4. Januar 2017 3 Likes

Mein großer Freund Trico und ich

Fumito Uedas erratisches Meisterwerk „The Last Guardian“

Lesezeit: 9 min.

Emotion now!

Warum spielen wir Games? Um uns von Grafikspektakeln das Hirn zeitweise ausbomben zu lassen oder uns in mehr bis weniger komplexen Weltentwürfen zu verlieren? Oder doch um uns mit anderen Zockern friedlich-feindlich im Wettstreit unseren Spieltrieb zu stimulieren? Angenommen, wir würden Games primär als ein je nach Genre different ausgelegtes Angebot begreifen, Emotionen „gefahrlos“ genießen zu dürfen, stellt sich wahrscheinlich für manche Spieler (und überhaupt alle Mediennutzer) auch in diesem Jahr die Frage, welche Emotionen sie vermehrt gesucht und tatsächlich virtuell erlebt haben. 2016 stach dabei ein Titel aus der Masse heraus, den viele Szenekenner gar nicht mehr auf dem Schirm hatten und der sich als letzte größere Veröffentlichung des Jahres sogar äußerst vorteilhaft an der marketingtechnisch lukrativen Schwelle zwischen AAA- und Indie-Game einnisten konnte. Ein Abenteuer, das im wahrsten Sinne zu Herzen ging, wenn man bereit war, sich mit ein paar verschmerzbaren Gameplayabstrichen darauf einzulassen. Die Zutaten fielen einfach, geradezu plakativ simpel und doch im Zusammenwirken irgendwie magisch aus.

Ein Junge, eine mystische Welt und ein gigantisches Tamagotchi – mehr braucht dieses gar nicht mal so kleine Meisterwerk, um uns Emotionen zu schenken, die weit über jeden adrenalingetränkten Herausforderungsorgasmus der meisten kontemporären Blockbuster hinausgehen. Die Rede ist natürlich von The Last Guardian, dem jüngsten Erguss aus der „digitalen Feder“ von Fumito Ueda, das es wie kaum eine Veröffentlichung der letzten Jahre versteht, ganz verschiedene Spieler genauso wie selbsterklärte Nicht-Spieler anzusprechen. Und sei es nur via YouTube-Clip oder Let´s Play, um sich in den lieblichen Kulleraugen des eigentlichen Protagonisten zu verlieren, der mit seinem Federkleidfell nicht nur jeden Biologen vor Rätsel stellt. Nicht umsonst widmet sich bereits der Vorspann des Games dieser Eigentümlichkeit digitaler Evolution.

Wer also über das Game-Jahr 2016 spricht, kommt schon aufgrund seiner Breitenwirkung nicht an diesem letztlich fast einzigartigen Titel vorbei. Uedas „Spätwerk“ erschien Anfang Dezember exklusiv für die PS4 und dürfte auch langfristig einer der prägendsten bis langlebigsten Titel dieser Konsole sein. Über unfassbare sieben Jahre ließ Ueda alle Gamer dieser Welt auf seine Schöpfung warten und spätestens nachdem der ursprünglich zunächst für PS3 ankündigte Titel aufgrund seines Alters einen Generationenwechsel zu überstehen hatte, gaben nur noch wenige Experten wie Fans der Veröffentlichung eine Chance. Schließlich gibt es im leider oft polemisch geführten Kampf der Konsolentechnik, der dazu tendiert, viele Titel allein auf ihre Performance zu reduzieren, kaum etwas Schlimmeres als abgestandene Grafiken jenseits aktueller HD-Standards.

Die digitale Handschrift eines Game-Auteurs

Über Uedas Vision, die so unaufgeregt klassisch mit ihren Anspielungen auf die Kulturgeschichte umgeht wie nur wenige Blockbuster mit ihren überbordenden Popkultur-Referenzen, ist viel geschrieben und selbst in eigentlich nicht für ihre Game-Affinität bekannten Medien berichtet worden. Mal als Kunstwerk gepriesen oder als Beweis für die Möglichkeit des Computerspiels angeführt, mehr sein zu können, als nur leichtfertiger Eskapismus ohne Sinn und Nachhall, ist The Last Guardian vor allem eines: ein emotionales Erlebnis. Das liegt vor allem an einer Qualität, die sowohl Uedas bisherige Werke als auch speziell viele frühere Games des letzten Jahrhunderts auszeichnete, nämlich die Tendenz zur Abstraktion, obwohl dies natürlich oft genug der technischen Beschränkung des (pixeligen) Mediums geschuldet war.

