassen. Das Plateau war eingeebnet worden, um einen Untergrund für ein glitzerndes, in etwa pyramidenförmiges, zweimal mannhohes Gebilde zu bekommen, das wie ein gigantischer Edelstein mit vielen Facetten in den Fels eingelassen war.

Wahrscheinlich empfand ich in diesen ersten paar Sekunden überhaupt nichts. Dann schwoll mir das Herz in der Brust gewaltig an, und eine seltsame, unaussprechliche Freude erfüllte mich. Denn ich liebte den Mond, und jetzt wusste ich, dass das Kriechmoos des Aristarchus und des Eratosthenes nicht alles an Leben war, was er in seiner Jugend hervorgebracht hatte. Der alte, in Verruf geratene Traum der ersten Mondforscher war Wirklichkeit geworden. Es hatte doch eine Mondzivilisation gegeben – und ich war der Erste, der sie entdeckte. Dass ich vielleicht hundert Millionen Jahre zu spät gekommen war, betrübte mich nicht: Es genügte, dass ich überhaupt gekommen war.

Mein Gehirn begann wieder normal zu funktionieren, und ich fing an zu analysieren und Fragen zu stellen. War dies ein Gebäude, ein Schrein – oder etwas, wofür es in meiner Sprache keine Bezeichnung gab? Wenn es ein Gebäude war, warum hatte man es dann an einer so ausnehmend unzugänglichen Stelle errichtet? Ich fragte mich, ob es ein Tempel sein könnte, und stellte mir vor, wie die Angehörigen irgendeiner fremden Priesterkaste ihre Götter anriefen, sie zu verschonen, als das Leben auf dem Mond zusammen mit den sterbenden Ozeanen dahinsiechte, und wie ihr Flehen vergebens war.

Ich ging ein Dutzend Schritte weiter, um das Ding genauer zu untersuchen, aber irgend etwas warnte mich, ihm zu nahe zu kommen. Da ich etwas von Archäologie verstand, versuchte ich, das kulturelle Niveau der Zivilisation abzuschätzen, die diesen Berg eingeebnet und die glitzernden Spiegelflächen aufgestellt haben musste, die mich immer noch blendeten.

Die Ägypter wären dazu fähig gewesen, dachte ich, wenn ihre Handwerker über die fremden Baustoffe verfügt hätten, die diese weit älteren Architekten verwendet hatten. Weil das Ding so klein war, kam es mir gar nicht in den Sinn, dass ich vielleicht vor dem Werk einer weit fortgeschritteneren Rasse als der meinen stand. Die Vorstellung, dass es auf dem Mond überhaupt Intelligenz gegeben hatte, war immer noch fast zu ungeheuerlich, um sie erfassen zu können, und mein Stolz hinderte mich, den Sprung zu dieser letzten, erniedrigenden Erkenntnis zu vollziehen.

Und dann bemerkte ich etwas, bei dem sich mir die Nackenhaare sträubten – eine so harmlose Kleinigkeit, dass sie vielen wohl gar nicht aufgefallen wäre. Ich sagte schon, dass das Plateau von Meteoriteneinschlägen gezeichnet war; außerdem war es auch zolltief mit kosmischem Staub bedeckt, der ständig herabrieselt und sich auf jede Welt legt, wenn es keinen Wind gibt, der ihn wieder aufwirbelt. Doch der Staub und die Meteoritenspuren endeten ganz unvermittelt an einem großen Kreis, der die kleine Pyramide umgab, so dass es aussah, als würde sie durch eine unsichtbare Mauer vor den Verwüstungen der Zeit und dem langsamen, aber unablässigen Beschuss aus dem Weltraum geschützt.

Jemand schrie in meinem Kopfhörer, und mir wurde bewusst, dass Garnett mich schon seit einiger Zeit zu erreichen versuchte. Mit unsicheren Schritten ging ich an den Klippenrand und winkte ihm heraufzukommen, denn meiner Stimme konnte ich nicht trauen. Dann kehrte ich zu diesem Kreis im Staub zurück. Ich hob einen abgeschlagenen Steinsplitter auf und warf ihn behutsam auf das geheimnisvolle, glänzende Gebilde. Wenn der Stein an der unsichtbaren Schranke verschwunden wäre, hätte es mich nicht überrascht, aber er schien nur auf eine glatte, halbkugelförmige Fläche zu treffen und sanft zu Boden zu gleiten.

