1. November 2016 3 Likes

Das Grauen im See

Stephen Kings „Das Floß“ hat eine böse Nebenwirkung

Lesezeit: 3 min.

Stephen King ist nicht unbedingt für seine Kurzgeschichten berühmt – wie andere Genre-Giganten, etwa Ray Bradbury oder Theodore Sturgeon –, obwohl er bestimmt 200 verfasst hat. Aber in jeder seiner Sammlungen finden sich ein paar Storys, die verdammt Eindruck machen, und in „Skeleton Crew“ (dt. „Blut“), seiner 1985 erschienenen zweiten Collection, sind das „Der Nebel“ (obwohl diese Geschichte nicht wirklich zählt, geht sie doch locker als Novelle oder Kurzroman durch), „Der Jaunt“ (im Shop) und natürlich „Das Floß“ (im Shop).

Laut Kings Aussage entstand die Ur-Version von „The Raft“ bereits Ende der 1960er und sollte in einem Herrenmagazin namens „Adam“ unter dem Titel „The Float“ erscheinen. Das ist ihm in lebhafter Erinnerung geblieben, weil der Honorarscheck ihn vor einer 30-tägigen Gefängnisstrafe bewahrte. Er hatte ein paar „Verkehrsleitkegel“ von der Straße entfernt, nachdem eins der Hütchen sein Auto beschädigt hatte, und die dafür fällige Strafe von $ 250,– überstieg seine damaligen Verhältnisse. Jedoch ist nie ein Exemplar dieses Magazins aufgetaucht, das die Geschichte enthält – und vielleicht ist es einfach nur eine nette Anekdote.

Die erste verifizierte Veröffentlichung fand dann im November 1982 in einem anderen Herrenmagazin namens „Gallery“ statt. Dort war sie – quasi statt eines Falt-Mädchens – als kleines Extra zum Herausnehmen beigeheftet. Das Umfeld war nicht ganz blöd, denn „The Raft“ ist eine Geschichte mit ziemlich deutlichen erotischen „Untertönen“. Man könnte ohne weiteres auch von einer Proto-Richard-Laymon-Geschichte sprechen, denn all das, was die Werke dieses anderen Großmeisters der modernen Fantastik auszeichnet, ist in „Das Floß“ exemplarisch vertreten: die Verdichtung von Zeit und Raum, die Unmittelbarkeit der Ereignisse, die Geilheit der Protagonisten und der weitgehende Verzicht auf Kleidung.

„Das Floß“ ist denkbar einfach gebaut: Vier junge Erwachsene, Randy, Deke, Rachel und LaVerne, fahren im kühlen Herbst an den Cascade Lake, um noch einmal unter freiem Himmel zu baden. Auf diese Weise will man dem Sommer lebewohl sagen, aber es ist völlig klar, dass es auch darum geht, sich gegenseitig zu beeindrucken und Punkte beim anderen Geschlecht zu sammeln. In der Mitte des Sees befindet sich ein verankertes Floß, auf dem die Schwimmer sich ausruhen können. Kaum ist man also da, schon fliegen die Klamotten im hohen Bogen davon und in Unterwäsche (die bei den Mädchen von vornherein praktischerweise durchsichtig ist) schwimmt man zum Floß, wo man frierend mit Gänsehaut und harten Brustwarzen (wichtig!) aus dem kalten Nass steigt.

Erzählt wird aus der Sicht von Randy, der auf Deke eifersüchtig ist, weil beide Mädchen, Rachel und LaVerne, ein Auge auf den „Jock“ geworfen haben, und ihn, den Hänfling, kaum beachten. Aber etwas Anderes beachtet die vier Kids sehr wohl. Es ist ein Fleck im Wasser, der in der Nähe des Floßes treibt und den Randy sofort für eine Bedrohung hält. Und – Junge! – hat er recht! Was dann passiert, spottet jeder Beschreibung. Denn dieser Fleck hat beträchtlichen Hunger auf nacktes Teenie-Fleisch und weiß genau, wie er seine Gier stillen kann. Was dieser Fleck ist, bleibt völlig im Ungewissen. Ein Monster aus der Hölle, aus Lovecrafts fremden Kosmen, aus dem schwarzen All – völlig egal. Er ist da und so unfassbar bedrohlich, dass das Bett, der Sessel, oder wo immer man auch liest, zum Floß wird, das man niemals lebend verlassen kann. Und King hält sich nicht zurück – selten ist der Autor so brutal in seinen Schilderungen gewesen wie in dieser Kurzgeschichte, deren Splatter-„Effekte“ die Grenzen der Fantasie sprengen. Also Vorsicht: Sanfter Grusel ist das nicht!

„Das Floß“ wurde bereits wenige Monate nach der Erstveröffentlichung im „Twilight Zone Magazine“ (Mai/Juni 1983) nachgedruckt, das im selben Verlag wie „Gallery“ erschien. Sie wurde zum Mittelteil des wenig überzeugenden Anthologiefilms „Creepshow 2“ (1987). Und sie ist ein früher Höhepunkt im Werk des Meisters aus Maine. Aber sie hat eine böse Nebenwirkung – sie verdirbt einem das Baden in einem See für alle Zeiten. Und wenn im See auch noch ein Floß ist, nähert man sich dem Wasser nicht mal auf zehn Meter. Das sollte man vor dem Lesen bedenken!

Stephen King: Das Floß • Kurzgeschichte • Aus dem Amerikanischen von Alexandra von Reinhardt • Heyne Verlag • E-Book: 0,99 € (im Shop)

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