Wer erst mit The Last Guardian das Computerspiel als Kunstform auf dem Schirm haben möchte, hat schlicht keine Ahnung und sollte vielleicht endlich seine dumpfen Vorurteile überprüfen. Denn gerade Ueda gehört zu den Designern, die schon früh zumindest glaubhaft den Anschein erwecken konnten, technische Notwendigkeiten in künstlerische Tugenden umwandeln zu können: Die Story wird in seinen Kreationen ebenso wie die sie implizit enthaltenden Weltentwürfe mehr angedeutet als konkret dramaturgisch aufgebaut und lässt uns damit in Summe viel Spielraum, eigene Interpretationen anzustellen und das Erspielte mit unserem Erfahrungsschatz auszugestalten. Nicht erst in der heutigen Gegenwart ist es längst die Regel, dass Games bei aller Schlichtheit in mancher Plotstruktur dennoch zumindest eine ebensolche (pseudo-)filmisch verfolgen. Mag dies auch im umgekehrten Fall häufig nicht so recht gelingen (wie etwa auch im jüngsten Assassin’s Creed-Kinofilm), so ist es dennoch auffällig, wie sehr manche „plotdriven“ Games dazu tendieren, die Faszination ihrer Spielwelten dennoch möglichst auch ohne Story atmen zu lassen. Verknappt gesagt: Wer keine Lust auf Story hat, darf sich anderweitig austoben; doch so ganz ohne narrativen Faden geht es natürlich nicht, denn selbst die wiederholungssüchtigsten Spielkonzepte vermitteln sich leichter mit einem Hauch von (pseudo-)motivierendem Erzählzusammenhang.

Ueda hingegen, wenn man an dieser Vorstellung festhalten will, hielt es schon mit seinem Erstling Ico zu seligen PS2-Zeiten anders, da seine Adventures neben ihren archaisch mystischen Designs vor allem jeweils im Kern von einer Spielmechanik leben, die letztlich mehr vermittelt als so viele Plots aus der Blockbuster-Abteilung. So durften wir in Ico als kleiner Junge eine mysteriös aparte Schönheit im wahrsten Sinne an der Hand aus einem Labyrinth herausführen, um uns am Ende doch den prophetischen Härten des Schicksals letztlich beugen zu müssen. Im Nachfolger Shadow of the Colossus war es dann der Ritt auf einem Pferd durch eine erneut karge Landschaft, in der wir mithilfe eines Schwertes sowie unserer Kletterkünste gigantische Riesen zu Fall bringen und dazu deren ganz individuelle Schwächen ermitteln mussten, um erneut ein junges Mädchen retten zu können.

In beiden Titeln wurde das „Festhalten“, ob nun an Händen, Pferden, Schwertern oder Riesen, geradezu musterhaft zum Symbol für Hoffnung, Vertrauen, Scheitern und sogar Liebe. Verbal hat man diese tiefen Botschaften in Uedas Arbeiten allerdings noch nie verstehen können, da sich bei ihm sprachlich nur selten überhaupt irgendetwas vermittelt, und selbst die Figuren innerhalb seiner Geschichten zeichnen sich gerade durch kommunikative Dissonanzen aus. Es sind primär Gesten, die eine universale Sprache sprechen und Grenzen aufheben. Genau das passt zu Uedas Ansatz, uns mit mythischen Motiven und hochgradig archetypischen Versatzstücken an seine Spielwelten zu fesseln, die wir dann zu einer Geschichte zusammenfügen können. Kein Wunder also, wie häufig Uedas Werk daher als Trilogie gesehen wird, obwohl sich kaum eine stringente Gesamtgeschichte aus den drei Adventures ableiten lässt. Es überwiegen die gemeinsamen Grundmotive und das Genre.