Nun wusste ich, dass das, was da vor meinen Augen stand, mit nichts zu vergleichen war, was meine Rasse in grauer Vorzeit hervorgebracht hatte. Dies war kein Gebäude, sondern eine Maschine, und sie schützte sich mit Kräften, die der Ewigkeit getrotzt hatten. Was immer das für Kräfte sein mochten, sie wirkten noch immer, und vielleicht war ich ihnen schon zu nahe gekommen. Ich dachte an all die vielen Strahlungsarten, die der Mensch im vergangenen Jahrhundert eingefangen und gezähmt hatte. Vielleicht war mein Schicksal, ohne dass ich es wusste, schon ebenso unwiderruflich besiegelt, als wenn ich in den tödlichen, lautlosen Dunstkreis eines nicht abgeschirmten Atommeilers getreten wäre.

Ich erinnerte mich, dass ich mich daraufhin zu Garnett umdrehte, der inzwischen heraufgekommen war und reglos neben mir stand. Er schien mich gar nicht zu bemerken, also störte ich ihn nicht, sondern trat an den Klippenrand und bemühte mich, meine Gedanken zu ordnen. Da unter mir lag das Mare Crisium – das Meer der Krisen, in der Tat –, fremd und unheimlich für die meisten Menschen, für mich beruhigend vertraut. Ich sah hinauf zur Erdsichel inmitten ihrer Sternenwiege und fragte mich, was ihre Wolken wohl verhüllt hatten, als die unbekannten Baumeister hier ihr Werk vollendeten. War es der dampfende Dschungel des Karbons, das öde Meeresufer, über das die ersten Amphibien kriechen mussten, um das Land zu erobern – oder, noch früher, die lange Einsamkeit vor der Entstehung des Lebens.

Fragen Sie mich nicht, warum ich die Wahrheit nicht früher erriet – die Wahrheit, die jetzt so offenkundig scheint. In der ersten Aufregung über meine Entdeckung war ich ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass dieses Kristallgebilde von einer Rasse erstellt worden sein musste, die in die ferne Vergangenheit des Mondes gehörte, aber plötzlich stürmte mit überwältigender Macht die Erkenntnis auf mich ein, dass es auf dem Mond ebenso ein Fremder war wie ich selbst.

Im Lauf von zwanzig Jahren hatten wir bis auf ein paar degenerierte Pflanzen keine Spur von Leben gefunden. Keine Mondzivilisation, ganz gleich, von welchem Schicksal sie ereilt worden war, konnte nur ein einziges Unterpfand ihrer Existenz hinterlassen haben.

Ich betrachtete wieder die glänzende Pyramide, und nun schien sie mir noch weiter entfernt von allem, was mit dem Mond zu tun hatte. Plötzlich schüttelte mich ein alberner, hysterischer Lachanfall, ausgelöst von meiner Erregung und Überanstrengung: ich hatte mir nämlich vorgestellt, die kleine Pyramide spräche zu mir und sagte gerade: »Tut mir leid, ich bin auch nicht von hier.«

Wir haben zwanzig Jahre gebraucht, um diesen unsichtbaren Schirm zu knacken und an die Maschine im Innern der Kristallwände heranzukommen. Was wir nicht verstehen konnten, brachen wir schließlich mit der rohen Gewalt der Atomkraft auf, und jetzt habe ich die Scherben des hübschen Glitzerdings gesehen, das ich damals da oben auf dem Berg fand.

Sie haben keine Bedeutung. Die Mechanismen der Pyramide – falls es überhaupt Mechanismen sind – gehören einer Technik an, die weit über unseren Horizont geht, vielleicht einer Technik der paraphysikalischen Kräfte.

Das Rätsel quält uns nun um so mehr, weil wir inzwischen die anderen Planeten erreicht haben und wissen, dass in unserem Universum nur die Erde jemals intelligentes Leben beherbergt hat. Es ist auch ausgeschlossen, dass eine verschollene Zivilisation unserer Welt diese Maschine gebaut hat, denn aufgrund der Dicke des Meteorstaubs auf dem Plateau konnten wir ihr Alter bestimmen. Sie wurde auf diesen Berg gestellt, bevor das Leben die Meere der Erde verlassen hatte.

Als unsere Welt halb so alt war wie heute, raste etwas, das von den Sternen kam, durch unser Sonnensystem, hinterließ dieses eine Zeichen und setzte seinen Weg fort. Bis wir die Maschine zerstörten, erfüllte sie immer noch die Aufgabe, für die sie gebaut worden war, und ich habe eine Vermutung, worin diese Aufgabe bestand.