The Last Guardian amalgamiert die in den Vorgängern etablierten Motive und Muster, führt sie allerdings auf ein ganz eigenes Niveau zusammen. Wieder spielen wir einen Jungen, der sich seiner persönlichen Heldenreise in einer unbekannten Welt stellen muss, ohne deren Zeichen überhaupt begreifen zu können. Wie in Ico und Shadow of the Colossus sind wir weder ein kraftstrotzender Held noch wissen wir genau, worauf wir uns eigentlich einlassen. Ein besonderer Kniff Uedas besteht hier darin, uns das Geschehen aus Sicht eines erwachsenen Erzählers miterleben zu lassen, der sich von Anfang an als älteres Ich des Jungen zu erkennen gibt. Die sehr spärlich eingesetzten Anmerkungen (abseits seiner offensichtlichen „Tipps“ für uns Spieler) geben nur vereinzelt Wertungen ab; unterstreichen allerdings mit Nachdruck, dass es sich bei The Last Guardian erneut um einen Schicksalsweg handelt, der schlussendlich bereits geschrieben „steht“, auch wenn wir mit unserem Avatar noch den Zeilen der Geschichte folgen. Freiheit oder zumindest das Gefühl, gegen das eigene Schicksal frei bestimmen zu können, zählt jeweils nicht zu den Grundfesten der Welten Uedas.

Nach einem kurzen Intro erwachen wir also in einer Höhle und haben keine Ahnung, wie es uns dorthin verschlagen konnte oder worum es überhaupt geht. Ueda wird uns dies auch erst Stunden später etwas näher in einer der wenigen längeren Cutscenes aufschlüsseln, ohne dass damit auch nur im Ansatz alle virulenten Fragen geklärt wären, die man sich innerhalb der gut 15 Stunden Gameplay so stellen könnte, während man eher simple Verschiebe- und Schalterrätsel löst, vor Feinden wegläuft und ohne überdeutliche Hinweise nach dem Weg durch ein – mal wieder – gigantisches Gebiet voller Schluchten, alter Bauwerke sowie mystischer Zeichen sucht. Würde man alle drei Games direkt hintereinander spielen, würde man sich vielleicht sogar dabei ertappen, das Artdesign ein bisschen langweilig zu finden. Selbst das mit aller Verve evozierte Gefühl der Isolation und des Ausgeliefertseins innerhalb der durch und durch „erhabenen“ Schluchten mit all ihren überzeitlichen Gigantismen, die allerdings alle Relikte jeweils vergangener Zeiten zu sein scheinen, sind nicht vor einer schleichenden Abnutzung ihrer Wirkung sicher.

Man könnte daher allen drei Action-Adventures vorwerfen, mit einer schwammigen Steuerung, verwaschenen Grafiken und einer gewissen Redundanz über die Spielzeit hinweg oft genug so manche Nerven zu strapazieren und spätestens mit The Last Guardian einfach nicht in der Moderne geschmeidigerer Usability angekommen zu sein. Wer hat sich nicht schon mal darüber geärgert, den Weg mangels übersichtlicher Karte nicht zu finden oder kameratechnisch eher schlecht eingefangene Sprungpassagen erst nach einigen Versuchen geschafft zu haben. All das gilt für The Last Guardian; doch es gibt ja schließlich Trico, der uns wie unsere weibliche Begleiterin in Ico oder unser treuer Gaul in Shadow of the Colossus nie von der Seite weicht. Gleich nach unserem Erwachen in der Höhle liegt Trico angekettet neben uns und sein Vertrauen will nach anfänglichen Beißattacken erst mit den zufällig herumliegenden Futterfässern erkauft werden. Kurz darauf dürfen wir schon seinen Rücken erklimmen, mithilfe eines geheimnisvollen Spiegels tatsächlich Blitze aus Tricos Schwanz gegen einige uns angreifende Rüstungen oder verbarrikadierte Wege verschießen und unserem neuen Freund wie einem Hündchen Kommandos a la „Spring“ oder „Angriff“ geben, obwohl selbst Hundetrainer Martin Rütter wohl seine liebe Mühe hätte, aus Trico einen wirklich folgsamen Charakter zu formen.

Liebe die Simulation (wie dich selbst?)