Fast hunderttausend Millionen Sterne drehen sich im Kreis der Milchstraße, und vor langer Zeit müssen andere Rassen auf den Welten anderer Sonnen den Gipfel erklommen und überschritten haben, auf dem wir jetzt gerade stehen. Man stelle sich solche Zivilisationen vor, damals in ferner Vergangenheit, vor dem verblassenden Widerschein der Schöpfung, Herren eines so jungen Universums, dass das Leben erst bis zu einer Handvoll Welten vorgedrungen war. Sie müssen in einer Einsamkeit gelebt haben, die wir uns nicht vorstellen können, einsam wie Götter, die über die Unendlichkeit blicken und niemanden finden, mit dem sie ihre Gedanken teilen können.

Sie haben wohl die Sternenhaufen abgesucht wie wir die Planeten. Überall gab es Welten, aber sie waren entweder leer oder mit kriechenden, geistlosen Wesen bevölkert. So auch unsere Erde, wo noch der Rauch der großen Vulkane den Himmel verdunkelte, als jenes erste Schiff der Völker der Morgendämmerung aus dem Abgrund jenseits des Pluto hereingeglitten kam. Es passierte die im Eis erstarrten äußeren Welten und wusste, dass das Leben in ihrem Schicksal keine Rolle spielen würde. Dann schwebte es zwischen den inneren Planeten, die sich am Feuer der Sonne wärmten und darauf warteten, dass ihre Geschichte begönne.

Diese Wanderer müssen die Erde erblickt haben, die sicher in der schmalen Zone zwischen Feuer und Eis kreiste, und sie müssen erraten haben, dass sie das Lieblingskind der Sonne war. Hier würde es einst, in ferner Zukunft, intelligentes Leben geben; aber vor ihnen lagen noch unzählige Sterne, und vielleicht würden sie nie wieder hierherkommen.

Also ließen sie einen Wächter zurück, einen von Millionen, die sie überall im Universum aussetzten, damit sie alle Welten beobachteten, auf denen man Leben erhoffen konnte. Und dieser Leuchtturm meldete durch die Jahrhunderte geduldig immer wieder, dass niemand ihn bisher entdeckt hatte.

Vielleicht verstehen Sie jetzt, warum diese Kristallpyramide auf dem Mond aufgestellt wurde und nicht auf der Erde. Ihren Erbauern ging es nicht um Rassen, die noch dabei waren, sich aus dem Stadium primitiver Wilder herauszukämpfen. Unsere Zivilisation interessierte sie erst dann, wenn wir bewiesen, dass wir überlebensfähig waren – indem wir den Weltraum durchquerten und so die Erde, unsere Wiege, verließen. Dieser Herausforderung müssen sich alle intelligenten Rassen früher oder später stellen. Es ist eine zweifache Herausforderung, denn sie hängt wiederum davon ab, dass man sich die Atomenergie nutzbar macht und sich damit letztlich zwischen Leben und Tod entscheidet.

Nachdem wir diese Krise überwunden hatten, war es nur eine Frage der Zeit, bis wir die Pyramide fanden und sie aufbrachen. Nun sind ihre Signale verstummt, und diejenigen, die sie überwachen, werden ihre Aufmerksamkeit auf die Erde richten. Vielleicht wollen sie unserer noch in den Kinderschuhen steckenden Zivilisation helfen. Aber sie müssen sehr, sehr alt sein, und oft sind die Alten von wahnsinniger Eifersucht auf die Jungen erfüllt.

Ich kann seither nicht mehr zur Milchstraße hinaufblicken, ohne mich zu fragen, von welcher dieser dichten Sternenwolken die Abgesandten wohl kommen werden. Wenn Sie mir einen so abgedroschenen Vergleich gestatten, wir haben den Feueralarm ausgelöst, und jetzt brauchen wir nur noch zu warten.

Ich glaube nicht, dass wir lange warten müssen.

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Arthur C. Clarke: Der WächterArthur C. Clarke: Der Wächter • Erzählung • Aus dem Englischen von Irene Holicki • Wilhelm Heyne Verlag, München 2016 • E-Book • ca. 10 Seiten • € 0,49 • im Shop

Arthur C. Clarke war einer der bedeutendsten Autoren der internationalen Science Fiction. Geboren 1917 in Minehead, Somerset, studierte er nach dem Zweiten Weltkrieg Physik und Mathematik am King’s College in London. Zugleich legte er mit seinen Kurzgeschichten und Romanen den Grundstein für eine beispiellose Schriftsteller-Laufbahn. Neben zahllosen Sachbüchern zählen zu seinen größten Werken die Romane „Die letzte Generation“ und „2001 – Odyssee im Weltraum“, nach dem Stanley Kubrick seinen legendären Film drehte. Clarke starb im März 2008 in seiner Wahlheimat Sri Lanka.

 

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