Diese leichte Unberechenbarkeit ist auch eines der großen Geheimnisse der schon mit wenigen Kniffen schlicht rührend inszenierten Verbindung zwischen Junge und Tier. Denn Ueda schafft es, Trico mit seiner perfekt zugeschnittenen Niedlichkeit in Kombination mit seiner leichten Eigensinnigkeit einen Hauch von Eigenständigkeit mitzugeben, die uns ermöglicht, in den besten Momenten von The Last Guardian in Trico nicht einen NPC mit relativ gut ausbalancierter KI zu sehen, sondern eben das, was der Name des Games für beide Hauptfiguren letztlich motivisch ankündigt: unser Beschützer und Freund zu sein, selbst wenn wir uns mit einigen waghalsigen Manövern ganz in seine rettende Obhut begeben. Im Gegenzug ist es uns eben nicht egal, wenn Trico nach den wenigen ernsthaften Gefechten geschwächt darniederliegt und wir ihn versorgen müssen, damit er uns mit seinen großen Kulleraugen dankbar anschauen wird und wir ihn für seine Tapferkeit mit virtuellen Streicheleinheiten belohnen, selbst wenn wir uns in Zeiten virtueller Realität bewusst sein, dass es sich bei Trico trotz aller Detailversessenheit nicht um ein echtes Lebewesen handelt.

Immer wieder Trico. Vielleicht die erste NPC-Liebe innerhalb eines Computerspiels, die wirklich schon aufgrund ihrer Spielmechanik zwischen Retten und selbst gerettet werden funktioniert? Man mag sich in den dramatischen (Verlust-)Momenten innerhalb des Gameplays mit all ihren Abstürzen und Flugeinlagen daher schon des Öfteren fragen: Wer hält eigentlich an wem stärker fest? Immer mit der zumindest latenten Angst im Hinterkopf, es könnte spätestens am Ende der Reise vielleicht ein bitteres Erwachen lauern. Wer die Vorgänger gespielt hat, darf nach einem im letzten Viertel des verdichteten Geschehens ein wohl durchdachtes bis ausgewogenes Ende erwarten, das Uedas tendenziell offenem Deutungsansatz seiner Geschichten bei aller Tragödie treu bleibt. Gerade weil man auch über das Finale von The Last Guardian kontrovers diskutieren darf, ein absolut gelungener Schlusspunkt. Ob damit auch die Trilogie ihr tatsächliches Ende findet und ihr Meister nun ein ganz neues (Genre-)Kapitel aufschlägt? Die Fortsetzung dieses Gaming-Oeuvres birgt auf jeden Fall weiteres Spannungspotenzial.

Fazit

Wer es kitschig findet, einer so berechnend liebevoll designten KI-Figur wie Trico sein Herz zu schenken und damit einem Computerspiel auch ohne bombastischer Grafik, nervigen Kinderkrankheiten (Kamera etc.) oder vollständig überzeugendem Gameplay zuzugestehen, im besten Sinne berührend zu sein, der sollte die Finger von The Last Guardian lassen. Doch auch wenn es paradox klingt, geht es bei diesem Action-Adventure nicht allein darum, die üblichen Kriterien der Game-Kritik anzuwenden und abzufragen. The Last Guardian lädt Gamer ein, sich wieder einmal bewusst vor Augen zu führen, dass ein einfaches, aber eben in sich stimmig eingesetztes Grundgerüst ausreichen kann, um uns emotional zu begeistern und dabei für Games eher unübliche Affektpotenziale abzurufen. Zyniker werden natürlich nicht ganz zu unrecht einwerfen, wie anders The Last Guardian wohl bei fast allen Euphorikern ankommen würde, wenn Trico nicht mit allen Insignien eines (vermenschlichten) Haustiers ausgestattet wäre. Wer sich trotzdem mit diesem Emo-Adventure anfreundet, bekommt ein atmosphärisches, manchmal vielleicht zu langatmiges, aber immer wieder hochgradig anrührendes Erlebnis, das sich am Ende des Tages so wohltuend vom auf Sicherheit bedachten Einheitsbrei der Game-Industrie abhebt. Schließlich lässt sich mit Trico sogar eine These in den Raum werfen: Die Verniedlichung unseres digitalen (Medien-)Alltags schreitet selbst in vordergründig so archetypisch erzählten Games wie The Last Guardian unaufhörlich voran. Es lebe der Uncanny Valley.

The Last Guardian • gen Design/Sony Interactive Entertainment • Action-Adventure

Abb. © gen Design/Sony Interactive Entertainment

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